Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Liebe im Kino

In Anlehnung an einen Text von Tuli Kupferberg (Love in the Movies) in Film Culture No.25, Summer 1962.

Dieser Text soll sich nicht mit dem unergründlichen Thema der Liebe und ihrer kinematographischen Darstellung befassen, sondern mit der Liebe vor der Leinwand. Dem Kuss in der letzten Reihe, der heimlichen Berührung am Oberschenkel und dieser endlosen Sehnsucht, die sich in einem rührt, wenn man die Einsamkeit der Kinobilder vor sich schwimmen sieht, während man seinen eigenen Körper nicht mehr spüren kann.

Aber Cinephile sind einsam. Sie sind blass und können nicht sprechen. Hans Hurch hat gesagt: „Cinephilie ist eine Krankheit.“ Leichen der Umnachtung, sozial unfähige Trinker und Träumer…wie wollen wir von Liebe im Kino sprechen? Sprechen wir von der Einsamkeit des Cinephilen. Das Problem: Ein Kuss während eines Films ist ein Verbrechen. Geht man als Cinephiler mit einem Partner oder einer Person des Begehrens ins Kino steht man wie zwischen zwei Lieben. Man muss eine betrügen. Dort die Unendlichkeit von Bildern und Tönen, die sich wie die aufregendste Fremdheit in der Heimat anfühlt und in uns all die Sehnsüchte und das Begehren einer potenzierten Liebe verdichtet einflößt. Und hier die, in der Reflektion dieser Sehnsucht erstrahlenden Augen einer anderen Unendlichkeit, in die man mit weitaus weniger Sicherheit eintauchen möchte, die eine andere Sinnlichkeit und Körperlichkeit offenbart, eine hinter der man nicht unsichtbar bleiben kann, eine die verpflichtet und zur Handlung verführt. Ein unlösbares Problem. Ist das nicht so? Bevorzugt man das eine, verletzt man das andere. Nein, gibt man dem einen nur eine Sekunde, stiehlt man dem anderen alles. Man fragt sich, warum nicht beides gleichzeitig geht und denkt an die verstohlenen Blicke zur Leinwand in The Last Picture Show (ein Film von einem krankhaft cinephilen Casanova) oder das Entdecken einer Liebe im Kinosaal von Antoine Doinel (in einem Kurzfilm von einem besessen-cinephilen Casanova).

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Doch trägt diese Dunkelheit überhaupt noch ein Versprechen in sich? Das Kino als Rückzugsort für Jugendliche ist heute Vergangenheit. Ein Kuss in der Dunkelheit ist heute kaum mehr Zauber, er ist eher Schüchternheit. Wer würde schon noch davon sprechen, dass man einen Ort für Intimität und Dunkelheit sucht? Doch dann betritt eine junge Frau den Kinosaal, sie gibt sich große Mühe, um die geheimnisvolle Aura der Leinwand zu übertreffen, sie kommt immer kurz bevor es losgeht, damit alle sie sehen können, sie kommt immer alleine, sie ist abwesend und doch verspielt, sie dreht sich durch die Eingangstür, als würde in jeder Sekunde ein Scheinwerfer auf ihr erblühen, sie ist Marlene Dietrich in Morocco (von einem Mann, der vielleicht verstanden hat, wie man diese zwei Lieben vereinen kann), sie ist die Fahrt wie ein Wind auf Gene Tierney in Heaven Can Wait, sie dreht sich in das Kino, jemand flüstert zu sich selbst: „Sie sieht aus wie Sylvia Sidney,“ sie ist ein Pick-Up Artist, mit ihren traurigen Augen, die einladend lächeln… machen wir uns nichts vor: der von Augenringen des Leids umnebelte Junge in schwarz, der immer auf dem selben Platz in der zweiten Reihe sitzt und auffällig häufig mit dem Finger über seine Lippen streicht und auf jeden Fall so aussieht, als wäre ihm alles egal, ist auch ein Pick-Up Artist, Cinephile sind Pick-Up Artisten der Einsamkeit, sie bemerken kaum, dass sie nie jemanden berühren, aber dafür in den Träumen der blickenden Doinels und Bogdanovichs landen bis diese ihnen die wichtigste Frage nach einem Film stellen: „Ich fand One Hour with You ja besser als The Marriage Circle. Was meinst du?“

Kann man sich auf den Film konzentrieren, wenn man verliebt ist? Vielleicht haben Verliebte gar nichts im Kino verloren, obwohl Filme für sie gemacht sind. Das Kino ist ein Betrug, eine Lüge, die Wahrheit in 48fps. Eigentlich ist es anders. Cinephile haben diese Regungen nicht. Sie sind kalt und zu neurotisch für Liebe. Sie sind krank, ungepflegt und es ist ihnen egal. Sie tragen nur mehr ihre Sinne in den Kinosaal, der das Grab und die Blüte ihres Lebens in einem Licht ist. Oder sie kennen keine Proportionen. Weil sie in den Filmen leben, ist ihnen nichts im echten Leben gut oder geheimnisvoll genug. Sie erstarren und warten auf eine Nahauaufnahme. Es müssen sich zwei Cinephile finden, damit sie es nicht merken. Das stimmt nicht. Das Kino kann einen zur Liebe bringen.

Carax

Godard hat eine Seelenverwandte gesucht, um Filme mit ihr zu drehen und er hat Hunderte gefunden. Heute gibt es nur noch den verstohlenen Blick. Carax hat gesagt, dass für ihn das schönste im Kino der gefilmte Nacken einer Frau wäre. Was passiert, wenn er im Kino sitzt und ein Nacken auf der Leinwand erscheint, während die Frau vor ihm sitzend, vielleicht weil sie gerne in seinen Filmen spielen würde, vielleicht einfach so, sanft über den eigenen Nacken streicht. Wohin schaut Carax? Wer spaziert mit uns nach den Filmen durch die Nacht? Wollen wir nicht alleine sein, alleine mit den Erinnerungen an den Film? Suchen wir jemanden, der mit uns über den Film spricht? Nein, wir wollen entweder schweigen oder unendlich reden. Es gibt sie/es gab sie. Paare, die sich und das Kino lieben. Tarantino hat einmal gesagt, dass er, wenn er eine Frau kennenlernt, ihr zunächst Rio Bravo zeigen würde: „And she better fucking like it.“ Es ist klar, dass die Liebe im Kino davon beflügelt wird, dass man dasselbe liebt. Eine Art Menage à Trois zwischen den Augen zweier Liebenden und der Leinwand. Das funktioniert im Bezug zu den Bildern selbst besser, als wenn es um einzelne Personen auf der Leinwand geht. Die Liebe zum Kino kann besser geteilt werden als die Liebe zu Grégoire Colin.

Es gibt noch ein weiteres Problem mit der Liebe im Kino. Filme geben einem Zuseher einen Wissensvorsprung. Wer Filme von Garrel gesehen hat, kann sich nicht einfach blind in eine Liebe stürzen. Das Kino bereitet uns auf den Schmerz vor. Das ist natürlich kein Grund ihn nicht erleben zu wollen, aber wir sind gewarnt. Nur zu ihrem Glück sind Cinephile auch naiv. Sie suchen diesen Schmerz und finden ihn bereits in der Traurigkeit eines Blicks. Sie nehmen ihre Liebe mit in einen Garell-Film, sie tragen sie weiter in ihrem Herzen und danach wirkt ihr „Ich liebe dich“ wie eine Lüge. Wie im Zug bei Les Rendez-vous d’Anna von Chantal Akerman fliegt an uns die Welt und ihre Geschichte vorbei während wir uns in einem Flirt verlieren, den wir nicht haben wollen. Wir berühren, aber fühlen nichts, weil in uns noch die Tränen des letzten Films versickern. Wie soll man im Kino damit umgehen, dass Liebe blind macht? Renoir hat gesagt, dass Kino eine private Kunst sei, er meinte damit unter anderem, dass das Kino ganz direkt zu einem persönlich sprechen würde, wie ein Sänger, der einem in die Augen sieht, wenn er keine Kraft mehr hat. Nein, das ist kein Statement gegen die Liebe im Kino, es ist ein Statement dafür. Zu wenige stehen auf und küssen die Leinwand.

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Wie weit darf man gehen mit der Liebe im Kino, fragt Kupferberg 1962. Im selben Jahr dreht Antonioni L’eclisse, einen Film über das Ende der Liebe. Klar ist, dass es unterschiedliche Regeln gibt im Kino. Haben wir jemals geklärt, ob das Kino ein Ort der Freiheit oder der Disziplin ist? Man wird schließlich eingesperrt, aber dieses Eingesperrtsein fühlt sich an wie Freiheit. Wenn man sich küsst in dieser Gefangenschaft löst sich womöglich die Freiheit auf. Lieber blicken wir, begehren wir und stellen uns vor. Dann nach dem Kino halten wir unsere Hände, aber sie halten meist zitternd Zigaretten. Wir versuchen uns Dinge zu sagen wie wir sie im Kino gehört haben, aber sie klingen gekünstelt, wir lieben uns so wie im Kino und merken nicht, dass wir nur eine Projektion lieben. Was wir eigentlich lernen müssen, ist dass Liebe das Kino mit einschließt. Es gibt einen Drang, der sich für manche wie eine Krankheit anfühlt, für andere wie eine Lust und wenn man diesem Drang folgt, dann liebt man. Er führt direkt an die Lippen des Kinos, in die Zärtlichkeit von Augen, die das Kino sehen, in eine gemeinsame Flucht vor der Welt und in die geöffneten Arme einer weißen Leinwand, die man spürt, wenn man alleine ist und wenn man gemeinsam ist. Das Kino war immer ein Ort für Liebe, nicht nur weil man sich dort in der letzten Reihe geküsst hat, sondern weil dort Wahrnehmungskanäle in einem geöffnet wurden, die neben den Schmerzen, der Intelligenz, der Politik und der Wut auch von der ganzen Zärtlichkeit und Liebe der Menschheit durchzogen waren. Das ist aber nur ein Traum. Der Cinephile ist einsam voller Liebe.