Text: Leonie Jenning
Alles zerfällt einmal, um irgendwann einmal in noch unbekannten Formen wieder aufzuerstehen.
In dem Film Mitt Land/Mi País blickt Peter Nestler in die chilenische Vergangenheit und erzählt von den Überlieferungen aus einer anderen Zeit von einem anderen Ort. Vier Perspektiven verschiedener Künstler auf das historische Ereignis am 11. September 1973 in Chile hinterlassen Material, polyfone Abbilder einer Wirklichkeit, die Peter Nestler ablichtet und zu einem Mosaik zusammensetzt. Ausschnitte von Gemälden, Grafiken und Musik, die sieben Minuten unserer gegenwärtigen Zeit strukturieren und zersetzen. Zwei Maler, ein Grafiker und ein Musiker berichten mit ihren Mitteln unabhängig voneinander vom Tag, an dem die faschistische Macht, repräsentiert durch das Militär, den demokratisch gewählten Sozialisten Salvador Allende stürzte und Chile so in eine totalitäre Militärdiktatur manövrierte. Nach fünf Minuten und achtzehn Sekunden zeigt Nestler den Ausschnitt eines Bildes, auf dem Arbeiter mit Helmen emporblicken, während sie ein rotes Tuch in der erhobenen Hand halten. Die Kamera schwenkt nach oben. Sie stehen vor einem Gefängnis, das von Pfützen umgeben ist. Rechts daneben sitzt in einer kahlen Baumkrone ein leuchtender Phönix mit seinem feurigen Gefieder. Er ist riesig im Verhältnis zu den Menschen, die noch wenige Sekunden zuvor auf dem Boden zu sehen waren. Der Bildausschnitt verschiebt sich nach links. Auf dem Dach des Gebäudes patrouilliert ein bewaffneter Schatten, und aus den Fenstern hinter den Gittern strecken drei Menschen ebenfalls ihre Hände aus. Mit einem eiligen Schwenk zeigt Nestler den Feuervogel erneut.
Was ist die Geschichte der Menschheit, wenn nicht Glorifizierung von Kontrolle, Herrschaft und Gewalt? Den Kopf zu heben und zurückzuschauen, die Mehrstimmigkeit und das widersprüchliche Chaos der Geschichte anzuerkennen, bringt totalitäre Strukturen ins Ungleichgewicht und hat das Potential, das Jetzt umzuformulieren. Denn während die Zukunft verschlossen bleibt und jeden Moment neu entscheidet, ob sie uns Einlass gewährt, empfangen uns die Relikte der Vergangenheit mit offenen Armen.
„Sie haben die Macht, sie können uns unterwerfen, aber weder Verbrechen noch Gewalt werden die sozialen Veränderungen aufhalten. Die Geschichte gehört uns. Sie ist das Werk der Völker, seid gewiss, dass früher als ihr denkt, die breiten Prachtstraßen sich wieder öffnen und freie Menschen voranschreiten werden, um eine bessere Gesellschaft zu errichten.“ – Der Märtyrer der Demokratie, Salvador Allende in seiner letzten Rede kurz vor seinem Tod, ausgestrahlt im Radiosender Magallanes
Die künstlerischen Arbeiten in Mitt Land/Mi País sind wie Katalysatoren verschiedener Erinnerungsfetzen an diesen historischen Tag. Sie koexistieren, widersprechen und belegen sich. So bleiben sieben Minuten ohne ein klar erkennbares Narrativ, sie bleiben brüchig. Und in genau dieser vielschichtigen Brüchigkeit liegt die Hoffnung auf ein Morgen und auf ein Chile, das einst verloren schien, aber eines Tages in einer neuen, noch unbekannten Form erstrahlen wird.
Während wir die Geschichte und uns selbst meist kohärent – als ein Abgeschlossenes – begreifen, leben wir lediglich in und als Bruchstücke eines irrationalen Ganzen. Je nach Betrachtungswinkel zeigt sich dieses Ganze völlig anders und niemand wird das Gegenüber jemals vollends verstehen. Der Mensch weiß, dass das eigentliche Wesen der Dinge zeitlos ist, aber dass er selbst eines Tages sterben wird. Erst durch die Vereinheitlichung der subjektiven Zeit löst sich der paradoxe und lebendige Raum im Nebel der Macht auf und wird zur hermetischen Projektionsfläche für ideologische Weltbilder und Konzepte. Schablonen, die die Welt ordnen und kontrollierbar machen. Mit gesenktem Blick, versuchen wir nach vorne zu denken, geradeaus. Der Plan für morgen steht, während das Gestern längst vom Jetzt verschüttet wurde. Dabei ist eine solche Form von Geradlinigkeit in Wirklichkeit perspektivlos und ein fruchtbarer Nährboden für Terror.