Friaulische Kassiber: Durch Wolken gehen

In Clauzetto, auf dem balcone del Friuli, steckt eine Wolke. Sie steckt fest. Ihr schwerer weißgrauer Bauch kommt nicht über die Hänge und fällt auch nicht ins Tal. Langsam anschwellend verharrt dieses undurchdringliche Gemisch aus Wassertropfen zwischen Karstfelsen und der sich in den zähen Wolkenfängen verheddernden Sonne. Wer hinauf zum Monte Pala wandert, durchlebt die Gezeiten einer Wolke. Ich schreibe dir davon. Es ist eine Anleitung, um zu schweben. Oder eine verblassende Nachricht von der Rückseite des Himmels.

a: Am Anfang blickt man sie über sich und erkennt graue und weiße Schwaden, zu massig, um als Schleier durchzugehen, zu verhüllend, um Unterscheidungen treffen zu können. Diese Wolke verfärbt die unter ihr liegende Landschaft in graue Dumpfheit.

b: Etwas höher erkannt man den Beginn der Wolkenschicht, den Übergang von Luft zu Wasserluft, von Klarheit zu Trübsal. Man sieht feinste Schlieren, die wie unzählige Finger aus dem gräulichen Dickicht nach unten greifen, um sich jeden Tropfen aus der Atmosphäre einzuverleiben, seien es Tränen, Speichel oder Schweiß. Hier spürt man einen Regen, der in der Luft zu stehen scheint.

c: Dann geht man hindurch, man geht durch, man wechselt von einem Zustand in den nächsten, man verlässt die Welt der Eindrücke und landet in einer sichtlosen Stille. Sofort entfernen sich die Geräusche, kaum ein Vogel wagt sich ins Innere der Wolke und selbst das an den Ästen auftauende Laub raschelt nicht mehr. Das Wolkenscharnier ist hier, die Schwelle zwischen dem Gehen und dem Schweben.

d: Weiter oben, im Kern der Wolkennässe fällt Schnee statt Regen. Aber es ist nicht nur das. Die Flocken fallen jetzt nicht mehr, sie steigen und stehen und wirbeln und fallen und fliegen zugleich. Die Nässe kommt nun richtungslos. Es gibt überhaupt keine Richtung mehr, man dreht sich um ein sich verschiebendes Zentrum, blickt durch diffuses Licht, eigentlich ein Unlicht, das jederzeit droht in tausend Teile zu zerfallen. Man ist in einem Körper, der unablässig zerfällt und sich neu zusammensetzt, der droht sich zu verlieren, wenn er das, was er trägt, aufgibt.

e: Schließlich stößt man an die Wolkendecke. Hier ist es heller. Die Sonne klopft gegen eine zerberstende Wand aus Eiskristallen, die Aerosole tanzen in den warmen Strahlen, der Weg, dem man so blind folgte, wird wieder sichtbarer, man merkt jetzt, dass man ganz durchnässt ist, nicht wie sonst, sondern von Innen heraus, man ist selbst Nebel geworden. Man atmet Wasserdampf und schlüpft aus dem Grau in ein weltfremde Überlegenheit. Hier kreisen die Adler.

f: Jetzt ist man ein Wolkenflüchtiger. Man wischt sich die Nässe aus dem Gesicht und merkt, dass man etwas jünger wurde. Nicht viel, nur so viele Stunden, wie es dauert, bis der erste Tropfen fällt. Bis sich alles auflöst und von vorne beginnt.

Vergiss nicht deine Regenjacke.

Dein,
Patrick

Zwischen Trümmerrealismus und Restfleisch

Eine Wanderung vom italienischen Nachkriegsfilm zum Kannibalenzyklus

von Florian Weigl

Ein Text, der gescheitert ist. Weil ich zu gut geblufft habe und ungeguckt einen Text versprach, der versucht die Landschaften des italienischen Nachkriegskinos und des Kannibalenzyklus gegenüberzustellen. Nur gibt es bei letzterem keine Pluralität. Die Bilder der Landschaften in den Nachkriegsfilmen sind präzise und spannungsreich, sie kämpfen sich durch die politischen Visionen, die man für Italien hatte. Die Dschungelentwürfe der Kannibalenfilme gleichen sich hingegen an das gesellschaftliche Klima an. Was die Filme untereinander macht, beginnt und endet in der Wahl und Qualität der Perücken, die den indigenen Völkern aufgezogen werden. Das, was ich an Exploitation schätze – die Produktionswut, das blanke Totdrehen eines Sujets, bis sich ein neues eröffnet, die Performances und Eigenheiten, die durch die Gleichheit stoßen –, nutzt sich hier schnell ab.

Im Nachkriegskino steckt eine Nähe und Liebe zu dem Wenigen, was Italien nach dem Krieg bleibt. Der Kannibalenfilm verschwendet ganze Kontinente an seiner europäischen Arroganz. Was von diesem Text vor allem bleibt, ist die persönliche Annäherung an das Kino – skizzenhaft und von Film zu Film, Stadt zu Stadt und Dschungel zu Dschungel. Immer wandernd, immer suchend.

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Das, was das italienische Nachkriegskino der italienischen Linken vor allem schenkte, war die ideologische Gewissheit, gewonnen zu haben. Roberto Rossellinis Roma città aperta spielt vor allem in Innenräumen und auf Wandkarten. Die eine Karte arbeitet für ein freies Rom, die andere für die Dominanz der Herrenrasse. Was von der Stadt zu sehen bleibt, sind Ausschnitte, die Pier Paolo Pasolini später in Accattone ausformen wird: Die engen Gassen und Hinterhöfe, die Weite der Außenbezirke, die noch nicht vom Kern vereinnahmt wurden.

In Ladri di biciclette weicht Vittorio De Sica die Härte der Bildern auf, macht sie publikumswirksamer. Die Route Antonios (Lamberto Maggiorani) ist von Verzweiflung und Glück zugleich gezeichnet. Sie führt vom Tatort in der Via Francesco Crispi, zu den Märkten auf dem Piazza Vittorio und dem Piazza di Porta Portese. Die Spur führt weiter in die Kirche Santi Nereo e Achilleo und schließlich bis in die Via de Panico, in der Antonio den Dieb zwar stellen, aber nicht überführen kann und von den Bewohnern am Ende vertrieben wird. Auf der Karte ergibt die Route keinen Sinn. De Sica meidet bewusst die touristischen Gegenden (und Attraktionen). Rom bleibt dabei eng: Schmale vicoli, in denen Männer sich aneinanderdrängen und breite corsi, auf denen man fast von Autos erfasst wird. Wenn es wie in den Vororten oder am Stadtrand Platz gibt, wird gebaut. Die Stadt wächst nach dem Krieg in die Höhe, stapelt neue Wohnungen. Ganz gleich, ob die Menschen ihre Mieten nicht bezahlen können.

Dagegen blickt Rossellini in die Weite, er reist mit Paisà über das Land. Sizilien ist Stein, Lava und Wasser. Die Alliierten landen an der Küste, aber die Einwohner bleiben misstrauisch. Charaktere definieren sich durch ihre räumlichen und kulturellen Distanzen, was sich besonders an dem italoamerikanischen GI erkennen lässt. Die Mutter ist US-Amerikanerin, der Vater ist ein Sizilianer aus Gela, doch seine italienische Identität wird sofort angefochten. Ob Gela überhaupt existiert?, fragt einer der Einwohner. – „Gela!“, hört einer der Dorfälteren und springt ins Bild, „Ich bin ebenfalls aus Gela!“. Zu seiner Verteidigung benutzt der italoamerikanische GI fast unbewusst seine Hände, schiebt sie von unten ins Bild und drückt sie sanft aber stetig fordernd nach oben.

In der Neapel-Episode verhandeln Kinder über die Besitztümer und den Körper eines Schwarzen GIs, der als Kriegspolizist die Stadt patrouilliert. Es entwickelt sich zuerst ein Duett, das sich durch die zerbombte Stadt manövriert. Man streitet und zofft sich und findet schließlich auf dem Trümmerhaufen zusammen. Joe (Dots Johnson) spielt Mundharmonika und träumt von der Wall Street, die einmal ihm gehören wird. Pasquale (Alfonsino Bovino) will Schuhe verkaufen. Die Kamera berichtet mehr, als das sie zeigt. Gegen Ende des Tages erkundigt Joe sich nach den Eltern und das Kind wird still. Er bringt ihn zu einem Steinbruch in Mergellina, der zur Wohnung für alle Obdachlosen und Kriegswaisen geworden ist. Überwältigt und erschrocken von der Armut bricht er auf und lässt das Kind zurück.

Senza pietà! von Alberto Lattuada:Auch hier steht die Beziehung einer Italienerin mit einem Schwarzen GI (John Kitzmiller) im Fokus. Der GI ist flirty und interessiert – on a good time, Angela (Carla Del Poggio) gedanklich vor allem auf der Suche nach ihrem Bruder und gefangen in drohender Armut. Die Apartments sind überfüllte Zweckgemeinschaften. Man zankt und keift über die Pasta hinweg, aber alles locker und komödiantisch inszeniert. Außerhalb des Apartments wird der Film zum Noir. Die Besitzverhältnisse zeigen sich an der Garderobe. Der Gangster mit beschmutztem Geld aber weißem Anzug, Angela im immergleichen, schlichten Kleid. Menschen gehen unschuldig ins Gefängnis und brechen wieder aus. Das einzige glückliche Ende neben den anderen Enden ist hier ein karges Boot mit der Hoffnung auf Amerika. Der Strand ist genauso nackt und trostlos wie die Stadtruinen bei Rossellini.

Kitzmiller blieb nach seinem Militärdienst in Italien und wurde Teil der Filmindustrie. Er debütierte in Luigi Zampas Vivere in pace, einem Dorfpanoramafilm, realisiert kurz vor dem Ende des Krieges. Der Blick auf die Natur bleibt bewusst naiv. So soll sie gegenüber dem Faschismus den Bauern Zuflucht spenden. Am Ende des Films verstecken Sie sich in den Bergen und warten wie Schafe. Zampa eröffnet mit einem dynamischen Schwenk durch die einzige Straße des Dorfes: Schule neben Kirche neben Einkaufsladen. Alles ist miteinander verwoben und kein Gebäude liegt in Trümmern, wie es in den Stadtszenen von Paisà zu sehen ist. Der Schein des Sets trügt. Wie in Roma città aperta verhandelt Aldo Fabrizzi mit allem und jedem: Er beherbergt zwei GIs, eine Waise und einen Kriegsdienstverweigerer, er ist sowohl mit dem partisanennahen Arzt, dem kollaborierenden Bürgermeister und dem stationierten SS-Offizier verbandelt. Feindschaften sollen begraben und der Krieg für beendet erklärt werden.

Die wirtschaftliche und soziale Umstellung nach dem Krieg ist immer auch eine Systemfrage. In Francesco De Robertis La vita semplice kämpft in Venedig eine kleine, familiengeführte squero, eine Reparaturwerkstatt für Gondeln, um ihre Existenz. Sie wird von einem Vater-Sohn-Duo geführt, das einfach nicht arbeiten will. Lieber wollen sie das Leben in seiner Einfachheit genießen, indem sie aus den neu formierten kapitalistischen Strukturen aussteigen. Der Film setzt die Schnelligkeit der neuen Motorboote dem Schatten des Kirschbaums und dem Chorus der Wellensittichen entgegen. Wie Tag Gallagher so treffend festhält: “In America it was thought that reality determined ideas; in Italy it was obvious that ideas determined reality. Rhetoric and willpower can transform reality, said the Fascists and Gramsci too. Since the world exists only in our imagination, we can make of it anything we choose.”

Nördlich von Sizilien, genauer auf Stromboli scheitert diese Idee in Vittorio De Setas Isole di fuoco am kargen Leben. Die Möwen schweigen. Der Vulkan vergisst sich nicht, er schlummert nur und das, was lebt, lebt in seinem Schatten. Die Häuser sind schlicht und weiß. Zwei Kerben für Fenster, die etwas Licht hineinlassen. Nachts bändigt man das Feuer in Laternen. Die Männer fahren als Fischer zur See, die genauso unnachgiebig ist wie das Land. Sie arbeiten barfuß und mit hochgekrempelten Hosen. Es braucht bis zu zehn von ihnen, um eines ihrer Boote an Land zu ziehen.

Wieder Stromboli (Roberto Rossellini), aber “our story begins in the displaced persons camp of Farfa, Italy”. Stacheldrahtanträge und pragmatische Montage: Altar, Zug, Schiff, Stromboli. Bald Ingrid (Ingrid Bergman) verloren zwischen schlichten Häuserschluchten. Im Hintergrund hallt ein Kinderschluchzen, doch es wird nicht zur bekannten Dynamik zwischen Eltern und Kind kommen wie in Ladri di biciclette. Stattdessen küsst Bergman verdorrtes Gras und umgibt sich mit “little old men who speak of America all the time”. (Rossellini dirigierte die Männer, indem er einen Faden um ihre Zehen zog. Ihr Englisch war nicht existent und sie lernten ihre Sätze rein phonetisch, ohne deren Inhalt zu verstehen.) Schönheit stößt sich hier immer erstmal ab. Zwei Modi – Land und Star – die durch ihre Größe nur selten in das gleiche Bild passen und gegeneinander montiert werden.

Die Welt, die Vittorio De Setas zeigt, ist in sich verloren und wird doch in der Montage gefestigt. Viele seiner Filme zeigen Männer bei ihrer Arbeit. Die Methoden der Arbeit sind älter als jene, die sie praktizieren, der Ertrag bleibt jedoch gering. In Lu tempu di li pisci spata geht es um die Jagd. Sie benötigt sechs Männer, dauert Stunden und bringt dabei vielleicht einen Fisch. Durch De Setas Augen und Hände wird sie pure, ekstatische Bewegung. Dagegen ist die Mattanza in Stromboli eine mechanisch-industrialisierte Tötungsmontage. Hier zeigt sich die Zukunft, Bergmans vor Grauen verzogenes Gesicht als gewollter Nebeneffekt.

Andernorts verhärten sich die Fronten. In Riso amaro und Non c’è pace tra gli ulivi dramatisiert Giuseppe De Santis seine Landschaftsbilder. In der Anfangssequenz von Non c’è pace tra gli ulivi erhebt sich die Kamera in einem nahezu vollständigen Panoramaschwenk über die Berge Ciociarias, während De Santis die Geschichte der Landschaft auf Phrasen verknappt. Harte Jahre, harte Seelen. Hirten erheben sich wie Statuen, still und perfekt platziert. Alle tragen ciòcie, das traditionelle Schuhwerk der Region. Dann werden in Einzeleinstellungen die Figuren in einer Strenge und Stringenz inszeniert, die den Film als einen sozialistischen Rachefilm offenbaren. Politisch wie auch formal bekennt sich De Santis damit zum sowjetischen Kino.

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Als Benito Mussolini 1935 mit dem Plan, sein Africa Orientale Italiana auszuweiten, Äthiopien überfiel und unter Einsatz von Bomben und Senfgas annektierte, jubelte Italien. Als nach einem vereitelten Anschlag auf Rodolfo Graziani, die italienischen Streitkräfte als Vergeltung ein äthiopisches Kloster überfielen, in dem sie die Fadenzieher vermuteten, nicht vorfanden und stattdessen alle Mönche und Nonnen umbrachten, jubelte Italien. Als sich Vittorio Emanuele III di Savoia nun ebenfalls „König von Äthiopien“ nannte, was nur von Deutschland und Japan anerkannt wurde, jubelte Italien erneut.

Der Krieg kostete und Italien bezahlte mit Chauvinismus und leeren Mägen. Nachdem Italien Äthiopien eingenommen hatte, ließ Mussolini das Land allerdings nicht ausbluten. Er versuchte, italienische Bauern in Äthiopien anzusiedeln, aber die meisten Emigranten gingen wegen des besseren Bodens nach Eritrea und Somalia. Dennoch wurde investiert: Italien baute Straßen, weitere Zugverbindungen und Flughäfen mit einer eigenen Fluglinie. Dazu kamen Telefonmasten, Krankenhäuser und Schulen. Es war ein Kolonialismus, der sich durch die Kultur definierte, der mit einem gewissen utopischen Trotz Italien und dessen Geschichte in Ostafrika fortschreiben wollte. Dann kam der Zweite Weltkrieg.

1979, Kolumbien an der Grenze zu Brasilien: Das Grün des Regenwalds ist stark und weitflächig, durchbrochen von braunen Flussbetten. Durch das Wasser ziehen sich die Spiegelungen der Wolken. Das Bild ist unruhig, denn die Kamera filmt aus einem Helikopter, der niemals landen wird. Der Lärm der Maschine wird überspielt von Riz Ortolanis sanftmütigem Flautando der Streicher. Das Bild zeigt den Titel des Films: Cannibal Holocaust (Ruggero Deodato). Wer den Helikopter verlässt, wird sterben. In Ultimo mondo cannibale, dem Vorgänger, den Deodato auf Mindanao in den Philippinen drehte, bleibt das Flugzeug als Fremdkörper im Bild, hier ist der Blick auf die Landschaft unverstellt, als blicke man selbst hinaus.

Ende der 1970er, Anfang der 1980er-Jahre wurde der italienische Genrefilm vom Kannibalenfilm dominiert. Die Ausgangslage war immer dieselbe: Eine Reise – von Europa nach New York nach Südamerika – und in kleinerer Besetzung zurück. An Bord immer Journalisten, Wissenschaftler oder Drogendealer. Die Struktur der Filme variiert kaum: Man geht in den Dschungel, man stirbt.

So wie das Flugzeug und der dadurch entstehende Blick ist ebenso die Gewalt durch Tiere und jene gegen sie ein elementarer Teil der filmischen Sprache. Man sieht wie vor der Kamera Schildkröten, Alligatoren, Affen und anderes zerstückelt, gebraten oder roh gegessen werden. Die Gesichter der Abenteurer blicken in die Leere des Dschungels und versuchen vergeblich ein Gefühl zum Ausdruck zu bringen, während vermeintlich dokumentarische Todesszenen zwischen ihre Blicke montiert werden.

Ich erinnere mich an die Anakondas. In Sergio Martinos La montagna del dio cannibale sieht man wie eine Anakonda einem Kapuzineräffchen langsam in den Schädel beißt, um es dann zu verschlingen. Lenzi wiederholt dasselbe Szenario in Cannibal Ferox mit einer Bisamratte. Diese wird angebunden, sodass sie keine Möglichkeit zur Flucht besitzt. Als sie von der Anakonda gefasst wird, kreischt sie, ehe auch ihr langsam das Leben ausgequetscht wird. Cut zu Giovanni Lombardo, der sich an der Grausamkeit aufgeilt, während Zora Kerova sich entsetzt abwendet. Unterdessen zoomt die Kamera auf die Augen des sterbenden Tiers und es lässt unweigerlich staunen, ein Lebewesen beim Todeskampf zu beobachten. Das Tier wird sich seiner eigenen Sterblichkeit bewusst.

Der Dschungel ist sowohl Gegenspieler als auch unreflektiertes Exotikum. “In there the more that you carry, the quicker you get tired, the sooner you die.” In Ultimo mondo cannibale sieht Massimo Foschi seinen Begleiter vermeintlich ertrinken, ehe er sich in blanker Angst zum Dschungel wendet, während auf der Tonspur die vertrauten Laute von Affen, Vögeln und allem, das kreischt, ertönen. Das Einzige, was noch mehr Angst macht, ist die Abwesenheit dieser Tiergeräusche.

Schon in der Anfangssequenz von Umberto Lenzis Mangiati vivi! Zeigt sich die interkontinentale Spannung: Der Übergang zwischen Zivilisation und Dschungel ist in diesem Genre immer nur einen Schnitt entfernt. In Mangiati vivi! wird diese oft linear verlaufende Beziehung – man begibt sich von der Zivilisation in den Dschungel – zum ersten Mal rückgekoppelt. Ein indigener Auftragsmörder streift durch Kanada und New York und tötet ausgewählte Zivilisten mit einem Giftpfeil. Er wird mit der verschwundenen Schwester der Protagonistin verknüpft, die sich einer südamerikanischen Purification-Sekte (“a real bunch of crazies”) angeschlossen hatte, ehe sie verschwand. Man begibt sich auf die Suche nach ihr und stößt auf Ivan Rassimov, der sich wie Colonel Kurtz aus Apocalypse Now seine eigene Sekte aufbaut.

Es scheint fast so, als würden die Filme abseits von Italien mit sich selbst fremdeln. Der Blick auf die Landschaft ist und bleibt bewusst touristisch. Er verknappt, banalisiert und zeigt wenig Interesse an dem, was ihn verkomplizieren könnte. Obwohl der neorealistische Nachkriegsfilm sich vor allem durch die Gleichheit seine Trümmerbilder in Szene setzt, behält jede Stadt einen eigenen Charakter. Jedoch bleibt es kaum rational fassbar. Florenz fühlt sich wie Florenz an, Venedig wird immer seine Kanäle behalten. Vielleicht sind es auch nur die Menschen, für die sich der Nachkriegsfilm mehr interessiert, während sie bei den Kannibalenfilm zu Material werden, das sexualisiert, exotisiert, zerhackt und zerfleischt werden kann.

P.S.

Peter Schreiner war ein ruhiger Mann. Man könnte fast sagen, er war still. In Gesprächen mit ihm fiel mir vor allem die Sanftheit seiner Stimme auf. Er war ein sensibler, empfindlicher und empfindsamer Mensch. Ungerechtigkeiten und Missstände, die wir oft nur als “Nachrichten” wahrnehmen, schmerzten ihn zutiefst. 

Kein Wunder, dass ein solcher Mann, auch sensible Filme gemacht hat. Der Versuch, sie zu beschreiben erscheint den Filmen gegenüber ungenügend. Als ob sie an den falschen Worten zerbrechen könnten. Es sind keine Filme der Worte, wenn auch in manchen seiner Filme einiges gesprochen wird. In seinem Film Garten beispielsweise berichten die Figuren von vergangenen Verletzungen. Oftmals sind ihre Worte nicht synchron zum Bild, sondern wir hören sie in einer Art Voice-Over. Währenddessen tauchen sich die Bilder des Filmes in Dunkelheit, sie bewegen sich durch einen fast abstrakten Raum aus Blättern, Gesichtern und Nacht.

Diese Bilder (und Töne) sind oft ganz groß, obwohl sie nie bombastisch oder grandios sind. Dass sie einen dennoch bewegen, zeigt die Feinfühligkeit der Filme. Eine kleine Geste, die kleinste Bewegung der Kamera oder der Personen und Gegenstände im Bild, ein sanfter Ton: sie bekommen Raum in den Filmen von Peter Schreiner. Ihnen wird geduldig Zeit gegeben, sich zu entfalten. In Schreiners Filmen, dürfen Bilder erst einmal für sich selbst stehen. Sie werden nicht sofort nach ihrem Informationsgehalt oder ihrer narrativen Wirkung gewertet und hinterfragt. Unsere Aufmerksamkeit verdienen sie einfach durch sich selbst. 

Vor allem in seinen frühen Filmen steht jede Einstellung für sich. Die Filme befinden sich im Hier und Jetzt. Es fühlt sich fast so an, als ob Schreiner die Filme ebenfalls von Sekunde zu Sekunde entdeckt, sowie auch wir es tun, wenn wir die Filme sehen. Manchmal drohen sie dabei fast zu zerfallen: Ist die Summe größer als die einzelnen Teile? Das ist nicht immer ganz klar. Doch es liegt eine große Schönheit darin, sich mit Offenheit auf das einzulassen, was Schreiner mit seiner Kamera entdeckt hat. Wie in den Filmen der Lumières, oder Peter Huttons könnten seine Filme nach fast jedem Bild enden. Doch man sitzt und hofft, dass es noch ein weiteres Bild geben wird. Es ist eine Form von Aufmerksamkeit, die für das Kino gedacht ist.

Peter Schreiner war immer auf der Suche danach, mit seiner Kamera wirklich etwas zu sehen. Das ist vielleicht auch der Grund, warum er sie wiederholt auf dieselben Gesichter richtete: um sie wirklich zu sehen. 

Die Filme von Peter Schreiner, das sind auch Filme voller Leben. Er hat das Leben und die Welt gefilmt. Manchmal war er selbst Teil dieser gefilmten Welt, manchmal waren es andere Menschen. Öfters filmte er nicht nur das Leben sondern sein Leben. Das heißt nicht unbedingt, dass die Filme autobiographisch oder dokumentarisch sind (obwohl sie meist so bezeichnet werden in Texten und Festivalkatalogen). Die Intimität vieler seiner Filme hat sie nie einfach nur privat (im Sinne von home movies) gemacht. Wenn er die Gesichter derer gefilmt hat, die er geliebt und geschätzt hat und die ihn fasziniert haben, dann war da immer eine Begegnung mit der Welt und dem/der/den Anderen

Seine Filme waren bevölkert von den Menschen, den Orten und den Begebenheiten seines Lebens. Als Peter Schreiner die Liebe suchte, taten das seine Filme auch. Nachdem er seine Frau Maria kennenlernte, strahlen seine Filme in jedem Moment, in dem sie auftaucht, vor Freude. Als Peter Schreiner Italien für sich entdeckte und erkundete, tat er das auch mit der Kamera. Und so wurde das Land immer präsenter in seinen Filmen. Nachdem er an Krebs erkrankte, richtete er die Kamera wieder auf sich selbst und zeigte das Leben mit und trotz der Krankheit.

Film und Leben gingen für ihn immer Hand in Hand. Das Eine erfüllte und durchflutete das Andere. Wenn man sich das vor Augen führt, kann man wohl erst begreifen wie groß seine Enttäuschung gewesen sein muss, als Blaue Ferne kaum Aufmerksamkeit erfuhr. Schreiner zog sich aus dem Kino zurück und machte 10 Jahre lang keinen Film mehr. Und doch kehrte er zurück. 

Filme gut zu machen war ihm wichtiger als “gute Filme” zu machen. Es ging ihm darum, ein gutes Leben zu führen. In diesem Leben spielte die Filmkamera eine Rolle. Sie legte Zeugenschaft über das gut geführte Leben ab. Sie war nicht wichtiger als das Leben. Das Filmen stand nicht über dem Leben, sondern war Teil davon. Peter Schreiner erzählte gerne, wie er zum ersten Mal seinen Sohn filmte. Er sprach von der Angst, die er verspürte, als er dieses große mechanische Gerät über diesem kleinen Säugling aufbaute. Die Angst davor, dass die Kamera umfallen und den Jungen verletzen könnte. Doch es geschah nichts dergleichen, denn Peter Schreiner filmte seinen Sohn mit großer Vorsicht, sowie er alles in seinem Leben filmte: Familie, Freunde, Wüsten, Bäume, Wasser, Wind, Küsse, Schmerzen,  Kinder, Liebe, Krankheit,… 

Er hat gefilmt, solange er dazu imstande war. Für seinen letzten Film Tage war es ihm nicht mehr möglich, komplexe Kamerafahrten oder -bewegungen auszuführen. Das Bewegen des Stativs und das Einrichten eines Bildes kosteten ihm viel Kraft. Aber er tat es trotzdem, denn er hat das Filmen geliebt. 

Fluss des Glücks – Tara von Volker Sattel und Francesca Bertin

Links und rechts der SS106, nahe der apulischen Stadt Taranto liegt ein Ort, der, würde man ihn auf einer Karte suchen, wahrscheinlich nicht zu finden wäre. Unwissend, als Fremder, nimmt man im Vorbeifahren von seiner Existenz wohl kaum Notiz. Volker Sattels und Francesca Bertins Film Tara handelt von diesem Ort. Es ist der gleichnamige Fluss, der unter dem Schilf hinter Olivenbäumen entspringt und wenig später ins Mittelmeer mündet. Aber wie bei einem mäandernden Flussdelta lässt sich nur schwer sagen, wo hier etwas anfängt und wieder aufhört. Sich topografisch an diesen Ort anzunähern, kann nur scheitern, denn seine Ausdehnung geht weit darüber hinaus. Das weiß auch die Kamera. Das Bild heftet sich an jene Menschen, die den Ort beleben. Der Film schwimmt mit ihnen, taucht hinab und zieht immer größere Kreise.

Was zunächst als idyllisches Kleinod entdeckt wird, zeigt sich zunehmend fragil. In Sichtweite befindet sich das ILVA-Stahlwerk, das im Verdacht steht, die umliegende Natur zu belasten. Umwelttechniker nehmen Proben am Gewässer. Der Film lässt sich von den Menschen und ihren Erzählungen mittragen. In dieser Weise ist er dem Verlauf des Flusses nicht unähnlich. Je mehr man sich allmählich von der mythischen Quelle entfernt, umso klarer, aber auch komplexer wird die Umgebung: Einerseits ist das Stahlwerk wichtigster Arbeitgeber der Region, andererseits ergreift es an der Umwelt durch aufgeschüttete Halden immer mehr Besitz. Der Film interessiert sich weniger an der veränderten Landschaft, als an den Menschen, die mit ihr leben. So folgt die Kamera keinem klaren Ziel oder Anliegen, sondern bewegt sich mit jeder Begegnung ein Stück weiter und passt sich der Umgebung an.

Am Ende kehrt der Film wieder an seinen Ausgangspunkt zurück. Der Mythos des Flusses Tara, den die Menschen dort hüten, als handele es sich um eine heilige Stätte, wo offenkundig Wunder geschehen sind, hat etwas von seinem schillernden Reiz eingebüßt. Stattdessen könnte man nun glauben, das beharrlich Mythische soll hier der Veränderung der Natur entgegengestellt werden, auch wenn es letztlich vergeblich bleibt. Tara, landläufig auch »Fluss des Glücks« genannt, ist das kleine Paradies einer Handvoll Glückseliger – mehr nicht. Aber wie viele wird es wohl davon geben? Zwangsläufig kommt man in Verlegenheit, etwas von dem, was hier sichtbar wird, auch im Kino zu suchen. Immer da, wo der Film sich realistisch wähnt, verwandelt er wenig später ins Poetische: Seetang im gebrochenen Sonnenlicht. Heranwachsende, die nicht ganz wissen, wohin mit sich. Ein Esel.

Den Dingen einen Namen zu geben, wie diesem unscheinbaren Fluss, lässt vielleicht verstehen, dass die Mythen nicht nur von den Menschen ersonnen werden, sondern auch zu ihnen gehören. Manchmal wird das im Kino vergessen. Weder Moderne noch Deindustrialisierung können darüber hinwegtäuschen.

Alles nur Geschwätz: I Basilischi von Lina Wertmüller

Schleichend bewegen sich die Bilder in Lina Wertmüllers Erstlingswerk I Basilischi. Immer und immer wieder verfolgt die Kamera den trägen Gang der drei männlichen Protagonisten Antonio (Antonio Petruzzi), Francesco (Stefano Satta Flores) und Sergio (Sergio Ferranino) durch die engen, labyrinthartigen Gassen des Dorfes, in dem diese aufgewachsen sind. An jeder Ecke lungern Männer, die es ihnen gleichtun. Weder haben sie Arbeit noch Aussicht auf eine. So vergehen die Tage, die sich offenbar durch nichts unterscheiden. Sie fließen ineinander über. Was in einem Moment noch hoffnungsvoll erscheint, entschwindet sogleich. Nichts lässt sich festhalten, alles zieht vorbei. Als stünden sie am Ufer eines Flusses, in dem eine Flaschenpost treibt, sehen die Menschen in diesem Film der Welt, von der sie abgeschieden leben, hinterher. Nur eine einzige Straße schlängelt sich ihren Weg auf den Berg, wo die verschlafene Ortschaft liegt. Sie führt direkt ins Zentrum, vor eine Bar. Einen Platz, wie es ihn wohl überall gibt, an dem sich die Unsäglichkeit des alltäglichen Trotts für kurze Zeit zerstreut. Vor allem dort ist das Unausgesprochene zu hören, wofür der Film am Ende trotzdem Worte findet: Alles sei nur Geschwätz.

Nicht gerade zufällig taucht an diesem Platz in der Mitte des Films auf einmal eine Kamera in den Händen einer fremden Frau – Luciana (Flora Carabella) – auf. In Begleitung von Antonios Tante aus Rom gelangt sie an diesen Ort. Sie spricht von der vergangenen Geschichte eines Aufstandes revolutionärer Arbeiter in diesem Dorf, von denen sie in einem Buch las. Mit ihrer Kamera hält sie Eindrücke fest, aber wenige Augenblicke später ist sie wieder verschwunden. Können ihre Bilder vom Geschwätz dieses Ortes viel erzählen? Vor ihrem Objektiv spielt sich auf dem Platz und in den Gassen eine Versammlung ab: Die Kommunistische Partei versucht eine Genossenschaft zu gründen, mit dem Ziel, durch vergesellschaftetes Land Arbeitsplätze in der Landwirtschaft zu schaffen. Während sich einige Männer am Rand der Demonstration stattdessen die starke Hand des faschistischen Staates zurückwünschen, weichen andere den Fragen hinsichtlich der Probleme aus, obwohl sie direkt von jenen betroffen sind. Über Politik soll nicht gesprochen werden. Für die ahnungslose Verstocktheit der Menschen hat Luciana nur ein müdes, verächtliches Lächeln übrig. Antonio wird seiner Tante und der Hoffnung auf ein besseres Leben nach Rom folgen, um dann doch zurückzukehren.

Auch wenn dieses merkwürdige Zwischenspiel nur von kurzer Dauer in diesem Film ist, stellt es doch vieles infrage. Was innerhalb des Dorfes so lang als real erschien, wird durch den Blick von Lucianas Kamera auf eine seltsame lakonische Weise fiktional. Man denkt, es könnte ebenso der Blick von Lina Wertmüller selbst sein. Als bloßes Bild zwischen den alten Mauern mag das Geschwätz seine anschauliche Selbstverständlichkeit behalten. Aber hört man einen Moment länger zu oder lässt eine Einstellung länger stehen, tritt das große Vielleicht hinter den Worten hervor: Vielleicht könnte auch alles anders sein. Der Film unterscheidet sich dabei manchmal kaum von dem, was tagtäglich um uns herum gesprochen wird. Hinter der Belanglosigkeit der gesprochenen Wörter wird begreifbar, warum diese Leute reden, was sie reden.

Zurzeit stelle ich mir immer wieder die Frage, was es bedeutet über seine gesehenen Filme pedantisch und öffentlich Buch zu führen, wie etwa auf Letterboxd. Einerseits dient es der eigenen Erinnerung, andererseits bietet es auch einen Anlass für Diskussionen mit anderen. Oft scheint hinter der Selbstverständlichkeit dieses Umgangs ebenso ein großes Vielleicht zu liegen, das von einem instrumentellen Verhältnis überschattet wird. Vielleicht sind die Filme doch nicht so unmittelbar Teil des eigenen Lebens, wie man es sich gern wünscht. Und vielleicht bleibt deshalb auch die Suche nach dem Außergewöhnlichen in ihnen, das man wahrscheinlich nur selbst erkennen kann, viel zu oft unerreicht. In Diskussionen fehlen mir meist die Worte und höre lieber zu. Dabei fällt mir auf, dass dieses Gerede über den Film gewissermaßen zu dessen zweiter Haut wird. Jeder Satz ist zwar von sich aus verschieden, aber zusammen ergeben sie trotzdem ein gemeinsames Bild. Es gehört einfach dazu über Filme zu sprechen, aber mehr auch nicht?

Als Antonio sein Dorf verließ, sehnte er sich nicht nur nach einer sicheren Anstellung, sondern ebenso nach einem aufregenderem Leben. Allerdings suchte er nach etwas, das ihn nicht zufriedenstellen konnte. Stattdessen zog es ihn wieder zurück an den Ort, von dem er floh. Einen Grund dafür kann er nicht liefern, weil er ihn vielleicht auch selbst nicht kennt. Er kann nur Geschichten von einem Leben erzählen, das er sich erträumt zu leben. Obwohl die Bewohner des Dorfes reden, als würden sie ihren eigenen Worten keinen Glauben schenken, verstehen sie dennoch sehr gut, was die Menschen um sie herum meinen. Denn schließlich reden alle vom selben, nur in unterschiedlichen Sprachen, Antonio in der des Träumens. So klar die Bildsprache des Films scheint, rationalisiert sie nie ihre Sicht auf die Probleme der Menschen. Es gelingt dem Film, sich nicht von der allgemeinen Resignation vereinnahmen zu lassen, er sucht immer wieder nach Auswegen.

Notizen zu Il Buco

Nach über zehn Jahren stellt Michelangelo Frammartino einen neuen Langfilm vor. Er schimmert mit einer schnörkellosen Klarheit, als wäre der Film aus der Hand eines Kartografen geschaffen. Doch je tiefer man sich in ihn begibt, umso deutlicher wird ein Widerspruch erkennbar, worin sich der Film für einen Moment über sich selbst bewusstwird – ganz ohne Worte. Man gelangt zu einem besonderen Ort, an dem man sich schon die ganze Zeit befindet: dem Kino. Zwar suchen viele Filme nach diesem Ort, selten aber erscheint er so selbstverständlich wie in Il Buco. Das vermeintlich Natürliche dieses Films trägt jenen schönen Schein, wofür man glaubt keine Worte finden zu können, nur mit den eigenen Augen ließe sich das begreifen. Vielleicht sollte man denen aber nicht immer trauen.

Frammartino taucht gemeinsam mit einer Höhlenexpedition in den 1960er Jahren hinab in die Dunkelheit des Abisso del Bifurto Kalabriens, eine der tiefsten, bekannten Höhlen der Erde. Der Film zeigt zwei Welten, die kaum verschiedener sein könnten: Einerseits die Arbeiten am nicht enden wollenden Abgrund, andererseits das bäuerliche Leben der Menschen außerhalb davon. Ein Stück brennendes Papier fällt ins Loch. Die tropfenden Wände glitzern, als würde sie zum ersten Mal ein Lichtstrahl berühren. Während die Männer und Frauen immer weiter ins Dunkle vorstoßen, vergeht fern ab Tag auf Tag und Nacht auf Nacht. Ein betagter Hirte, der vielleicht sein ganzes Leben dort verbrachte, beobachtet das Treiben aus der Distanz. Eines Tages kehrt er vom alltäglichen Weg mit seinem Esel nicht mehr zurück. Man findet ihn regungslos aber lebendig. Sein Zustand verschlechtert sich zunehmend. In gleicher Weise wie sein Leben das Ende erreicht, trifft auch die Expedition auf den Fuß der Höhle. Nachdem die letzten Meter vermessen, kartografiert und die Zelte abgebaut wurden, verschwindet die Gruppe nahezu spurlos. Unbeeindruckt bleibt eine Landschaft zurück, die sich wieder in Wolken hüllt. Auch wenn sich beide Welten nie tatsächlich berührten, schienen sie sich doch für einen Moment zu parallelisieren.

Die Kuriosität dieses Films liegt womöglich darin, dass er mit seinen Bildern einen Prozess beschreibt, der durch sich und seine Antagonismen, den Ort des Kinos selbst erfahren lässt. Ein Ort, der sich vom Außen abkapselt und trotzdem von nichts anderem spricht. Ein Ort, der sich trotz aller Natürlichkeit, im Dunkeln seiner Künstlichkeit bewusst wird. Seine Inszenierung arbeitet dabei mit einer Unmissverständlichkeit, der selbstverliebte Bilder oder überfrachtende Toncollagen fremd sind. In diesem Film scheint etwas sichtbar zu werden, das nicht an einem Fernseher oder einem Laptop, sondern nur im Kino wirklich begriffen, und durch erklärende Worte nur verdoppelt werden kann. Es scheint, als ginge der Film den Weg aus Platons Höhle wieder zurück. Wurde dort etwas vergessen?

Wenn der Arzt dem sterbenden Mann mit einer Taschenlampe in seine Augen leuchtet, um eine Reaktion festzustellen, dann trifft der Schein des Lichts ins Dunkle der Höhle und nicht zuletzt auch auf uns. Der überaus menschliche Aberwitz einer solchen Unternehmung, wie eine Höhlenexpedition, treibt sich wie im Rausch – selbstvergessen und zweckfrei – von selbst an. Eigentlich gibt es dort nichts zu suchen, was nicht zu erwarten wäre. Aber wer kann das wissen, solang niemand dort war. Einzig und allein ist vielleicht das Ende einer Höhle unvorstellbar. Die einschließende Form der Höhle, deren verborgene Winkel penibel ausgeforscht werden, lässt so in jedem Augenblick auch an die Form des Films selbst denken. Frammartino zeigt uns, was sich darin befinden könnte, wenn man immer tiefer schaut. Leider hat auch dieser Film ein Ende.