Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Notizen zu Peter Nestler: Lördags Chile

Text: Sebas­ti­an Bobik

Ein Film mit rasan­tem Tem­po: In nur knapp über zwan­zig Minu­ten erzäh­len Peter und Zsó­ka Nest­ler von der jahr­hun­der­te­lan­gen Unter­drü­ckung und Aus­beu­tung eines Lan­des und sei­ner Bewoh­ner. Man fin­det in Chi­le­film The­men wie­der, die in Nest­lers Arbei­ten immer wie­der auf­tau­chen: Ras­sis­mus gegen indi­ge­ne Bevöl­ke­run­gen, die Aus­beu­tung der Erde und ihrer natür­li­chen Res­sour­cen, Impe­ria­lis­mus auf mili­tä­ri­scher und wirt­schaft­li­cher Ebe­ne, die Unter­drü­ckung der Arbei­ter, Bau­ern und Armen, sowie Musik als ein Aus­druck des Wider­stan­des gegen die Herr­schen­den. All die­se Aspek­te ver­schränkt Nest­ler, wäh­rend er die Geschich­te eines Lan­des erzählt, des­sen Volk mit dem Leid ver­traut ist und zur Ent­ste­hungs­zeit des Fil­mes wei­ter lei­det. Denn die­ser wird 1974 fer­tig und am 11. Sep­tem­ber des vor­an­ge­gan­ge­nen Jah­res wur­de die demo­kra­tisch gewähl­te Regie­rung Sal­va­dor Allen­des gestürzt und durch eine Mili­tär­dik­ta­tur unter Augus­to Pino­chet ersetzt.

Fast der gesam­te Film besteht aus Stand­bil­dern: Fotos, Illus­tra­tio­nen und Land­kar­ten. Manch­mal zoomt die Kame­ra auf bestimm­te Details oder auf Gesich­ter im Bild zu. Gele­gent­lich wird mit einem Schwenk über ein sol­ches Stand­bild eine gewis­se Dyna­mik erzeugt. Erst nach unge­fähr vier­zehn Minu­ten sehen wir zum ers­ten Mal Bewegt­bil­der. Es sind Auf­nah­men von Bau­ern­kin­dern bei der Arbeit. Auf der Ton­ebe­ne hören wir die Stim­me von Peter Nest­ler, wie so oft in sei­nen Fil­men. Sei­ne Stim­me klingt ruhig. Sie wirkt unum­stöß­lich, bestimmt, ent­schlos­sen. Die Umstän­de wer­den prä­zi­se auf den Punkt gebracht. Die Wut der Ankla­ge liegt nicht in der Ton­la­ge und im Rhyth­mus, son­dern im Text. Die­ser kommt groß­teils ohne Pathos aus. Er beschreibt die Unge­rech­tig­kei­ten in aller Ein­fach­heit, so wie sie sind. 1974 sag­te er „Seit ich ange­fan­gen habe, Fil­me zu dre­hen, habe ich immer nur ver­sucht, der Sache, die ich mir vor­ge­nom­men hat­te, auf den Grund zu kom­men. Ich habe ver­sucht, den (für mich) kürzesten Weg zu fin­den und das Wich­tigs­te der Sache zu zeigen“.

„Frü­her war Chi­le Land der India­ner“, hört man Nest­lers Stim­me früh im Film sagen. Auf der Bild­ebe­ne des Fil­mes zeigt er uns in dem Moment Illus­tra­tio­nen, die von einer indi­ge­nen Per­son gezeich­net sind. Spä­ter zeigt uns Nest­ler Fotos von Men­schen, die ver­schie­de­nen Völ­kern ange­hö­ren: Mapu­che, Yag­han und Ona. Wir hören, dass es ein Kopf­geld auf die indi­ge­nen Stäm­me gab. Es ist von „fünf englische[n] Pfund für jeden erschos­se­nen India­ner“ die Rede. „Ona gibt es kei­ne mehr.“ Der Film ver­weilt für ein paar Sekun­den auf den Details eines Fotos. Wir sehen die kör­ni­gen, leicht unschar­fen, schwarz-wei­ßen Gesich­ter derer, die die­sen sys­te­ma­ti­schen Ermor­dun­gen zum Opfer gefal­len sind. Dann geht die Col­la­ge in ihrem rapi­den Tem­po weiter.

Gegen Ende kommt der Film in sei­ner Gegen­wart an und erzählt, wovon er erzäh­len muss: dem 11. Sep­tem­ber 1973. Genau­so wie Nest­ler von der Aus­beu­tung und Unge­rech­tig­keit der Geschich­te berich­tet, schaut er auch klar und nüch­tern auf die Gegen­wart. Wir hören vom Putsch, den Mor­den, den Ver­haf­tun­gen und der Fol­ter. Und was bleibt im End­ef­fekt über die­je­ni­gen zu sagen, die das chi­le­ni­sche Volk unter­drü­cken? Die letz­ten Wor­te des Fil­mes geben Hoff­nung auf deren Ent­mach­tung: „Sie haben Angst vor dem Volk“.