Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Notizen zu Il Buco

Nach über zehn Jahren stellt Michelangelo Frammartino einen neuen Langfilm vor. Er schimmert mit einer schnörkellosen Klarheit, als wäre der Film aus der Hand eines Kartografen geschaffen. Doch je tiefer man sich in ihn begibt, umso deutlicher wird ein Widerspruch erkennbar, worin sich der Film für einen Moment über sich selbst bewusstwird – ganz ohne Worte. Man gelangt zu einem besonderen Ort, an dem man sich schon die ganze Zeit befindet: dem Kino. Zwar suchen viele Filme nach diesem Ort, selten aber erscheint er so selbstverständlich wie in Il Buco. Das vermeintlich Natürliche dieses Films trägt jenen schönen Schein, wofür man glaubt keine Worte finden zu können, nur mit den eigenen Augen ließe sich das begreifen. Vielleicht sollte man denen aber nicht immer trauen.

Frammartino taucht gemeinsam mit einer Höhlenexpedition in den 1960er Jahren hinab in die Dunkelheit des Abisso del Bifurto Kalabriens, eine der tiefsten, bekannten Höhlen der Erde. Der Film zeigt zwei Welten, die kaum verschiedener sein könnten: Einerseits die Arbeiten am nicht enden wollenden Abgrund, andererseits das bäuerliche Leben der Menschen außerhalb davon. Ein Stück brennendes Papier fällt ins Loch. Die tropfenden Wände glitzern, als würde sie zum ersten Mal ein Lichtstrahl berühren. Während die Männer und Frauen immer weiter ins Dunkle vorstoßen, vergeht fern ab Tag auf Tag und Nacht auf Nacht. Ein betagter Hirte, der vielleicht sein ganzes Leben dort verbrachte, beobachtet das Treiben aus der Distanz. Eines Tages kehrt er vom alltäglichen Weg mit seinem Esel nicht mehr zurück. Man findet ihn regungslos aber lebendig. Sein Zustand verschlechtert sich zunehmend. In gleicher Weise wie sein Leben das Ende erreicht, trifft auch die Expedition auf den Fuß der Höhle. Nachdem die letzten Meter vermessen, kartografiert und die Zelte abgebaut wurden, verschwindet die Gruppe nahezu spurlos. Unbeeindruckt bleibt eine Landschaft zurück, die sich wieder in Wolken hüllt. Auch wenn sich beide Welten nie tatsächlich berührten, schienen sie sich doch für einen Moment zu parallelisieren.

Die Kuriosität dieses Films liegt womöglich darin, dass er mit seinen Bildern einen Prozess beschreibt, der durch sich und seine Antagonismen, den Ort des Kinos selbst erfahren lässt. Ein Ort, der sich vom Außen abkapselt und trotzdem von nichts anderem spricht. Ein Ort, der sich trotz aller Natürlichkeit, im Dunkeln seiner Künstlichkeit bewusst wird. Seine Inszenierung arbeitet dabei mit einer Unmissverständlichkeit, der selbstverliebte Bilder oder überfrachtende Toncollagen fremd sind. In diesem Film scheint etwas sichtbar zu werden, das nicht an einem Fernseher oder einem Laptop, sondern nur im Kino wirklich begriffen, und durch erklärende Worte nur verdoppelt werden kann. Es scheint, als ginge der Film den Weg aus Platons Höhle wieder zurück. Wurde dort etwas vergessen?

Wenn der Arzt dem sterbenden Mann mit einer Taschenlampe in seine Augen leuchtet, um eine Reaktion festzustellen, dann trifft der Schein des Lichts ins Dunkle der Höhle und nicht zuletzt auch auf uns. Der überaus menschliche Aberwitz einer solchen Unternehmung, wie eine Höhlenexpedition, treibt sich wie im Rausch – selbstvergessen und zweckfrei – von selbst an. Eigentlich gibt es dort nichts zu suchen, was nicht zu erwarten wäre. Aber wer kann das wissen, solang niemand dort war. Einzig und allein ist vielleicht das Ende einer Höhle unvorstellbar. Die einschließende Form der Höhle, deren verborgene Winkel penibel ausgeforscht werden, lässt so in jedem Augenblick auch an die Form des Films selbst denken. Frammartino zeigt uns, was sich darin befinden könnte, wenn man immer tiefer schaut. Leider hat auch dieser Film ein Ende.