Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Das Paradies von Jacopo Tintoretto

Rainer on the Road: Venezia

Im größ­ten Saal des Dogen­pa­lasts in Vene­dig, dem Sala del Mag­gi­or Con­siglio, in dem in frü­he­ren Jahr­hun­der­ten die aris­to­kra­ti­sche Füh­rungs­rie­ge der Lagu­nen­stadt tag­te, nimmt ein rie­si­ges Ölge­mäl­de die gesam­te Stirn­sei­te des Saals ein. Zur Zeit sei­ner Fer­tig­stel­lung war Das Para­dies das größ­te Ölge­mäl­de der Welt. Meh­re­re Jah­re arbei­te­ten zunächst Pao­lo Vero­ne­se, und nach des­sen Tod Jaco­po Tin­to­ret­to, bei­de gro­ße Meis­ter der vene­zia­ni­schen Male­rei, an der Fer­tig­stel­lung des Bil­des. Der über­wäl­ti­gen­de Ein­druck die­ses rie­si­gen Tafel­bilds wird weder durch die Dimen­si­on des Saals, noch durch die Pracht der vor­her­ge­hen­den Räu­me abge­schwächt. Kör­per über Kör­per sam­meln sich in die­sem Para­dies und was aus der Nähe wie ein ver­wir­ren­des Kon­vo­lut aus Glied­ma­ßen, Köp­fen und ande­ren Kör­per­tei­len aus­sieht, wirkt aus eini­gen Schrit­ten Ent­fer­nung üppig, majes­tä­tisch und sei­nem Titel höchst ange­mes­sen. Mei­ne Beglei­tung konn­te sich jedoch nicht ganz mit dem Gemäl­de anfreun­den und fand die Kör­per im Hin­ter­grund zu ver­wor­ren, irri­tie­rend, ja gespens­tisch. Die­se Ein­wän­de führ­ten dazu, dass ich ein­ge­hen­der dar­über nach­dach­te, was es mit die­sem Bild auf sich hat­te. Tat­säch­lich wirk­te eine Sache etwas befremd­lich auf mich und zwar, dass die Figu­ren im Vor­der­grund dunk­ler gehal­ten sind, als die Mas­sen im Hin­ter­grund. Ein Genie­streich Tin­to­ret­tos wie mir scheint, denn anders als gewöhn­lich die hin­te­ren Berei­che im Schat­ten zu belas­sen, strahlt das him­mel­blaue Para­dies schein­bar aus der Tie­fe des Bil­des. Die Haupt­fi­gu­ren im Vor­der­grund wer­den also von hin­ten erleuch­tet und so von der Men­ge abge­ho­ben (ähn­lich wie durch ein back light im Film), wäh­rend die dut­zen­den, ver­wor­re­nen Kör­per im Hin­ter­grund noch erkenn­bar und iden­ti­fi­zier­bar bleiben.

Das Paradies von Jacopo Tintoretto

Kei­ne gro­ße Erkennt­nis für einen Kunst­his­to­ri­ker, aber sehr wohl für mich, der die bil­den­de Kunst nur aus der Sicht eines Lai­en betrach­ten und beschrei­ben kann. Nor­ma­ler­wei­se begeis­te­re ich mich eher für moder­ne­re und abs­trak­te­re Kunst, aber die­ser Vene­dig-Besuch letz­te Woche hat mir in man­cher Hin­sicht die Augen geöff­net. Mir war es als bis dato leich­ter gefal­len die Beson­der­hei­ten abs­trak­te­rer Kunst­strö­mun­gen zu erken­nen und zu wert­schät­zen, als die Arbeit der Alten Meis­ter, die durch ihre hand­werk­li­che Bril­lanz erst jene Kon­ven­tio­nen schu­fen, denen sich spä­te­re Strö­mun­gen schließ­lich wider­set­zen konn­ten. Erst die Bil­der der Vene­zia­ni­schen Renais­sance­ma­ler mach­ten mir bewusst, dass es in ihren Wer­ken vor allem um Licht geht, bezie­hungs­wei­se um die (gedach­ten) Licht­quel­len, die die Figu­ren in Sze­ne set­zen, um Kom­po­si­ti­on, die ver­schie­de­ne Figu­ren in Ver­hält­nis zuein­an­der setzt und dabei sehr viel sub­ti­le­re Nuan­cen zulässt als schnö­de Sym­bo­lik. In man­cher­lei Hin­sicht haben mich die­se Über­le­gun­gen wie­der zu eini­gen Gedan­ken zurück­ge­bracht, die ich mir in letz­ter Zeit auch zum Film gemacht habe. Auch hier haben sich (sehr viel schnel­ler und ein­heit­li­cher als in der Male­rei) Kon­ven­tio­nen gebil­det, die von ver­schie­de­nen Strö­mun­gen spä­te­rer Jahr­zehn­te ange­foch­ten wur­den. Die­se Kon­ven­tio­nen nennt man heu­te das klas­si­sche Hol­ly­wood­ki­no, ergänzt durch eini­ge Sedi­men­te, die ein paar der bedeu­ten­de­ren Neu­en Wel­len der Film­ge­schich­te hin­ter­las­sen haben (auch das, eine Par­al­le­le zur Bil­den­den Kunst).

Das bringt mich zurück ins Kino, wo es zur­zeit eini­ges an Kon­ven­tio­nen, in Form der Tech­ni­co­lor Retro­spek­ti­ve des Öster­rei­chi­schen Film­mu­se­ums zu sehen gibt. Dort ertap­pe ich mich dabei immer mehr Gefal­len an Musi­cals zu fin­den, aus hei­te­rem Him­mel einen Fred-Astaire-Fetisch zu ent­wi­ckeln und mir Gedan­ken über Bom­bas­tik und Spek­ta­kel im Film zu machen. So sehr ich mich für das Kunst­ki­no begeis­tern kann, und so sehr mich die Bild­ge­walt der gro­ßen Autoren­fil­mer in ihren Bann zieht, so sehr kann und will ich nicht den puren Spek­ta­kel­wert des Films ver­nach­läs­si­gen, der es erlaubt Feu­er­wer­ke zu zün­den, die statt weit ent­fernt am Nacht­him­mel, direkt vor unse­ren Augen im Kino­saal explo­die­ren. Spek­ta­ku­lär ist die Licht­set­zung in Cava­lo Din­hei­ro eben­falls, aber ich mei­ne Spek­ta­kel im Sin­ne von Attrak­ti­on in Eisenstein’schen Voka­bu­lar (wenn­gleich die Attrak­ti­on in die­sen Fil­men in gar nicht Eisenstein’schen Sin­ne zum Zwe­cke des Eska­pis­mus ein­ge­setzt wird), eine sen­so­ri­sche Macht, die audio­vi­su­el­le Fes­sel, die den Ver­stand erstar­ren lässt und über jeden Anspruch von Authen­ti­zi­tät und Wahr­schein­lich­keit erha­ben ist.

The Band Wagon von Vincente Minnelli

In sol­chen Momen­ten kom­men mir die Welt und das Kino sehr sim­pel vor und fra­ge mich, wie es mit der viel­be­schwo­re­nen inde­xi­ka­li­schen Bezie­hung zwi­schen der „ech­ten“ Welt vor der Kame­ra und der kine­ma­ti­schen Pro­jek­ti­on tat­säch­lich aus­sieht, denn wo sehe ich in The Band Wagon etwas von der ech­ten Welt? Die­se Fil­me kön­nen nicht dadurch irri­tie­ren, dass ihre Gesangs- und Tanz­num­mern mit der Logik ihrer Welt bre­chen, denn die Logik ihrer Welt sind eben­je­ne Revue­num­mern. Fred Astaires Bei­ne sind der Inbe­griff der Balazs’schen Ges­te! Natür­lich ist Film mehr als The Band Wagon und auch mehr als Fred Astaires Bei­ne (scha­de eigent­lich), aber wenn man dem Kern des Medi­ums näher­kom­men will, der Essenz des­sen, was Film und Kino aus­macht, dann emp­fiehlt sich eine inter­sub­jek­ti­ve Betrach­tungs­wei­se, die die­sen Spek­ta­kel­wert (und Fred Astaires Bei­ne) zumin­dest nicht aus den Über­le­gun­gen aus­schließt, ohne ihn dabei so strikt zu tren­nen, wie man­che Fehl­in­ter­pre­ta­ti­on von Tom Gun­nings Text Cine­ma of Attrac­tion es vor­schlägt. Furcht­bar kon­sen­su­al eigent­lich, aber die bei­den Ebe­nen des Natür­li­chen und Kon­stru­ier­ten, des Schau­werts und des Erzähl­werts sind wohl nicht zu tren­nen, und wenn sich eine Aus­nah­me fin­den lässt, dann bedeu­tet das nicht, dass es sich dabei um den Film han­delt, der die eine Theo­rie bestä­tigt und der viel­be­schwo­re­nen Essenz des Films am nächs­ten kommt, son­dern wie­der­um um eine Reak­ti­on und Kri­tik gegen die pro­pa­gier­te Unmög­lich­keit der Tren­nung der bei­den Ebe­nen. Ein furcht­bar rela­ti­vie­ren­der Ansatz, der sich schließ­lich im Kreis dreht. War­um ich mich trotz­dem wei­ter mit die­sen Fra­gen beschäf­ti­ge? Weil es die Fra­gen sind, die der Nach­for­schung wert sind, nicht ihre Ant­wor­ten (eine Binsenweisheit).

Palazzo Ducale / Dogenpalast

Eine kleine Nachrede zu Patricks Bemerkung über Kategorien in Ist die Vergangenheit des Kinos seine Zukunft?

Kate­go­ri­sie­run­gen sind an und für sich kei­ne schlech­te Sache. Sie erlau­ben es schnell und halb­wegs effi­zi­ent Infor­ma­tio­nen zu kom­mu­ni­zie­ren. Fil­me in ein bestimm­tes Gen­re ein­zu­ord­nen, oder sie der Form nach als doku­men­ta­risch oder fik­tio­nal zu kate­go­ri­sie­ren macht mei­nes Erach­tens so weit Sinn, so lan­ge nicht mehr über die Kate­go­ri­sie­rung nach­ge­dacht wird als über den Film selbst. Denn wenn der Film schwie­rig zuzu­ord­nen ist, macht es meist mehr Sinn zu fra­gen war­um es denn so schwer fällt eine Ent­schei­dung zu tref­fen, als par­tout eine Lösung zu fin­den. Kate­go­rien sind für mich offe­ne, dyna­mi­sche Gebil­de, deren Gren­zen im Dia­log immer neu fest­ge­setzt wer­den, aber die auf einer unbe­stimm­ten geteil­ten Wis­sens­ba­sis beruhen.

Ich den­ke, so in etwa meint Patrick das auch, wenn er Schub­la­den­den­ken kri­ti­siert, dem es schein­bar nur dar­um geht mög­lichst such­ma­schi­nen­op­ti­mier­te Tags zu gene­rie­ren oder Meta-Dis­kur­se, die sich mehr um ihre Eitel­keit dre­hen als um die Sache (die Fil­me) an sich.