Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Notizen zu Peter Nestler: Hur förtrycket slår

Text: Leo­nie Jenning

Ber­lin, April 2024: Ges­tern habe ich geglaubt, etwas in dem Film Hur för­trycket slår wie­der­zu­er­ken­nen, aber ich habe den Gedan­ken sofort wie­der verworfen.

Die chi­le­ni­sche Frau mit ihren Kin­dern, die vom Ver­schwin­den ihres ältes­ten Soh­nes durch das chi­le­ni­sche Mili­tär berich­tet. Seit Jah­ren gibt es kein Lebens­zei­chen von ihm, doch sie gibt nicht auf, ihn wie­der­zu­fin­den, und nimmt alles dafür in Kauf. Auch die Tren­nung von ihrem Ehe­mann. In die­ser Zeit um 1973 ist dies in Chi­le eine Geschich­te von vie­len, eigent­lich ohne beson­de­ren Wie­der­erken­nungs­wert. Aber für mich hat­te sie die­sen eben doch. In ihrem Abbild habe ich 41 Jah­re spä­ter und 12.517 km ent­fernt etwas wie­der­erkannt. Etwas, das mir bekannt vor­kam: Das unbeug­sa­men Bedürf­nis, sich jeman­den Abwe­sen­den zu ver­ge­gen­wär­ti­gen. Woher kommt die­ses dif­fu­se Gefühl von Über­ein­stim­mung, obwohl wir eigent­lich nichts mit­ein­an­der gemein haben? Alles Wahr­nehm­ba­re haf­tet doch an der Täu­schung, es begrei­fen zu kön­nen. Es mit sich selbst in ein Ver­hält­nis zu set­zen, um empha­tisch in Ver­bin­dung zu tre­ten. Dabei ist jeder Mensch grund­le­gend anders orga­ni­siert. In die­ser Ver­schie­den­heit lie­fern wir uns jeden Tag aufs Neue ein­an­der aus. Und das ist wohl die eigent­li­che Über­schnei­dung – die Kon­fron­ta­ti­on mit dem uner­kann­ten Anderen.

Sant­ia­go de Chi­le, Okto­ber 1982: 

Neun Jah­re nach dem Mili­tär­putsch dreh­te Peter Nest­ler gemein­sam mit dem chi­le­ni­schen Fil­me­ma­cher Rodri­go Gon­çal­ves einen Film über die Men­schen und die Aus­wir­kun­gen, die die tota­li­tä­re Dik­ta­tur unter Pino­chet auf das Leben der Ein­zel­nen hat. Hur för­trycket slår zeigt Men­schen, denen der Boden unter den Füßen weg­ge­ris­sen wur­de. Sie berich­ten vor Nest­lers Kame­ra von der Gewalt, die sie und ihre Kin­der erlei­den muss­ten, von ihrem Ver­lust, den gelieb­ten Ver­schwun­de­nen, die umge­bracht oder ver­schleppt wurden.

Die Film­ar­beit ver­schlägt Nest­ler und Gon­çal­ves in ein Kin­der­heim der Pidé. Hier kom­men seit 1997 Kin­der her, die der poli­ti­sche Aus­nah­me­zu­stand stark mit­ge­nom­men hat. Die­ser Ort ist ein Schutz­raum für die Kin­der der Opfer des Faschis­mus und bie­tet durch das gemein­schaft­li­che Mit­ein­an­der Ori­en­tie­rungs­hil­fen für ein selbst­be­stimm­tes Leben in einer Welt, die durch Unter­drü­ckung und Repres­sio­nen geprägt ist. Es heißt: „Plötz­lich stan­den wir da mit all unse­ren Kennt­nis­sen und Tech­ni­ken in einer Wirk­lich­keit, die wir nicht deu­ten konn­ten. Wir wuss­ten nicht, was uns gesche­hen war als Indi­vi­du­en, als Volk, oder wie wir die Schä­den ver­ste­hen soll­ten, die die Unter­drü­ckung ver­ur­sacht.“ In einem Voice-Over über­setzt Nest­ler die Spre­chen­den selbst ins Deut­sche und ver­leiht dem per­sön­li­chen Schmerz, der in den ein­zel­nen Berich­ten steckt, eine Sach­lich­keit, die das Erzähl­te noch grau­sa­mer erschei­nen lässt. Durch die dop­pel­te Erzäh­lung – im spa­ni­schen Ori­gi­nal­ton und in der deut­schen Über­tra­gung – wer­den die Erin­ne­run­gen an das Erleb­te als nüch­ter­ne Tat­sa­chen her­aus­ge­schält und wir­ken so wahr­haf­ti­ger als die sub­jek­ti­ve Realität. 

Ber­lin, April 2024: 

Das Ver­hält­nis zwi­schen mir und dem Hier ist ein unsi­che­res, diver­gen­tes Feld, auf dem ich nur schwer eine Über­ein­stim­mung fest­stel­len kann. Aus jeder Situa­ti­on, jeder Begeg­nung gehe ich als jemand ande­res her­vor. Wo bin ich hier eigentlich?

Sant­ia­go de Chi­le, Okto­ber 1982: Men­schen tei­len das Schick­sal von will­kür­li­cher Unter­drü­ckung und Gewalt, und leben den­noch völ­lig unter­schied­li­che Leben. Hur för­trycket slår stellt die Abbil­der von Men­schen mit ihren Geschich­ten neben­ein­an­der. Durch die Bear­bei­tung des Mate­ri­als, dem Schnitt und der Über­set­zung in die deut­sche Spra­che ent­steht eine Täu­schung – eine Ver­bin­dung zwi­schen ihnen – als stän­den sie in Rela­ti­on zuein­an­der, obwohl sie sich in Wirk­lich­keit nie in die Augen geschaut haben und für ein­an­der für immer Unbe­kann­te geblie­ben sind.