Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Les Nuits Blanches: Tendre von Isabel Pagliai

Von jenen, die so frei sind, dass sie die Kamera (und mit ihr die Welt) vergessen können, handelt Tendre von Isabel Pagliai. Angesiedelt im Halblicht beginnender Nächte, hören wir Dialoge, gesprochen in der Unsicherheit beginnender Tage. Wer vergisst die Welt und mit ihr die Zeit, die sie erdrückt?

Vereinfacht könnte man von Kindern und Jugendlichen sprechen, aber wer sich vergegenwärtigt wie diese normal in Filmen agieren, wird zugeben müssen, dass sie nur selten die Zeit vergessen, vielmehr werden sie oft wie von den Handgelenken baumelnde Uhren als Indikatoren der vergangenen Zeit per se eingesetzt von Filmemachern, die ihre eigene Zeit schon lange verloren haben. Ich denke willkürlich an die junge, tanzende Jennifer Connelly in Sergio Leones Once Upon a Time in America; ihre Magie hat viel mit jener klebrigen Masse bezaubernder Nostalgie und Überhöhung zu tun, die das Kino dem Kindsein allzu gerne beimischt während es mutig oder verlogen von dessen Verschwinden erzählt.

Nein, nichts dergleichen bei Pagliai. Diejenigen, die bei ihr die Kamera und mit ihr die Welt vergessen, sind zunächst einmal jene, die am Ufer sitzen. Da sind Mia und Hugo. Hugo erzählt Mia von seiner Liebe zu Chaïnes. Alle wirken sie so, als würden sie oft dort sitzen, etwas verstochen, die Sonnencreme schon längst in die Haut eingesickert, der Schmutz des Ufersands unter den Fingernägeln. Sie sitzen und sprechen miteinander. Wir sehen sie kaum gemeinsam in einer Einstellung, höchstens erahnen wir ihre Gleichzeitigkeit irgendwo an einem See im imaginären Land Tendre.

Dieses Land hat die französische Literatur des 17. Jahrhunderts heimgesucht. Dort führen die Schritte hin und weg von Zärtlichkeit und Liebe. In diesem Land gibt es einen See der Gleichgültigkeit und vielleicht ist es dieser See, auf den die Protagonisten und mit ihnen die Kamera blickt. Wenn man lange auf ein stilles Wasser starrt, spürt man schnell diese Gleichgültigkeit, die man als Zeit selbst oder einfach nur als Abwesenheit eines Sinns verstehen kann: endlose Ruhe, überlegene Tiefe. Jene, die am Ufer sitzen, sind die Glücklichen. Sie kennen alle Phänomene der Natur und deren Spiegelung: die Lichter, den Regen, den Frost, das Auftauchen und Abtauchen von Geräuschen. Sie wissen, was es nicht zu wissen gibt. Sie sitzen dort und vergessen die Zeit.

In einem anderen Film über die Liebe jener, die sie am liebsten im Halbdunkel ausleben, Les Amants du Pont-Neuf hat Leos Carax seine Liebenden beständig zwischen dem Wasser der Seine und dem Asphalt der französischen Hauptstadt kadriert; ob es dabei um den metaphorischen Sprung ins Wasser (bei Carax nicht nur metaphorisch) oder um dieses Dasein zwischen den Zuständen geht, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, in Tendre aber wirkt das Wasser fast so, als würde man nicht hineinfallen können. Es ist ein schwarzes Loch, das alle beobachtet und jene verändert, die nur allzu lange hineinblicken. Eine Präsenz, die die Zeit schluckt. Am Ende des Films sieht man kleine Wellen auf dem Wasser. Ausgelöst von einem Angelhacken erzählen sie von einer Bewegung, die kurz aufrührt bevor sie für immer verschwindet.

Da Pagliai eine große Vorliebe für das Halblicht hat, in dem man Hauttöne und Augenlichter gerade noch erkennen kann, zeigt sie auch jene, die die Welt vergessen, weil sie in der Dämmerung leben. Dort, wo nichts mehr wirklich erkennbar ist, aber alles möglich wird, beginnt die Welt sich zu verändern. Die Nacht ist die Zeit des Kinos, jene Zeit, in der alles unklarer wird, größer, magischer. An der Schwelle zwischen Kino und Welt verharren die Helden von Tendre mit der Selbstvergessenheit jener, die spielen. Sie spielen mit Feuer, Wasser, herumliegenden Ästen und mehr und mehr auch mit den eigenen Körpern.

Denn die Schritte hin zur Zärtlichkeit sind vulgär. Gesprochen wird hauptsächlich, um zu vergessen wie nah das Schweigen geht. Man beschimpft sich und entzieht die Wärme mit Beleidigungen, die alles bedeuten. Die Huren und Ficker sind Auswege aus der Überwältigung. Man wahrt das Gesicht, schützt sich vor dem möglichen Sprung ins Wasser. Gleichzeitig aber umschlingt man sich und küsst sich verdeckt vom Schilf und umrahmt von der Dunkelheit. Niemand hat es gesehen, es war keine Liebe, nur ein Spiel. Wer spielt, vergisst die Welt und mit ihr die Zeit. Hugo und Chaïnes spielen, um sich kennenzulernen, um sich näher zu kommen. Sie schlagen sich, umarmen sich und versuchen die eigene Unsicherheit im Anderen zu entdecken, zu enttarnen.

Plötzlich weht ein Wind von der Leinwand als zugleich befreiende und nervöse Cembalotöne von Scott Ross Rameaus Le rappel des oiseaux interpretieren. Ein Stück, dass den Bewegungen von Vögeln ein musikalisches Bild gibt genau wie Pagliai jenen unsichtbaren Bewegungen einer überfordernden Nähe Bilder schenkt. Ihre Schnitte zu dieser Musik sind beinahe brutal. Etwas gerät ins Wanken, weil das Land der Zärtlichkeit kein friedliches Land sein kann. Es ist ein Land, in dem sich Fiktion und Welt immer wieder von Neuem orientieren, zusammensetzen und in tausend Stücken auseinanderfliegen. Tendre handelt auch keineswegs wie bislang von mir behauptet von einer ersten Liebe, er handelt von ihrem Scheitern, ihrer Nicht-Existenz in den Worten von Hugo (und damit ist sicherlich nicht Victor gemeint).

Doch es sind jene die lieben, die die Welt am stärksten vergessen können. Die freien Vögel, die herumschwirren, manchmal von Ästen fallen oder gegen Glasfassaden fliegen, das sind die Liebenden. Mia sitzt und hört zu, sie stellt fragen, sie beobachtet. Sie fliegt nicht selbst, aber träumt, sie versteht, sie distanziert sich. Es gibt einen Grund, dass Pagliai den Film mit ihr beginnt. Sie ist diejenige, die alles entscheidet, die das Kino und das Verschwinden der Welt ermöglicht: sie fordert Hugo auf zu erzählen, treibt ihn in Erinnerung und Fiktion, sie bleibt in der Dämmerung sitzen und blickt auf das Wasser, hört Musik; sie hört und schaut zu, so wie alle, die wollen das die Zeit verschwindet und die Liebe wirklich existiert (wenn auch nur für die Sekunden, in denen Wellen auf dem Wasser bleiben).

Robert Desnos:

Ma sirène ne chante que pour moi
J’ai beau dire à mes amis de l’écouter
Personne ne l’entendit jamais
Excepté un, un seul
Mais bien qu’il ait l’air sincère
Je me méfie car il peut être menteur.

Zusammenfassung all jener, die die Welt vergessen:

Jene, die am Ufer sitzen
Jene, die in der Dämmerung leben
Jene, die spielen
Jene, die in der Fiktion leben
Jene, die lieben
Jene, die zusehen

Derart arbeitet Pagliai auch an ihrer eigenen Abwesenheit. In ihren bisher drei Kurzfilmen war die Kamera stets so positioniert, dass sie zum Vergessen einlud. Insbesondere in ihrem Orfeo (wie alle ihre bisherigen Arbeiten ein Ausflug in die mythischen Räume der Fiktion) wirkt es beinahe so, als würde sie aus einem Versteck auf die Welt blicken, sich verbünden mit dem Blick jener, die hinabsteigen, sich abwenden, sich verlieren. Dabei handelt es sich nicht um ein Versteck, dass man mit Überwachungsbildern verbinden könnte, nein, Pagliai beherrscht die, wenn man viele andere zeitgenössische Filme betrachtet, scheinbar veraltete Kunst der perfekten Einstellung, jene, in der sich filmischer Raum und realer Raum ineinander auflösen.

Aber was ist da, wo die Welt vergessen wird? Die Wahrheit? Die vielgescholtene Authentizität? Das Leben? Selbst vom Tanz kommend, könnte für Pagliai genau in der Begegnung mit dem Unbewussten von Körpern und Sprache eine Brücke liegen. „Ein Körper ist ein Unterschied. Da er Unterschied zu allen anderen Körpern ist […], hört der Körper niemals auf, sich zu unterscheiden. Er unterscheidet sich auch von sich.“ (Jean-Luc Nancy). Diese Unterscheidung wird sichtbar in Tendre und mehr noch wird sie nicht gedacht, sondern in Bewegungen und Abwesenheiten greifbar. Was sich hier also auf der Leinwand abspielt, ist ziemlich unerhört. Man sieht Menschen (junge Menschen), die in einem Spiel leben (der Fiktion, der Mythos, das Kino) und in diesem Spiel wird etwas sichtbar, was man das Leben jenseits des Spiel nennen könnten, ein Leben, über das wir sonst ein Spiel stülpen, um nicht enttarnt zu werden. Das ist eigentlich eine Definition von Film oder Theater, aber vielmehr ist es aufwühlend und schön.