Text: Eva Kirsch
„You wouldn’t know about this, you wouldn’t recognize.“ Wo einst ein Friedhof war, auf dem Thomas (Toivi) Blatts Verwandte begraben liegen, stehen jetzt nur noch einzelne Grabsteine. Einen Teil der Grabstätte hat sich ein Bauer für seinen Garten angeeignet und wo damals ein Gestapomann hunderte Menschen getötet hat, findet man heute bloß Müll und leere Wodkaflaschen. Toivi zeigt, was geblieben ist: von besagtem Friedhof, seinem alten Haus, dem Vernichtungslager in Bełżec, dem Vernichtungslager in Sobibór, seinem Versteck in einer Scheune. Omnipräsent ist dabei die Lücke, die Diskrepanz zwischen dem, was die Kamera aufzeichnet und den Erzählungen des Shoah-Überlebenden, der nach Kriegsende zuerst nach Israel und dann in die USA emigrierte. Da steht er, der dieses Vernichtungslager überlebt hat, plötzlich in Sobibór zwei portugiesischen Touristinnen gegenüber. Sie, die den Film Escape from Sobibor gesehen haben, und deshalb den Schauplatz besichtigen wollen, aber das, was der Film vermittelt, hier auf den ersten Blick weder sehen noch spüren können.
Peter Nestler dokumentiert präzise die wenigen Spuren, die von dem Erinnerten übrig geblieben sind und damit zwangsläufig ebenso und insbesondere das, was fehlt. Das Unbegreifliche, das heute nur schwer erinnerbar, geschweige denn nachvollziehbar werden kann. Vor seiner aufmerksamen Kamera entwickelt das Erzählen des Protagonisten eine dem Vergessen entgegenwirkende, performative Kraft, die die Geschehnisse an den Erinnerungsorten präsent werden lässt, gewissermaßen durch das Berichten eine Brücke von damals in die Gegenwart schlägt. Dabei geht es auch um das Erzählen als solches, um das in Erinnerung rufen, beharrlich weitersprechen, das Zeugschaft ablegen als an und in sich wertvollen, notwendigen Vorgang.
Geradlinig, mit einer präzise beobachtenden Kamera, pointierten Informationen im Off-Kommentar und handgeschriebenen Zwischentafeln folgt der Film Toivi Blatts Ausführungen. Dazwischen unerwarteterweise: der Psychoanalytiker Ludvig Igra. Er schaut unvermittelt in die Kamera und spricht direkt zum Publikum, analysiert die „human capacity to de-humanize our neighbor, our friend or someone who is close to us.” Ein Kommentar. Eine Intervention. Eine Erklärung? Warum werden diese Einschübe der beobachtenden, schnörkellosen Zeugschaft zur Seite gestellt, ihr entgegengesetzt?
Igras Publikumsansprache funktioniert ohne Zierde und mit großer Klarheit. Die Ruhe, mit der er die Schilderungen Toivis seziert, analysiert und interpretiert, macht es möglich, ihm beim Denken zuzuschauen, wodurch seinem Sprechen trotzt analytischer Aussagen eine seltene Unmittelbarkeit anhaftet. Er fungiert als Moralinstanz des Films, liefert den psychoanalytischen Über- bzw. Unterbau der erzählten Ereignisse. Es ist eine signifikante Gegenüberstellung oder vielmehr Ergänzung, die Peter Nestler hier vornimmt. Igras psychoanalytische Ausführungen richten ein Brennglas auf die Erinnerungen Toivis, schärfen die Wahrnehmung für die nachbarschaftlichen, alltäglichen Grausamkeiten der Shoah. Zugleich wird die Erfahrung von Toivi als Einzelnem mit dem Allgemeinen, dem Leiden Millionen anderer verknüpft. Der präzise Blick wird vom Einzelschicksal auf das systematische, gesellschaftsverändernde Menschheitsverbrechen ausgeweitet, die Tragweite der „moral vulnerability“ der Menschen auf einer universellen Ebene verdeutlicht. Die Zeugschaft Toivis verbleibt dadurch nicht als Erzählung der Grausamkeiten der Vergangenheit, ihr wird im Gegenteil eine beunruhigende Aktualität beigemessen: Die Akte zwischenmenschlicher Dehumanisierung erscheinen erschreckend wiederholbar.
Nestlers Film leistet Erinnerungsarbeit: die dringend und kontinuierlich benötigte Arbeit, die für aktives Gedenken vonnöten ist. Dadurch wird der Film zu einem Dokument, das mit Präzision und Unnachgiebigkeit die unter dem NS-Regime begangenen Verbrechen festhält, sie bezeugt sowie versucht, Unverständliches verständlich zu machen. Und das ist vielleicht das Bemerkenswerteste an diesem Film, dass er bei allem Vertrauen in die Kraft des Bezeugens trotzdem einen Erklärungsversuch wagt und den psychoanalytischen Finger in die Wunden legt, die die NS-Verbrechen und die damit einhergegangene Komplizenschaft der Bevölkerung hinterlassen haben.