Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Notiz zu Cap Canaille von Juliet Berto

„Du kannst Artikel sammeln, Räusche, Watschen, aber eines wirst du in Marseille nicht sammeln: Gewissheit“, sagt Jules Mayolles in Cap Canaille von Juliet Berto, der mit dem sirenenhaften Ruf Élisabeth Wieners „Là bas, Là baaas …“ in den Opening Credits aus dem Hafen erklingt. Dieser ist gleichzeitig ein lautmalerischer Fingerzeig auf die Niederungen der mafiösen Vorkommnisse im Film. Paula Barrettos Wald brennt. Angezündet durch einen Brandstifter. Schnitt. Ein schnauzbärtiger Mann mit gelbem Benzinkanister läuft dem Journalisten Robert Vergès in den Sucher seiner Fotokamera. Klick. Hinter ihm: Feuer. Klick. Der Mann versteckt seinen Kanister im Busch. Klick. Überall brennt der Wald. 

Schnitt. Zwei Herren, der Anwalt Samuel Kabidjan und der Konsul, spazieren in weißen Sommeranzügen aristokratisch durch die Calanques am Wasser entlang und schau-denken über die historische Bedeutung der Gegend. Es werden geschichtliche Superlative präsentiert: Barrikaden, die aus dem Eichenholz der Umgebung gegen Cäsar errichtet wurden. Ein Hafen, der von Napoleon III. in den Fels der Calanques gehauen wurde. Die Griechen waren es nicht, die Marseille erobert haben, nein, sondern die Piraten! Ein widerständiger, unbeugsamer Ort, dieses malerische Marseille. Und voller Widersprüche. Einerseits schlängelt sich die Corniche wie ein Schmunzeln zum blau schimmernden Meer hin. Motto: Wärme, Baden, Sonnenschein. Andererseits diktiert in den rauen Hügeln über ihr Immobilienspekulation das lokale Business: Land ist Geld. 

Nach und nach wird klar, dass alle hier unter einer Decke stecken. Kabidjan war früher mit Paula zusammen, deren Vater als Chemiker im lokalen Drogengeschäft für Mafiaboss Andreucci mitmischte. Sie schläft später mit dem naiven Pariser Investigativjournalisten Vergès, während wiederum dieser mit dem Polizeiinspektor Marseilles Dugrand früher Film studierte. 

Immer wieder deutet der Film darauf hin, dass alte Gewissheiten in Marseille nichts mehr wert sind. Kabidjan: „Ich hab’ keine Zeit für Nostalgie.“ Oder Andreucci: „Ich häng’ nicht in der Vergangenheit fest.“ Die verborgene Wahrheit darin entlarvt eine Szene, in der Vergès seinen Marseiller Journalistenfreund Jules Mayolles in einer Bar am alten Hafen trifft. Sie trinken Pastis und Vergès möchte von Mayolles wissen, was dessen Ambitionen als Journalist seien. Der sieht sich um, deutet auf die Menschen und sagt, er möchte keine Risiken eingehen. „Zwischen Spaß und Tragödie … dort liegt meine Ambition.“

So wie Joseph Conrad meint, „the Canebière has (always) been a street leading into the unknown“, geht es in Cap Canaille um einen Machtumbruch, um eine Zeitenwende, um einen moralischen Niedergang. Paulas krimineller Bruder Nino und seine Komplizen möchten nicht mehr durch die alten Instanzen gehen müssen, um an das schnelle Geld zu kommen. Sie sind skrupelloser als die Vorgängergeneration. Ihre Verbrechen geschehen in der Öffentlichkeit. So wird Dugrand vor dem Lumière-Denkmal auf der Canebière kaltblütig erschossen, weil er zu sehr in ihre kriminellen Machenschaften interveniert. Am helllichten Tag meucheln sie auch Andreucci in der Telefonzelle eines Cafés. Danach wird Kabidjan tot in seinem Pool aufgefunden, was der korrupte Polizeikommissar am Tatort zu Mayolles nur als einen weiteren „unglücklichen“ Selbstmord in diesem Jahr quittiert. Vergès wird zuerst zur Einschüchterung verprügelt, dann fast von einem Auto auf einer Café-Esplanade niedergefahren und schließlich bewusstlos im Schlafwagen nach Brüssel geschickt. Und zu guter Letzt muss auch Paula im roten Cabrio über die malerischen Klippen fallen. 

In Cap Canaille gilt Realismus und Entzauberung als Kontrapunkt zum vermeintlichen Sommerparadies. Die Kriminalität ist im Ausverkauf der Stadt geboren, welche zugleich im Fegefeuer zwischen Nostalgie und Zukunftslosigkeit gefangen ist. In Erwartung des Todes sagt so einer der Gangster süffisant zu Vergès im Zug, noch bevor er ihn ausknockt: „Herr Vergès, den Zeitpunkt Ihres Todes bestimmen nicht Sie!“ Einzig Paulas Freund, der blonde Wim, versteht es, in diesem Labyrinth des Verbrechens zu navigieren. Er spielt Schach, ist schweigsam, hält sich bedeckt. Nordisch nobel, mit Pragmatik gegen die Ohnmacht in einer Stadt, wo zu sehr auffallen tödlich sein kann. Am Ende raubt er mit einer Komplizin einen Juwelier aus und lässt Marseille im Segelboot hinter sich. Ein symbolträchtiges Bild für Juliet Bertos Kino – weg von den alten Gewissheiten. Better take the money and run!