Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Obsessive Metrik

Seit gerau­mer Zeit hat es sich ver­brei­tet, zu behaup­ten, der heu­ti­ge Rad­sport wäre nicht mehr mit dem der Ver­gan­gen­heit zu ver­glei­chen. Was zunächst nach Geschichts­schrei­bung klingt, gibt sich eher als Wer­be­spruch zu ver­ste­hen, denn weder die sze­ni­sche Stre­cken­füh­rung noch die all­ge­mei­ne Begeis­te­rung las­sen einen Abbruch erken­nen. Ernäh­rung, Mate­ri­al und die kon­di­tio­nel­le Vor­be­rei­tung sol­len viel­mehr die ent­schei­den­de Rol­le spie­len, um nun an der Spit­ze mit­fah­ren zu kön­nen. Talen­te tei­len sich danach auf, ob sie eher stra­te­gisch fah­ren und sich akri­bisch vor­be­rei­ten (Jonas Vin­g­e­gaard) oder ob sie eher kopf­los unter­wegs sind, auf ihr Herz hören und dabei unge­schrie­be­ne Geset­ze über­schrei­ten (Tadej Pogačar). Es dürf­te aber schon immer so gewe­sen sein, dass der Effi­zi­en­te­re am Ende die Ziel­li­nie als ers­tes pas­siert. Genau­so unver­än­dert lebt der Rad­sport von den Bil­dern sei­ner Stars, wenn­gleich man anneh­men darf, dass die­se eine gewis­se Wand­lung erfah­ren haben: Heroi­scher Glanz auf blan­ken Halb­glat­zen, tri­um­pha­le Ges­ten sowie all­zu ver­bit­ter­te Riva­li­tä­ten wir­ken anti­quiert. Archai­sche Männ­lich­keit von Blut, Schweiß und Mus­keln wich Smart­ness, Fami­li­en­treue und vol­lem Haar, das feder­gleich durch Helm­lö­cher wächst. Alles in allem könn­te man kon­sta­tie­ren, dass weni­ger um die Fah­rer her­um, son­dern viel­mehr in ihnen selbst eine Ver­än­de­rung statt­fand. Als neu­es­te Errun­gen­schaft der Sport­me­di­zin gilt das soge­nann­te Hit­ze­trai­ning, bei dem der Kör­per auf die Leis­tungs­fä­hig­keit unter der süd­fran­zö­si­schen Som­mer­son­ne für die dies­jäh­ri­ge Tour de France vor­be­rei­tet wer­den soll. Um ent­spre­chen­de Effek­te zu unter­su­chen, warf man vor kur­zer Zeit zur Mes­sung der Kör­per­kern­tem­pe­ra­tur noch Pil­len mit einem klei­nen Ther­mo­me­ter ein. Durch Algo­rith­men und kleins­te Strom­mes­sun­gen geht das mitt­ler­wei­le auch direkt auf der Haut. Ange­sichts kli­ma­ti­scher Ver­än­de­run­gen dürf­te aber klar sein, dass die Fah­rer von heu­te im Innern bedeu­tend küh­ler blei­ben müs­sen, um zu gewin­nen, als noch vor fünf­und­zwan­zig Jah­ren. Jün­ger sind sie ohne­hin. In jeg­li­cher Hin­sicht muss sich der neu­es­te Ath­let sei­ner selbst zu jeder Zeit bewusst sein, nicht zuletzt dank durch­ge­hen­der men­ta­ler Super­vi­si­on. Die ein­zi­ge gefahr­vol­le Unbe­kann­te mag dann nur noch das direk­te Gegen­über – nicht der Kon­kur­rent, son­dern der auf­ge­reg­te Fan – sein, der wohl kaum über ein Kör­per­kern­tem­pe­ra­tur­mo­ni­to­ring ver­fügt, obwohl er sicher zumin­dest eine mit sei­nem Smart­phone ver­bun­de­ne Sport­uhr trägt. Bei­de eint, den Sport­star wie den sport­lich ambi­tio­nier­ten Fan, ihre inne­re Beses­sen­heit, ja gera­de­zu Obses­si­on. Sie sind ganz in Besitz, sowohl von tech­no­lo­gi­schen Metri­ken als auch von der Begeis­te­rung, Teil eines beweg­li­chen Zir­kus­tross’ zu sein. Selbst­kon­trol­le und Kon­troll­ver­lust fal­len auf selt­sa­me Wei­se in eins. Erst ein Unfall erin­nert an die Gren­zen des Kon­trol­lier­ba­ren; ein Sturz, der nicht sel­ten erst durch einen Fan aus­ge­löst wird. Geläu­tert steht der neu­es­te Zuschau­er dann am Stra­ßen­rand und fragt sich viel­leicht, ob er nicht auch ein Kör­per­kern­ther­mo­me­ter bräuch­te, um sei­ne Fan­fä­hig­keit zu ver­bes­sern, und mög­li­cher­wei­se auch noch die­se Auf­re­gungs­me­trik dem Idol zur bes­se­ren Ein­tei­lung der Kräf­te bereit­zu­stel­len. Wie das Kino lehrt, will auch das Zuse­hen gelernt und trai­niert sein, um mit jenen mit­hal­ten zu kön­nen, die das Ren­nen zu ihrem Ren­nen machen. Die ver­meint­lich Bes­ten mei­nen es für rhe­to­ri­sche, gera­de­zu pro­sa­ische Bot­schaf­ten zu nut­zen, man­che sagen dazu Poli­tik. Doch dar­in liegt ein Miss­ver­ständ­nis, denn der Rad­sport ver­steht sich nur auf Metrik, die sche­ma­ti­sche Wie­der­ho­lung von Ver­sen. Viel­leicht könn­te man das Ver­mes­sen des eige­nen Kör­pers beim Sport mit der selbst­kri­ti­schen Betrach­tung des eige­nen Schrei­bens und Den­kens ver­glei­chen, mit dem Unter­schied, dass es kei­ne Ziel­li­nie gibt. Wür­de jemand die Geschich­te des Rad­sports erzäh­len wol­len, müss­te er sich wohl zuerst fra­gen, wovon er beses­sen ist, und wie er die­se Obses­si­on bemisst.