Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Notiz zu El Coraje del Pueblo von Jorge Sanjinés und der Grupo Ukamau

Text: Lucía Salas (aus dem Englischen von Patrick Holzapfel)

Eine Bergbaustadt namens Siglo XX. Welch eine furchtbare und doch treffende Idee, diesen Ort nach einem Jahrhundert zu benennen, dem Zwanzigsten. Ein Jahrhundert der Kriege, Massaker und Genozide, die oft vom Kino bebildert wurden, oft aber auch nicht. Die Bergbaukolonie Siglo XX erinnert uns an die blinden Flecken der Gegenwart: Das Durchschnittsalter der Bevölkerung beträgt 29 Jahre, 74 Prozent leiden an Tuberkulose, eine Kindersterblichkeit von 50 Prozent, alles unter der Herrschaft der wichtigsten Zinnmine des Landes, die die Hälfte dessen zahlt, was eine Familie pro Monat zum Essen benötigt.

Rund um die Wintersonnwende des Jahres 1967, die Johannisnacht (Noche de San Juan), wurde in dieser Stadt ein Fest veranstaltet. Auf beiden Seiten des Atlantiks wird die Johannisnacht unterschiedlich begangen, aber immer spielt Feuer eine Rolle. In jener Nacht des Jahres 1967 metzelten bewaffnete Kräfte des Staates unter Mitwirkung des Bergwerkbetriebs eine Gruppe von Gewerkschaftlern und dem Hausfrauen-Komitee nieder. Manche sagen, dass zwanzig Menschen getötet wurden, andere sagen, es waren zweihundert.

Die Vorfälle machten keine Schlagzeilen, aber wurden historisch aufgearbeitet, als sich die Überlebenden neu organisierten. Es waren nicht viele, die überlebten, aber ihre Zeugenaussagen geben El Coraje del Pueblo seine Form. Der Film nutzt ihre Aussagen als Ausgangspunkt, um zu verstehen, was geschah und welche Macht vom kriminellen Staat ausging. Dazu widmet er sich den Stimmen, den Formen der Kommunikation (Diskussionen, heimliche Versammlungen, öffentliches Radio), aber auch den Räumen, alltäglichen Bewegungen (dem Weg zum Schacht, den Markt, den militärischen Checkpoint, an dem jene, die den Ort verlassen oder betreten haben, überprüft wurden). So steuert der Film auf eine Katastrophe zu, jener der Tage im Bergwerk, die früher oder später im nahen Friedhof enden.

Die erste Zeuginnenschaft gehört den Frauen der Stadt, dem Hausfrauen-Komitee. Domitila Chungara, die später eine berühmte Aktivistin wurde – wir sehen sie in ihrem Haus – erzählt von den Anfängen des Widerstands, den Versammlungen, Aktionen, Zweifeln und dem Aufbauen einer Gemeinschaft. Dann wandelt sich der Film in eine Fiktion, um das zu zeigen, was nicht gefilmt oder aufgenommen wurde, das also, was unter den Teppich gekehrt werden sollte. Dieser Film wählt die Fiktion als Weg zur Gerechtigkeit, aber auch, um jene zu schützen, die nach Gerechtigkeit suchen; es geht hier darum, einen Sachverhalt zu beleuchten, indem man Möglichkeiten findet, zu erzählen. Fast alle Szenen zeigen Menschengruppen, unruhig umfährt die Kamera jene, die Tag für Tag begreifen, dass sie so nicht weitermachen können. Die Unruhe der Kamera, scheint uns vor dem kommenden Grauen zu warnen.

Wie konnte dieser Film überhaupt entstehen? Die italienische RAI bat die Grupo Ukamau, einen Film über den bolivianischen Bergbau zu realisieren. Jorge Sanjinés war zuvor mit seiner Mutter in Siglo XX, sie wollten die getöteten Söhne einer ihrer Freundinnen finden. Als sie ankamen, fanden sie nichts. Das Kollektiv nahm das Geld der RAI, um einen Film über die Gewalt des Bergbaus am Tag und jene des Staates bei Nacht zu machen. Einen Film, der vom vergangenen Jahrhundert erzählt.