Fluss des Glücks – Tara von Volker Sattel und Francesca Bertin

Links und rechts der SS106, nahe der apulischen Stadt Taranto liegt ein Ort, der, würde man ihn auf einer Karte suchen, wahrscheinlich nicht zu finden wäre. Unwissend, als Fremder, nimmt man im Vorbeifahren von seiner Existenz wohl kaum Notiz. Volker Sattels und Francesca Bertins Film Tara handelt von diesem Ort. Es ist der gleichnamige Fluss, der unter dem Schilf hinter Olivenbäumen entspringt und wenig später ins Mittelmeer mündet. Aber wie bei einem mäandernden Flussdelta lässt sich nur schwer sagen, wo hier etwas anfängt und wieder aufhört. Sich topografisch an diesen Ort anzunähern, kann nur scheitern, denn seine Ausdehnung geht weit darüber hinaus. Das weiß auch die Kamera. Das Bild heftet sich an jene Menschen, die den Ort beleben. Der Film schwimmt mit ihnen, taucht hinab und zieht immer größere Kreise.

Was zunächst als idyllisches Kleinod entdeckt wird, zeigt sich zunehmend fragil. In Sichtweite befindet sich das ILVA-Stahlwerk, das im Verdacht steht, die umliegende Natur zu belasten. Umwelttechniker nehmen Proben am Gewässer. Der Film lässt sich von den Menschen und ihren Erzählungen mittragen. In dieser Weise ist er dem Verlauf des Flusses nicht unähnlich. Je mehr man sich allmählich von der mythischen Quelle entfernt, umso klarer, aber auch komplexer wird die Umgebung: Einerseits ist das Stahlwerk wichtigster Arbeitgeber der Region, andererseits ergreift es an der Umwelt durch aufgeschüttete Halden immer mehr Besitz. Der Film interessiert sich weniger an der veränderten Landschaft, als an den Menschen, die mit ihr leben. So folgt die Kamera keinem klaren Ziel oder Anliegen, sondern bewegt sich mit jeder Begegnung ein Stück weiter und passt sich der Umgebung an.

Am Ende kehrt der Film wieder an seinen Ausgangspunkt zurück. Der Mythos des Flusses Tara, den die Menschen dort hüten, als handele es sich um eine heilige Stätte, wo offenkundig Wunder geschehen sind, hat etwas von seinem schillernden Reiz eingebüßt. Stattdessen könnte man nun glauben, das beharrlich Mythische soll hier der Veränderung der Natur entgegengestellt werden, auch wenn es letztlich vergeblich bleibt. Tara, landläufig auch »Fluss des Glücks« genannt, ist das kleine Paradies einer Handvoll Glückseliger – mehr nicht. Aber wie viele wird es wohl davon geben? Zwangsläufig kommt man in Verlegenheit, etwas von dem, was hier sichtbar wird, auch im Kino zu suchen. Immer da, wo der Film sich realistisch wähnt, verwandelt er wenig später ins Poetische: Seetang im gebrochenen Sonnenlicht. Heranwachsende, die nicht ganz wissen, wohin mit sich. Ein Esel.

Den Dingen einen Namen zu geben, wie diesem unscheinbaren Fluss, lässt vielleicht verstehen, dass die Mythen nicht nur von den Menschen ersonnen werden, sondern auch zu ihnen gehören. Manchmal wird das im Kino vergessen. Weder Moderne noch Deindustrialisierung können darüber hinwegtäuschen.

Alles nur Geschwätz: I Basilischi von Lina Wertmüller

Schleichend bewegen sich die Bilder in Lina Wertmüllers Erstlingswerk I Basilischi. Immer und immer wieder verfolgt die Kamera den trägen Gang der drei männlichen Protagonisten Antonio (Antonio Petruzzi), Francesco (Stefano Satta Flores) und Sergio (Sergio Ferranino) durch die engen, labyrinthartigen Gassen des Dorfes, in dem diese aufgewachsen sind. An jeder Ecke lungern Männer, die es ihnen gleichtun. Weder haben sie Arbeit noch Aussicht auf eine. So vergehen die Tage, die sich offenbar durch nichts unterscheiden. Sie fließen ineinander über. Was in einem Moment noch hoffnungsvoll erscheint, entschwindet sogleich. Nichts lässt sich festhalten, alles zieht vorbei. Als stünden sie am Ufer eines Flusses, in dem eine Flaschenpost treibt, sehen die Menschen in diesem Film der Welt, von der sie abgeschieden leben, hinterher. Nur eine einzige Straße schlängelt sich ihren Weg auf den Berg, wo die verschlafene Ortschaft liegt. Sie führt direkt ins Zentrum, vor eine Bar. Einen Platz, wie es ihn wohl überall gibt, an dem sich die Unsäglichkeit des alltäglichen Trotts für kurze Zeit zerstreut. Vor allem dort ist das Unausgesprochene zu hören, wofür der Film am Ende trotzdem Worte findet: Alles sei nur Geschwätz.

Nicht gerade zufällig taucht an diesem Platz in der Mitte des Films auf einmal eine Kamera in den Händen einer fremden Frau – Luciana (Flora Carabella) – auf. In Begleitung von Antonios Tante aus Rom gelangt sie an diesen Ort. Sie spricht von der vergangenen Geschichte eines Aufstandes revolutionärer Arbeiter in diesem Dorf, von denen sie in einem Buch las. Mit ihrer Kamera hält sie Eindrücke fest, aber wenige Augenblicke später ist sie wieder verschwunden. Können ihre Bilder vom Geschwätz dieses Ortes viel erzählen? Vor ihrem Objektiv spielt sich auf dem Platz und in den Gassen eine Versammlung ab: Die Kommunistische Partei versucht eine Genossenschaft zu gründen, mit dem Ziel, durch vergesellschaftetes Land Arbeitsplätze in der Landwirtschaft zu schaffen. Während sich einige Männer am Rand der Demonstration stattdessen die starke Hand des faschistischen Staates zurückwünschen, weichen andere den Fragen hinsichtlich der Probleme aus, obwohl sie direkt von jenen betroffen sind. Über Politik soll nicht gesprochen werden. Für die ahnungslose Verstocktheit der Menschen hat Luciana nur ein müdes, verächtliches Lächeln übrig. Antonio wird seiner Tante und der Hoffnung auf ein besseres Leben nach Rom folgen, um dann doch zurückzukehren.

Auch wenn dieses merkwürdige Zwischenspiel nur von kurzer Dauer in diesem Film ist, stellt es doch vieles infrage. Was innerhalb des Dorfes so lang als real erschien, wird durch den Blick von Lucianas Kamera auf eine seltsame lakonische Weise fiktional. Man denkt, es könnte ebenso der Blick von Lina Wertmüller selbst sein. Als bloßes Bild zwischen den alten Mauern mag das Geschwätz seine anschauliche Selbstverständlichkeit behalten. Aber hört man einen Moment länger zu oder lässt eine Einstellung länger stehen, tritt das große Vielleicht hinter den Worten hervor: Vielleicht könnte auch alles anders sein. Der Film unterscheidet sich dabei manchmal kaum von dem, was tagtäglich um uns herum gesprochen wird. Hinter der Belanglosigkeit der gesprochenen Wörter wird begreifbar, warum diese Leute reden, was sie reden.

Zurzeit stelle ich mir immer wieder die Frage, was es bedeutet über seine gesehenen Filme pedantisch und öffentlich Buch zu führen, wie etwa auf Letterboxd. Einerseits dient es der eigenen Erinnerung, andererseits bietet es auch einen Anlass für Diskussionen mit anderen. Oft scheint hinter der Selbstverständlichkeit dieses Umgangs ebenso ein großes Vielleicht zu liegen, das von einem instrumentellen Verhältnis überschattet wird. Vielleicht sind die Filme doch nicht so unmittelbar Teil des eigenen Lebens, wie man es sich gern wünscht. Und vielleicht bleibt deshalb auch die Suche nach dem Außergewöhnlichen in ihnen, das man wahrscheinlich nur selbst erkennen kann, viel zu oft unerreicht. In Diskussionen fehlen mir meist die Worte und höre lieber zu. Dabei fällt mir auf, dass dieses Gerede über den Film gewissermaßen zu dessen zweiter Haut wird. Jeder Satz ist zwar von sich aus verschieden, aber zusammen ergeben sie trotzdem ein gemeinsames Bild. Es gehört einfach dazu über Filme zu sprechen, aber mehr auch nicht?

Als Antonio sein Dorf verließ, sehnte er sich nicht nur nach einer sicheren Anstellung, sondern ebenso nach einem aufregenderem Leben. Allerdings suchte er nach etwas, das ihn nicht zufriedenstellen konnte. Stattdessen zog es ihn wieder zurück an den Ort, von dem er floh. Einen Grund dafür kann er nicht liefern, weil er ihn vielleicht auch selbst nicht kennt. Er kann nur Geschichten von einem Leben erzählen, das er sich erträumt zu leben. Obwohl die Bewohner des Dorfes reden, als würden sie ihren eigenen Worten keinen Glauben schenken, verstehen sie dennoch sehr gut, was die Menschen um sie herum meinen. Denn schließlich reden alle vom selben, nur in unterschiedlichen Sprachen, Antonio in der des Träumens. So klar die Bildsprache des Films scheint, rationalisiert sie nie ihre Sicht auf die Probleme der Menschen. Es gelingt dem Film, sich nicht von der allgemeinen Resignation vereinnahmen zu lassen, er sucht immer wieder nach Auswegen.

Notizen zu Il Buco

Nach über zehn Jahren stellt Michelangelo Frammartino einen neuen Langfilm vor. Er schimmert mit einer schnörkellosen Klarheit, als wäre der Film aus der Hand eines Kartografen geschaffen. Doch je tiefer man sich in ihn begibt, umso deutlicher wird ein Widerspruch erkennbar, worin sich der Film für einen Moment über sich selbst bewusstwird – ganz ohne Worte. Man gelangt zu einem besonderen Ort, an dem man sich schon die ganze Zeit befindet: dem Kino. Zwar suchen viele Filme nach diesem Ort, selten aber erscheint er so selbstverständlich wie in Il Buco. Das vermeintlich Natürliche dieses Films trägt jenen schönen Schein, wofür man glaubt keine Worte finden zu können, nur mit den eigenen Augen ließe sich das begreifen. Vielleicht sollte man denen aber nicht immer trauen.

Frammartino taucht gemeinsam mit einer Höhlenexpedition in den 1960er Jahren hinab in die Dunkelheit des Abisso del Bifurto Kalabriens, eine der tiefsten, bekannten Höhlen der Erde. Der Film zeigt zwei Welten, die kaum verschiedener sein könnten: Einerseits die Arbeiten am nicht enden wollenden Abgrund, andererseits das bäuerliche Leben der Menschen außerhalb davon. Ein Stück brennendes Papier fällt ins Loch. Die tropfenden Wände glitzern, als würde sie zum ersten Mal ein Lichtstrahl berühren. Während die Männer und Frauen immer weiter ins Dunkle vorstoßen, vergeht fern ab Tag auf Tag und Nacht auf Nacht. Ein betagter Hirte, der vielleicht sein ganzes Leben dort verbrachte, beobachtet das Treiben aus der Distanz. Eines Tages kehrt er vom alltäglichen Weg mit seinem Esel nicht mehr zurück. Man findet ihn regungslos aber lebendig. Sein Zustand verschlechtert sich zunehmend. In gleicher Weise wie sein Leben das Ende erreicht, trifft auch die Expedition auf den Fuß der Höhle. Nachdem die letzten Meter vermessen, kartografiert und die Zelte abgebaut wurden, verschwindet die Gruppe nahezu spurlos. Unbeeindruckt bleibt eine Landschaft zurück, die sich wieder in Wolken hüllt. Auch wenn sich beide Welten nie tatsächlich berührten, schienen sie sich doch für einen Moment zu parallelisieren.

Die Kuriosität dieses Films liegt womöglich darin, dass er mit seinen Bildern einen Prozess beschreibt, der durch sich und seine Antagonismen, den Ort des Kinos selbst erfahren lässt. Ein Ort, der sich vom Außen abkapselt und trotzdem von nichts anderem spricht. Ein Ort, der sich trotz aller Natürlichkeit, im Dunkeln seiner Künstlichkeit bewusst wird. Seine Inszenierung arbeitet dabei mit einer Unmissverständlichkeit, der selbstverliebte Bilder oder überfrachtende Toncollagen fremd sind. In diesem Film scheint etwas sichtbar zu werden, das nicht an einem Fernseher oder einem Laptop, sondern nur im Kino wirklich begriffen, und durch erklärende Worte nur verdoppelt werden kann. Es scheint, als ginge der Film den Weg aus Platons Höhle wieder zurück. Wurde dort etwas vergessen?

Wenn der Arzt dem sterbenden Mann mit einer Taschenlampe in seine Augen leuchtet, um eine Reaktion festzustellen, dann trifft der Schein des Lichts ins Dunkle der Höhle und nicht zuletzt auch auf uns. Der überaus menschliche Aberwitz einer solchen Unternehmung, wie eine Höhlenexpedition, treibt sich wie im Rausch – selbstvergessen und zweckfrei – von selbst an. Eigentlich gibt es dort nichts zu suchen, was nicht zu erwarten wäre. Aber wer kann das wissen, solang niemand dort war. Einzig und allein ist vielleicht das Ende einer Höhle unvorstellbar. Die einschließende Form der Höhle, deren verborgene Winkel penibel ausgeforscht werden, lässt so in jedem Augenblick auch an die Form des Films selbst denken. Frammartino zeigt uns, was sich darin befinden könnte, wenn man immer tiefer schaut. Leider hat auch dieser Film ein Ende.