Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Notiz zu Havre von Juliet Berto

Text: Leonard Krähmer

Die vielbesungene Weite des Meeres kontern die Hafenanlagen von Le Havre mit architektonischer Großzügigkeit. Es sind ausladende Orte zum Verladen von großen Dingen, man braucht Kräne und Hangars dafür. Wo bleibt der Mensch im Habitat des Containerstaplers, wie bewegt er sich fort? Nach der Schicht fährt man Motorrad, zu Fuß sind die Wege länger. Der Kompromiss aus technischem Fortschritt und menschlicher Demut lautet Rollschuhe. Zumindest für Polo, ein (nicht zuletzt schuhwerkbedingt und bis in den Abspann hinein) äußerst agiler Junge, der im Hafen seiner Arbeit nachgeht, wie die meisten Figuren in Havre, nur dass seine Arbeit ungleich zukunftsweisendere Industriezweige auf Tragfähigkeit testet.

Polo stellt für seinen verstorbenen Freund Pablo ein Videospiel fertig, das bald an „die Japaner“ übergeben werden soll. Medienhistorisch gesprochen handelt es sich um ein textbasiertes Adventure Game (Titel: La chasse aux sorcières) mit gelegentlich eingestreuten 8-bit-Grafiken. Zu den Synthesizer-Klängen Yasuaki Shimizus rollt Polo immer wieder an die Bildschirme in seinen Verschlag, wo er mittels Tastatur und entsprechend verdrahtetem Zeichenbrett Pixel aufeinanderstapelt, eine diskettengerechte Erzählwelt generiert – kurz: Ordnung (er)schafft, wie das die Hafenarbeiter draußen im großen Stil mit den Containern versuchen. Innen und außen sind hier allerdings zwei magisch verschränkte Seiten einer funkelnden Fabulationsmedaille: Die Handlung des Spiels legt sich über die des Films, sie prophezeit ihren Verlauf, auch Handlungsort und Figurenarsenal sind identisch: Hafen im Nebel, zwielichtige Gestalten, dazwischen eine Frau in Gefahr.

Lili (Frédérique Jamet, Juliet Bertos Nichte), Pablos zurückgelassene Geliebte, muss sich den Avancen der stereotypen Hafenarbeiter erwehren: Baby, der weiße Prolet; Ki, der kampfkunstkundige Asiate; Ogun, der magical negro, der außerdem vortrefflich trommelt. Die überzeichneten Orientalismen speisen sich aus der Abenteuergattung und den unerschöpflichen Mythen und Fiktionen, die das Leben auf See so anspült. Weil das Spiel danach verlangt, zaubert Polo irgendwann einen „schönen Matrosen“ auf die Bildfläche, eine rein mythische Figur, die allen, denen sie begegnet, ihre unzähligen Mitbringsel aus entlegenen Erdteilen als Glücksbringer andrehen möchte. Lili bekommt der Matrose mit einem aus China entwendeten Aphrodisiakum vom Horn des Nashorns sogar ins Bett. Er legt ihr auch Tarotkarten; Einblendungen der Karten verleihen dem Film eine andeutungsreiche Kapitelstruktur (oder sind es Level?), glücklicherweise ohne ihn dadurch zu bändigen. Motive der Vorsehung sind in Bertos einziger Solo-Regiearbeit sowieso überall anzutreffen, nicht nur, weil gameplaygemäß alles vorprogrammiert und durchchoreografiert scheint. Was geschieht, ist von allen Seiten aber derart determiniert, dass es fast wieder überrascht, wenn das Prophezeite tatsächlich eintritt.

La chasse aux sorcières beginnt mit der Warnung an den Spieler, sich vor Illusionen in Acht zu nehmen. Den Zuschauer von Havre schreckt das nicht ab. Er erkennt in der Warnung eine Verheißung und spielt das Spiel der Illusionen bereitwillig mit. Dass dann jederzeit alles möglich ist, liegt auch an den beiden schillerndsten Figuren des Films. Da ist einmal der directeur de conscience, der flamboyante Voodoo-Prediger einer ultrafaschistoiden White Supremacy/Incel-Sekte namens La croyance régénératrice, dessen krude Befreiungsparolen in formvollendeten Wahnsinn münden. Lili hingegen erspielt sich ihre Befreiung, indem sie wie besessen durch entrückte Musical-Einlagen wirbelt und tanzt, bis sie – Sirene, Hexe, ewig wartende Lili Marleen – den „phallischen Schatten der Kräne“ endlich entkommt und mild lächelnd aufs Meer hinaussegelt.

Im transatlantischen Gegenschuss schneidet Berto auf das zerfurchte Gesicht von Joris Ivens, der in Havre einen gewissen Dr. Digitalis verkörpert, dessen magische Fähigkeiten jene der anderen weit übertreffen. Entweder stellt er Gott dar oder das Internet. Als Gegenspieler zum destruktiv veranlagten directeur de conscience fühlt er sich der kosmischen Ordnung der Dinge verpflichtet. Aus seinem Schaukelstuhl braucht er nicht aufzustehen, weltliche Entfernungen interessieren ihn nicht, ebenso wenig Mordfälle. Dr. Digitalis sieht alles, er schläft mit offenen Augen und möchte nicht gestört werden: „Kein Tod ist so wichtig wie der Schlaf eines alten Mannes.“