Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Lissabonner Kleinigkeiten: Ein Toter in Alcântara

Früh­mor­gens ein Blick aus dem Fens­ter: unten vor dem Café liegt ein Toter. Mit Wolf­gang Ambros’ Da Hofa hat das wenig zu tun, eher mit mei­ner Neu­gier. Er liegt am Rücken, drei Män­ner ste­hen um ihn her­um. Einer sieht wie ein Zivil­po­li­zist aus, der ande­re ist ein enga­gier­ter Pas­sant, der ihm zur Hand geht. Der drit­te ist in Uni­form und kommt von der Poli­zei­zen­tra­le in Alcân­ta­ra. An deren Wach­ge­bäu­de hängt ein Ban­ner, das sich „seit 150 Jah­ren im Diens­te der Sicher­heit“ rühmt. Ein zyni­scher Stolz, wenn man bedenkt, dass davon ein­und­vier­zig Jah­re den Faschis­mus sicherten.

Hier in der Rua dos Lusía­das, benannt nach dem Natio­nal­epos Os Lusía­das (Die Lusia­den) des Dich­ters Luís de Camões gibt es gegen­über mei­nes Wohn­hau­ses ein Núcleo SCP-Café, in dem sich alle mög­li­chen Men­schen, und nicht nur Fans des Fuß­ball­klubs Sport­ing CP, tum­meln. Vor allem an Spiel­ta­gen drin­gen abends abrup­te Schreie der Eupho­rie nach einem Tor Sportings auf die Stra­ße hin­aus. Dort, wo sonst nur das unge­dul­di­ge Hupen der Auto­fah­rer von der nächs­ten Kreu­zung zu hören ist.

Wei­ter rechts die Stra­ße hin­auf kommt einem der Auto­lärm der Brü­cke ent­ge­gen, die von Dik­ta­tor Sala­zar als Gol­den-Gate-Bridge-Pas­ti­che gebaut und nach der Nel­ken­re­vo­lu­ti­on 1974 in „Brü­cke des 25. April“ umbe­nannt wur­de. Von mei­ner Woh­nung aus klingt die­ser Lärm wie Bie­nen­sum­men hin­ter einer Wand: höl­zern, mono­ton, boh­rend. Hin­ge­gen sind die Pas­sa­gier­flug­zeu­ge, die genau hier in der Ein­flug­schnei­se über dem Tejo-Fluss brum­mend brem­sen und ihren Kero­sin­ge­ruch über das Bair­ro ver­sprü­hen, im Ton domi­nan­ter. Der Gene­ra­tor des Wei­ter­bil­dungs­in­sti­tuts schräg links gegen­über stimmt in das urba­ne Geräusch­kon­zert mit ein. Sein Sir­ren klingt wie von einer Stimm­ga­bel des Ter­rors, ein Sezier­mes­ser in mei­nem Ohr, deren Kammerton‑A mein ste­ter Beglei­ter in der Stil­le der Nacht ist.

Dort hin­un­ter, in die an jenem Mor­gen stil­len Lusia­den des ein­und­zwan­zigs­ten Jahr­hun­derts, blick­te ich und sah einen Toten vor dem Sport­ing-Café lie­gen. Der Zivil­po­li­zist tele­fo­nier­te, wäh­rend ein ande­rer Mann zusam­men mit dem Uni­for­mier­ten ver­ge­bens ver­such­te, die Lei­che zuzu­de­cken. Die Plas­tik­pla­ne, die sie hat­ten, war jedoch zu kurz, der Mann dafür zu dick und der Wind blies zu stark. Auch die Stra­ße konn­ten sie mit ihrem dün­nen Tras­sier­band nicht rich­tig absper­ren, da es ihnen der Wind stän­dig aus den Hän­den weh­te. Noch dazu war Welt­ju­gend­tref­fen und der Papst zu Gast in Lis­sa­bon. Hun­dert­tau­sen­de Pil­ger*innen kamen, um ihn zu sehen. Und eini­ge von ihnen mach­ten sich an jenem Mor­gen mit Hand­tü­chern und in Flip-Flops auf, im Brau­se­bad (Bal­neá­rio) am Ende der Stra­ße zu duschen, wo sich nor­ma­ler­wei­se kei­ne Pil­ger*innen tref­fen, son­dern die Ver­ges­se­nen der Stadt: Dro­gen­ab­hän­gi­ge, Obdach­lo­se, Men­schen mit Sozi­al­woh­nun­gen ohne Bad.

Einst­wei­len ent­blät­ter­te der Wind den Kada­ver unter der Pla­ne, uner­bitt­lich, wie­der und wie­der. Als wür­de er uns ver­mit­teln wol­len: „Schaut bloß nicht weg, dies ist die Welt.“ Am nächs­ten Tag ging ich beim Heim­kom­men zur Ein­gangs­tür des Cafés, an der ein Zet­tel mit einer Nach­richt, „dem lie­ben Stamm­gast“ als Nach­ruf gewid­met hing. Die Pil­ger*innen waren schon abge­reist und es war nur noch das Klir­ren der Kaf­fee­tas­sen von Sen­hor Rui in der Cafe­ta­ria Aleg­re gegen­über zu hören.