Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Lissabonner Kleinigkeiten: Die selbstredende Frau

Sie sitzt immer im vorderen Block der hinteren Reihen, hat kurzes, schwarzgraues, fettiges, aber feinsäuberlich gekämmtes Haar, unter dem ihr Hals verschwindet. Im Winter auch mit grauer Haube über die Augenbrauen gestülpt. Sie trägt oft eine rote Blousonjacke im 1990er-Chic und eine rechteckige Metallrahmenbrille, die ihr ein bisschen die Nase herunterrutscht. Meist schielt sie abwechselnd nach rechts und nach links, spricht zu sich selbst, vermehrt in letzter Zeit. Immer bevor sie aussteigt, dreht sie eine Runde zum Busfahrer nach vorn und dann wieder zum Mittelausstieg. Egal wie viele Leute gerade einsteigen, sie drückt sich an ihnen vorbei und wieder zurück.

Was verbindet die Menschen, die tagtäglich im Lissabonner Carris-Bus 756 dem Leben nachgehen? Sie sitzen in der Regel zur selben Zeit im Bus, manchmal vollgestopft und Nase an Nase, weil der um 8:09 Uhr wieder einmal zu spät kam. Ich sitze oder stehe mit ihnen im drängelnden Verkehr, zwischen vielen abrupten Abbremsungen, bei vergeblichen Versuchen, der Enge zu entkommen, eingeschnürt wie Sardinen in der Dose, Körper an Körper im Öl gleitend. Weil das Metrosystem nicht in den Westen der Stadt reicht, bleibt der Bus als einziger Ausweg. So ist 756 eigentlich falsch, weil die vorgestellte 7 bei Bussen immer für Lissabon steht. Also reden wir vom 56er.

Da sitzt diese Frau und steigt bei der Station der Kirche de Nossa Senhora de Fátima in Avenidas Novas aus, immer nach rechts an der Ausgangstür, wo sie in ihrem Alltag verschwindet. Vielleicht setzt sie sich in den Gulbenkian-Park, um sich dort vor dem Trubel des kleinen, aber doch sehr vollen Autoblechdorfs Lissabon zu verstecken. Das kann man nämlich dort ganz vorzüglich. Ein unwirklicher Ort. Dass sowas in diesem Chaos überhaupt möglich ist. Wie ein Antidot der rastlosen Stadtadern, denen niemals das Benzin ausgeht. Aus dem testamentarischen Nachlass des britisch-armenischen Ölbarons Calouste Gulbenkian gegründet, bildet die Fundação Calouste Gulbenkian, zu welcher der Park gehört samt zweier Museen, einer großartigen Konzerthalle, einem Amphitheater für Sommerkonzerte und auf seiner Südseite seit neuestem mit einem Engawa-Vordach erweiterte Museum für kontemporäre Kunst, fast schon das Forum Romanum Lissabons, also das vor den Ruinen. In einer Stadt, in der die Grünflächen kaum so geleckt auftreten, wie in Paris, ist der Gulbenkian-Park, der all diese Gebäude umschließt, der manierierteste von ihnen. Fast wie der Jardin du Luxembourg, nur verwaldeter, strategisch verwunschener. Keiner würde hier etwas stehlen oder zumüllen. Aber das liegt nicht am plötzlich verzauberten Benehmenswandel der Menschen, wenn sie von der Straße durch die nur einen Meter hohen Eisenschranken in den Park eintreten und dann in irgendeiner Alkove auf einer Betonbank in ihm verweilen. Sondern an den zahlreichen diskret herumwandelnden Sicherheitspersonen, die in ihm ihr Wachwerk verrichten.

Geht die selbstredende Frau dahin, sieht nach links und nach rechts und bewundert die zu einem See durch eine Glaswand sich öffnende Musikbühne und hört dort den Orchesterproben zu? Oder geht sie einfach am Park vorbei, biegt rechts über den Zebrastreifen und zwei Fahrbahnen in Richtung Gonçalo’s, wo sie eine ellenlange Croquete de Carne Moída verspeist? Vielleicht doch zu deftig in der Früh. Ob sie nach der holprigen Sardinenfahrt überhaupt noch Hunger hat?