Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Notizen zu Peter Nestler: Ödenwaldstetten

Text: Sebas­ti­an Höglinger

Wie einen Umbruch doku­men­tie­ren, wie die Rea­li­tät mit dem Ima­gi­nier­ten beim und durch das Fil­men abglei­chen? 1964 legt Peter Nest­ler in Ko-Regie mit Kurt Ulrich das Doku­ment einer rura­len Neu­ord­nung vor. Ein vom Süd­west­funk in Auf­trag gege­be­nes Wider­stück zur glatt­ge­walz­ten TV-Ästhe­tik jener Zeit – von gegen­wär­ti­gen Fern­seh­bil­dern ganz zu schwei­gen. Das länd­li­che Leben, wie es auf Post­kar­ten zum Idyll ver­klärt wird, bleibt Schwarz­weiß. Mit Grau­stu­fen, Zwi­schen­tö­nen, Ambi­va­len­zen. Ein Pro­to­koll auf 16mm-Film.

Öden­wald­stet­ten im Schwä­bi­schen.
Ein­woh­ner­zahl: 485, vor­wie­gend evan­ge­li­sche Kon­fes­si­on. Indus­trie­be­trie­be: eine Braue­rei, eine Frot­tier­we­be­rei, ein Tex­til­be­trieb, ein Teig­wa­ren­ge­schäft.
Gewer­be­be­trie­be: 7
Land­wirt­schaft­li­che Betrie­be: 62.
Pend­ler: 55.
Ein­pend­ler: 15.

In Öden­wald­stet­ten ist man am Schaf­fen, man packt an. Immer­zu. Die Kame­ra fokus­siert Hän­de und Hand­werk, kon­zen­trier­te Bli­cke, ange­streng­te Gesich­ter. Doch die wirt­schaft­li­che Lage ist unge­wiss. Über dem Bau­ern­stand hän­gen schwar­ze und graue Wol­ken, ver­merkt ein Land­wirt sor­gen­voll. Unauf­halt­sam schleicht sich die Rede von Leis­tungs­stei­ge­rung und Teue­rung ein: Ver­hält­nis­ver­schie­bun­gen. Maschi­nen und Fließ­band-Arbeits­schrit­te rücken in den Blick, Zukunfts­ängs­te wer­den spür­bar. Ers­te Pendler:innen arbei­ten aus­wärts und Gastarbeiter:innen mischen sich unter die Hie­si­gen. Nest­ler und Ulrich nen­nen die Täti­gen exem­pla­risch beim Namen: „Er ist Alfred Rauscher, acht­und­drei­ßig, ledig“, „das ist Mara Jako­v­le­vić aus Osijek.“

Aus heu­ti­ger Sicht wirkt vie­les an und in Öden­wald­stet­ten aus der Zeit gefal­len. Die Zei­ten über­lap­pen sich: Geis­ter der Ver­gan­gen­heit, Unge­wiss­heit der Zukunft, ein Jetzt das schon nicht mehr ist oder viel­leicht noch nicht. Bag­ger kün­den von ört­li­cher Neu­ge­stal­tung, Betrie­be wer­den auf­ge­rüs­tet: das Dorf ändert sein Gesicht. Wäh­rend die Jazz­gi­tar­re Leich­tig­keit und Moder­ni­tät sug­ge­riert, gibt sich der All­tag beschwer­lich – am Hof, in der Braue­rei, in der Tex­til­fa­brik. Gebück­te Alte wer­ken noch immer, die Jüngs­ten bereits auch. Ihre schul­freie Zeit ver­brin­gen sie bei der Ern­te am Feld. Der Leh­rer weiß, dass ihr Talent nur durch eine Reform des Land­schul­we­sens adäquat geför­dert wür­de. Sei­ne Sor­ge ist ehr­lich, die päd­ago­gi­sche Ver­ve spürbar.

Nest­lers und Ulrichs Pro­to­koll reiht Betrieb an Betrieb, Pro­fes­si­on an Pro­fes­si­on, und es stellt Erzähl­ty­pen gleich­wer­tig neben­ein­an­der. Hoch­deutsch und Mund­art, kei­ne vor­geb­li­che Neu­tra­li­tät, kein all­wis­sen­der Spre­cher: ehr­lich dar­über reden und reden las­sen. „Was die Leut‘ sagen ist egal. Doch es ist nicht egal“, heißt es ein­mal. Was auf den Kom­men­tar im Film zutrifft, meint eigent­lich die „stil­le“ Dorf-Post. Das, was sie unter­ein­an­der über­ein­an­der sagen. Wenn man der Hit­ze wegen mal lie­ber ruhen möch­te, anstatt zu schaf­fen, etwa. Dar­über spricht man. Man rich­tet sich aus, rich­tet ein­an­der. Weil sich hier alle ken­nen. Und Nichts­tun nichts zählt.

Wenn Schau­fel, Trak­tor und Näh­ma­schi­ne den­noch ruhen, fin­det die Dorf­ge­sell­schaft im Wirts­haus zusam­men. Beim Richt­fest des Nach­barn. In der Kir­che. Oder im Schüt­zen­ver­ein, den Gene­ra­tio­nen­fra­gen pla­gen, weil die Jugend nur noch spär­lich Freu­de am Sport­schie­ßen hat. Man ist zufrie­den. Denn „die sind auch nicht glück­li­cher, die andau­ernd mehr haben wollen.“

Wäh­rend das Dorf sams­tags für den Got­tes­dienst auf Vor­der­mann gebracht wird, drin­gen Spu­ren in Bild und Erzäh­lung ein: Von jüdi­schem Leben, das aus­ge­löscht, und von einer Syn­ago­ge, die nie­der­ge­brannt wur­de. Vom fran­zö­si­schen Sol­da­ten, der geweint hat, weil so vie­le umsonst ihr Leben gelas­sen. Vom Spieß, der über­zeug­ter Nazi war – ein „hun­dert­fünf­zig­pro­zen­ti­ger“.

Öden­wald­stet­ten benennt jene Leer­stel­len, die in der titel­ge­ben­den Ort­schaft neu mit Bau­stoff und Inhalt befüllt wer­den – und jene, die sich aus abge­ris­se­nem Ver­gan­ge­nen erge­ben. „Was hin­ter einem ist, ist gemäht.“ Doch Gras wächst hart­nä­ckig und bestän­dig. Es wird ver­ges­sen, es wird erin­nert. Das Neue kommt. Und ist gewesen.