Duisburger Filmwoche 2022: Unrecht und Widerstand von Peter Nestler

Der Film erzählt vom Unrecht, das den Sinti:zze und Rom:nja in der NS-Zeit widerfahren ist und vom Unrecht, das ihnen bis heute widerfährt. Lange wurden die Verbrechen der Nazis gegen sie nicht anerkannt, stattdessen wurden und werden Sinti:zze und Rom:nja bis heute diskriminiert. Der Film erzählt aber auch vom Widerstand dagegen, vor allem von der Arbeit Romani Roses, dessen Vorfahren nicht alle das KZ überlebt haben.

Zu Beginn der Diskussion weist Alexander Scholz daraufhin, das Z-Wort nur im historischen Kontext zu benutzen. So führen zwei frühere Filme von Peter Nestler und Rainer Komers das Z-Wort im Titel: Zigeuner sein und Zigeuner in Duisburg. Anschließend berichtet Scholz von seiner Seherfahrung, dass der Film ihn zum Recherchieren angeregt hätte, da er sich bisher noch nicht so viel mit der Geschichte der Sinti:zze und Rom:nja befasst habe. So ist auch der weitere Verlauf der Diskussion von einer gewissen Ehrfurcht vor dem Thema geprägt. Es wird betont, wie wichtig es sei, sich mehr mit den Sinti:zze und Rom:nja zu befassen, mit ihren Verfolgungserfahrungen in der NS-Zeit, sowie dem bis heute andauernden Rassismus gegen sie. Scholz nennt die Filme von Nestler und Komers „Gegendiskurse“ zu den hegemonialen Erzählungen, da die Aufarbeitung der NS-Verbrechen an den Sinti:zze und Rom:nja bisher in Deutschland zu kurz kam. So wurden auch die beiden früheren Filme von Nestler und Komers lange Zeit in Deutschland gar nicht gezeigt, Zigeuner in Duisburg wurde 1980 noch vom WDR abgelehnt, berichtet Komers. Die Form des Films wird kaum diskutiert, Scholz weist lediglich auf die „Politik des Ausredenlassens, des Raumgebens“ hin, dass es auffallend sei, dass die Gesprächspartner:innen ausreden dürfen.

Vonseiten des Publikums wird ebenfalls unterstrichen, wie wichtig der Film ist und dass er diese Leerstelle im öffentlichen Bewusstsein der NS-Erinnerung ein Stück weit füllt. Weiter wird von einem „Eindruck des durchgängigen Betroffenseins“ gesprochen, was Nestler als Grundvoraussetzung des Widerstands sieht. Daraufhin erzählt er von seinen Kindheitserinnerungen, wie er als Kind mit Antiziganismus und Nazismus konfrontiert wurde. Eine Person aus dem Publikum fügt dem ebenfalls eine Kindheitserinnerung der Begegnung mit Antiziganismus hinzu.

Jemand weiteres merkt an, dass es nicht nur Nestlers und Komers Filme zum Thema gebe und dass es gelte, auch andere Filme, die sich mit Antiziganismus befassen und die in der Vergangenheit vom Fernsehen abgelehnt wurden, wieder auszugraben und zu entdecken. Zum Schluss weist eine Meldung aus dem Publikum daraufhin, nicht nur die Sinti:zze und Rom:nja als homogene Gruppe zu sehen, sondern auch die verschiedenen, einzelnen Stimmen wahrzunehmen, „Der Schritt von der Gruppe zum Individuum steht an.“

So wichtig und aufschlussreich ich den Film inhaltlich fand, hat er mich formal nicht überzeugt. Schade, dass auch in der Diskussion das schwere Thema eine kritische Auseinandersetzung mit dem relativ konventionellen dokumentarischen Zugang nicht zuließ.

Von Anna Stocker

Duisburger Filmwoche 2022: EIGENTLICH EIGENTLICH JANUAR von Jan Peters

Wenn ein Monat zu dreien wird. Drei Minuten, manchmal zu fünf. Und Alltag plötzlich zum Film. Wie in einem Videotagebuch versucht der Filmemacher Jan Peters seinen persön lichen Januar analog auf Super-8-Film einzufangen. Eine Struktur, die bedarf, gebrochen zu werden. So fügen sich am Ende zwar 31 Filmausschnitte zusammen, jedoch entstehen diese weit über den bedachten Monat hinaus. Wesentlich ist das aber nicht, denn Blick und Linse liegen hierbei genau auf dem vermeintlich Unwesentlichen.


Ein Film bestehend aus vielen kleinen Filmen. Jan Peters nimmt uns mit auf eine Reise durch kleine Alltagsmomente, die sich in ihrer Mischung aus Trivialität und Besonderheit zu einem bunten Mosaik zusammenfügen. Nach seinen zwei Projekten NOVEMBER, 1-30 und DEZEMBER, 1-31 war es für den Filmemacher an der Zeit, erneut den Versuch zu starten, einen Monat lang, jeden Tag eine dreiminütige Filmrolle, wie ein Tagebuch mit Erinnerungen zu füllen.

Der Name ist Programm. Denn Peters „eigentlicher Januar!“ wird erst durch weitere Aufnahmen der Monate Februar und März zum letztlich dokumentierten Januar. Anspielend auf genau dieses Prinzip der Zeitlichkeit eröffnet der Moderator das Gespräch mit der Frage nach dem Regelbruch innerhalb der geplanten Chronologie. Sehr unkompliziert und offen gibt der Filmemacher zu, dass er es sowohl bei diesem als auch bei seinen zwei Vorgänger-Filmen einfach nicht geschafft habe, täglich zu filmen und sich der Dreh deshalb über einen längeren Zeitraum erstrecken musste. Eine authentische Antwort, die im Publikum für Sympathiepunkte sorgt, von denen Peters bereits einige mit seiner im Film zur Schau gestellten und unendlich wachsenden To-do-Liste sammeln konnte. Auf die Frage, warum er es denn trotzdem immer wieder versuchen würde, dieses Format erneut aufzugreifen, antwortete Peters ziemlich schlagfertig mit dem Zitat „a picture a day keeps the doctor away”. Bezüglich seines Spiels mit den 31 Filmrollen, die mitten im flüsternden Voice-Over abbrechen, erklärt er seine Struktur in genauso simpler Manier: „Ich habe 31 verschiedene Rollen und die füge ich am Ende einfach zusammen”.

Wenn man jedoch seinen 100-minütigen Film anschaut, wird einem schnell bewusst, dass sich der Filmemacher an dieser Stelle durchaus zu bescheiden gibt. Denn obwohl die eingefangen Momente relativ willkürlich erscheinen, steckt lange Arbeit hinter den künstlerischen Aufnahmen und ihrem Prozess der Entwicklung.

Ein simples Regelwerk bildet den Rahmen des Filmes, welcher seine Dynamik aber dadurch behält, dass die eigens auferlegten Regeln an vielen Stellen bewusst gebrochen werden und Sequenzen mal länger, mal kürzer andauern. Der Moderator erkennt die Thematik von analogen Fotos als möglichen roten Faden des Filmes. Wir sehen Bilder über Bilder. Darunter sind heimatlose und fremde Fotos, gefunden auf der Straße nach Neujahr, wie auch intime Aufnahmen aus dem eigenen Familienalbum.

Während des Gesprächs erhält Peters einiges an positiver Resonanz. Doch äußerten sich auch ein paar Stimmen, die auf eine gewisse Überforderung durch Reizüberflutung aufmerksam machten, welche sich durch die schnell wechselnden Aufnahmen in Kombination mit der gesteigerten Sprechgeschwindigkeit des Voice-Overs entstand. Demnach fühlten sich manche aus dem Publikum entweder hellwach oder ziemlich ermüdet nach dem Film. Allerdings empfindet Peters beide Reaktionen als völlig legitim. Denn genau diese Einheitlichkeit der Struktur mit den uneinheitlichen Aufnahmen erlaube es einem innerhalb der drei Minuten auch mal „abzudriften!”, um sich dann in einem neuen Januartag wiederzufinden. Die Überforderung des Textes und der Bilderflut würde zudem nur noch mehr dazu einladen, den Film ein zweites oder sogar drittes Mal zu sehen, wie eine Stimme aus dem Publikum feststellt und somit das beklatschte Schlusswort bildet.

Von Sina Wohnhaas

Duisburger Filmwoche 2022: 5 Dreamers and a Horse von Vahagn Khachtryan

Träume. Werden sie in Erfüllung gehen oder zerfallen? Während sich ein junger Mann in einer abgeschiedenen Gegend Armeniens nach einer Partnerin sehnt, kämpfen am anderen Ende des Landes zwei junge Frauen für eine gendergerechte Zukunft. Die Fahrstuhlführerin hingegen träumt von den Sternen.

Der Beginn des Filmes 5 DREAMERS AND A HORSE scheint Mischa Hedinger auch passend als Einleitung für das Gespräch mit dem Filmemacher Vahagn Khachtryan und dem Editor Federico Delpero Bejar zu sein. Der Reiter, der mit seinem Pferd durch die weiße Weite galoppiert, erscheint wie ein Traum. Doch plötzlich fällt das Pferd und wir erwachen. Es ist ein Film über Träume, aber auch über die Realitäten unterschiedlicher Generationen, der Gesellschaft Armeniens, in der Frauen noch immer für die Ehe gekidnappt werden können. Es ist kein Frieden für die LGBTQ+-Community in Sicht. Hedinger erkennt unterschiedliche Vorstellungen der Träumenden, sowie des Regisseurs und der Zukunft, aber auch das Gefühl der Stagnation.

Die Frage, wie viel Fiktives in dem Dokumentarfilm steckt, kann auch Khachtryan nicht beantworten. Er selbst arbeitet mit Menschen, um ihren Wirklichkeiten einen Raum zu geben. Die darstellenden Personen wurden im Laufe des Filmes selbst zu Regisseur:innen. Wie viel Fiktion also im Kaffeesatzlesen der alten Dame oder im Kartenspiel der Mädchen ist, muss das Publikum sich selbst beantworten.

Das Konzept des Films scheint sehr natürlich entstanden zu sein. Seine Arbeit begann vor einigen Jahren mit seinem Neffen, der damals unbedingt ein Pferd haben wollte, das sich die Familie aber nicht leisten konnte. Als Khachtryan einige Jahre später nach Armenien wiederkehrte, hatte sein Neffe zwar ein Pferd, aber wollte nun eine Frau. Im selben Jahr, 2017, traf er den Co-Regisseur Aren Malakyan. Sie fingen an, über die Träume verschiedener Generationen zu sprechen und suchten nach Charakteren, die nach den Träumen ihrer Kindheit strebten, erklärt Khachtryan nach einer Publikumsfrage.

Der filmische Prozess scheint, genau wie das Konzept, einen organischen Vorgang zu haben. Khachtryan ist nicht nur Regisseur, sondern auch Kameramann und Freund – es war eine Entwicklung in jeder Hinsicht. Das Gefühl sollte stimmen und so entstand auch ein Gefühl für die verschiedenen Kamera-Positionen, Bewegungen und Charaktere.

Wie kam es aber dazu, dass man nur drei anstelle der fünf Personen, wie im Filmtitel beschrieben, zu sehen bekommen hat? Federico Delpero Bejar erklärt, dass es schwierig war, alle Geschichten auf eine natürliche Art und Weise zu verbinden. Sie seien alle interessant, aber am Ende sei eben ein Fluss aus dem Schweben, Aushalten und Bewegen entstanden, welcher die Generationen und Personen auf natürliche Weise verbinde. Der Reiter beispielsweise sollte die Darstellung von Tradition wiedergeben und das Gefühl der Weite erwecken. Die Frau im Aufzug hingegen sei eingesperrt und isoliert, weswegen sie nach Weite strebe, ergänzt der Regisseur.

Hedinger wundert sich, warum am Ende die Häuser, fremde Menschen, Explosionen und die große Demonstration mit tausenden von Menschen gezeigt werden. Khachtryan entpuppt sich selbst als einer der Träumenden, dessen Wünsche eben 2020 durch den Krieg gestorben sind.

Durch die Explosionen und die Darstellung der Massendemonstration stellt sich das Publikum auch die Frage, wie der Film in Armenien selbst angekommen ist und ob dieser überhaupt gezeigt werden durfte. Der Film wurde in Armenien staatlich gefördert und dort schon zweimal gezeigt. Bei der Premiere selbst wären auch die Darsteller:innen, zum Teil mit Frau und Kind, gekommen. Manche Träume erfüllen sich, während andere sterben. Khachtryan gesteht, dass er Angst vor der internationalen Reaktion hatte, aber irgendwie habe jede:r den Film am Ende gefühlt und verstanden. Der Traum ist am Ende also auch das Träumen selbst. Doch Träume scheinen sich vor allem dann zu erfüllen, wenn man auf dem Weg dorthin nicht allein ist.

Von Fabia Suhl

Duisburger Filmwoche 2022: Aşk, Mark ve Ölüm von Cem Kaya

Als türkische Arbeitsmigrant:innen in den 1960er Jahren in die Bundesrepublik Deutschland kommen, werden sie für den Wohlstandserhalt gebraucht, aber von vielen Bundesbürger:innen nicht gewollt. Um Ausgrenzung und Heimweh zu entfliehen, retten sich viele in die Kultur der Heimat und lassen einen riesigen türkischsprachigen Musikmarkt entstehen. Aşk, Mark ve Ölüm dokumentiert diese an der Mehrheitsgesellschaft vorbeigegangene Geschichte mithilfe von Musiker:innen, Fans und Zeitzeug:innen.

Als das Licht nach dem Film angeht, hat man das Gefühl, am dritten Festivaltag einen ersten Publikumsliebling gesehen zu haben. Im Kino gibt es viele grinsende Gesichter und die positive Stimmung überträgt sich auch auf die anschließende Diskussion im naheliegenden Saal. Regisseur Cem Kaya macht mit dem Smartphone Fotos von den Menschen, die hier sitzen und zum großen Teil auch stehen. So voll wie nach seinem Film, war der Diskussionraum nie wieder. Bei der Begrüßung wird überschwänglich applaudiert.

„Was ein Knaller.“, leitet Moderatorin Nesrin Tanç die Gesprächsrunde über den Film ein und bedankt sich gleichzeitig beim Regisseur, dass endlich die Musikkultur türkischer Migrant:innen in der Bundesrepublik Deutschland thematisiert wird.

Anders als der Film ist der Beginn des Gesprächs etwas trocken und es geht hauptsächlich um die Arbeit mit Archivmaterial. Ein Großteil davon sind Mitschnitte aus dem bundesdeutschen Fernsehen, Musikvideos migrantischer Künstler:innen und Familienaufnahmen türkischer Hochzeiten in Deutschland. Vieles hatte sich schon durch die Vorgängerfilme Kayas über die türkische Popkultur angesammelt, so auch einige Interviews, die teilweise bereits 2011 geführt wurden. Die Recherche, Sichtung und Sortierung von Archivmaterial nahmen einen großen Teil der Arbeit ein und laut Kaya ging es immer wieder darum, aus der Masse besonders exemplarische Elemente zu finden. Als Beispiel nennt er einen Ausschnitt aus einer Fernsehshow mit Rudi Carrell, in dem sogenannte „Gastarbeiter“ mit aufgeklebten Bärten zu sehen sind und der eindrücklich erkennbar macht, wie die angeworbenen Migrant:innen dargestellt und wahrgenommen wurden.

Dann spricht Tanç an, was den Film wohl so beliebt macht. Die „catchy“ Inszenierung Kayas, die eindeutig seine Handschrift trägt und der wohl zuträglich ist, dass er Werbe- und Musikvideos dreht. Er selbst wollte seinen Film „bigger-than-life“ wirken lassen und nutzte dazu unter anderem Weitwinkelkameras in den Interviews, um neben den Talking-Heads auch deren Umgebung zu zeigen und auf diese Weise viele Bilder für die Zuschauer:innen bereitzustellen. Er bemerkt außerdem, dass es sich um einen Essayfilm handelt, der die Kollektivgeschichte aus seinem subjektiven Blick erzählt.

Tanç betont noch einmal, wie dankbar sie für den Film ist, da er auch einen Teil ihrer Geschichte zeigt, den sie nie teilen konnte und der für die Mehrheitsgesellschaft immer noch unsichtbar ist. In ihrer spürbaren Euphorie reißt sie die Diskussion aber etwas an sich und lässt zunächst wenig Platz für die Fragen und Anmerkungen der Zuschauer:innen. Erst nach einer Intervention des Regisseurs kommen Meldungen aus dem Publikum. Und hier wird schnell deutlich, dass auch dieses dankbar für den Film ist, da es zum großen Teil die Mehrheitsgesellschaft widerspiegelt, die keine Ahnung von der migrantischen Musikkultur hatte und nun endlich einen Einblick bekam.

Eine Zuschauerin lobt, wie mühelos der Film es schafft, zwischen Türkisch und Deutsch, in der gesprochenen Sprache wie in den Untertiteln, zu rotieren. Kaya erklärt dazu, dass er es seinen Protagonist:innen überlassen hat, in welcher Sprache sie sprechen wollen. Er merkt außerdem an, dass am Anfang des Films viel Türkisch und im weiteren Verlauf immer mehr Deutsch gesprochen wird, was seiner Meinung nach auch die Entwicklung der Generationen der Deutsch-Türken widerspiegelt.

Mit „Ey, die haben doch auch GEZ bezahlt, verdammte Scheiße“ bringt ein Zuschauer seinen Unmut darüber zum Ausdruck, dass die Migrant:innen nicht nur mit Ihrer Musik so wenig in den deutschen Medien vorkamen.

Auf die Frage, warum der Film dort endet, wo er endet, antwortet Kaya, dass er dort aufhören wollte, wo das Internet anfängt. Mit der Möglichkeit von YouTube und Ähnlichem wären die Schranken für die Sichtbarkeit von migrantischen Künstler:innen deutlich gefallen.

Zum Ende redet Kaya noch einmal euphorisch über die Arbeit mit dem Archiv und darüber, was es nicht in den Film geschafft hat. So hat er einen Abschnitt über politische kurdische Musik ausgelassen, da er selbst nicht mit dem Thema vertraut ist und sich dieses nicht aneignen wollte. Das Publikum entlässt den Filmemacher mit ebenso viel Applaus, wie es ihn empfangen hat. Auch nach einer Stunde Redebeiträgen ist wenig von der Begeisterung für Aşk, Mark ve Ölüm verloren gegangen.

Von Christopher Groß

Welche Verantwortung tragen Filmschaffende gegenüber ihren filmischen Sujets?

Einige Überlegungen zur Moral bei der Herangehensweise dokumentarischer Filmarbeiten und die dadurch entstehenden Machtverhältnisse

Duisburger Filmwoche, 11.11.2022: Das Screening zum Film Zusammenleben von Thomas Fürhapter beginnt und schon nach den ersten Minuten bemerke ich: irgendetwas stimmt nicht. Der Film nimmt uns mit in die thematischen Integrationskurse der Stadt Wien, in denen österreich-typische Verhaltensweisen behandelt, Vergleiche zwischen dem Eigenen und dem Fremden gezogen und Themen wie Ehe, Sexualität und Tod gestreift werden. Die Kurse sollen dabei einen Raum für Austausch bieten. In den Gesichtern der Teilnehmenden, die in langanhaltenden Kameraeinstellungen eingefangen werden, erkennen wir: Konzentration, Verwirrung, Langeweile. Oder vielleicht auch etwas ganz anderes. Was der Film nämlich nicht deutlich macht: den Kontext, in welchem die Bilder, die wir sehen, zueinanderstehen. Die Dokumentation selbst ist in ihrer filmischen Form eine strenge Konstruktion, der es bereits innerhalb des Films gutgetan hätte, hinterfragt zu werden. Darauf wartet man allerdings vergebens.

Über die verschiedenen Herangehensweisen im Dokumentarfilm wurde bereits häufig diskutiert. Und doch schaffen es bestimmte Filme, diese Debatte immer wieder auf ein Neues herauszufordern. Zusammenleben ist einer davon. Ich möchte an dieser Stelle nicht die Frage danach stellen, ob sich Filmschaffende auf ein behutsam zurückhaltendes, einfühlendes Beobachten beschränken sollten oder eingreifen dürfen beziehungsweise sogar müssen. Erst recht möchte ich die verschiedenen Methoden nicht gegeneinander ausspielen, eine als unzureichend abtun und der anderen einen höheren Stellenwert zuteilen. Vielmehr möchte ich mich den dahinterliegenden moralischen Fragen widmen:

  • Inwieweit kann Wirklichkeit eingefangen und wiedergegeben werden?
  • Wird die sogenannte Realität nicht vielmehr durch den subjektiven Abbildungsprozess der Filmschaffenden miterzeugt?
  • Inwieweit entsteht ein Machtgefälle, begründet im Handlungsspielraum der Filmschaffenden und der Handlungsohnmacht der gezeigten Personen?

Bevor ich auf den eingangs genannten Film zurückkomme, möchte ich ausgehend von diesen Fragen etwas aus meiner Sicht Grundlegendes festhalten: Ein Film stellt immer eine subjektive Sichtweise auf etwas dar und vermag daher kein objektives Gesamtbild greifen, erst recht keine Wirklichkeit wiedergeben. Die Auswahl des Filmmaterials, der Kameraeinstellungen, der gefilmten Motive und Personen, des Schnitts etc. beruhen auf einer Vielzahl von Entscheidungen, die in Abhängigkeit von der sozialen Herkunft, den alltäglichen Erfahrungen sowie emotionalen Entscheidungen der Filmschaffenden zu betrachten sind. Folglich ist alles, was von einem vermeintlich neutralen, abbildenden Blick der Kamera eingefangen wird, letztlich auf einer subjektiven Ebene von den Filmschaffenden mitkonstruiert. Nicht zu vergessen, dass die bloße Anwesenheit einer Kamera bereits eine veränderte Situation schafft, wodurch das Gefilmte zumeist schon maßgeblich mitbestimmt wird.

Zusammenleben sei ein Film, in welchem man den Menschen beim Denken zusehen könne, so die einleitenden Worte des Moderators Sven Ilgner in der Podiumsdiskussion. Der Film nimmt sich einer Reihe von Porträtaufnahmen an und versucht, in beobachtenden Einstellungen und langatmigen Kamerafahrten durch die Flure der Institution, die Vielfalt und Individualität der Kursteilnehmenden einzufangen und ein Bild über die Institution zu kreieren. Doch was ich sehe, ist kein vielseitiger Kamerablick auf die individuellen Teilnehmenden. Es ist vielmehr eine filmische Form, der man zusieht, eine Konstruktion, die weder etwas über die zu sehenden Menschen noch über die Struktur selbst erzählt. Jeder Blick scheint eine im Schnitt entstandene Konstruktion zu sein. Der Film lässt auch sonst keine Möglichkeiten eines anderen Blickes zu und verharrt stets in der einseitigen Blickrichtung. Auch die Kursteilnehmenden selbst kommen nicht zu Wort, wodurch sich die strukturelle, formale Kameraführung nicht nur gegen den Versuch eines umfassenden Einblicks in die Institution, sondern auch gegen die Teilnehmenden selbst wendet. 

Wohin also mit den Bildern, die uns hier gezeigt werden?

Ich frage mich, inwieweit im Vorfeld eine Auseinandersetzung mit der Thematik und den Kursen stattgefunden hat. Das Format der Integrationskurse bedingt bereits die Reproduktion stereotyper Darstellungen, in dem die migrierten Personen sich wie Schüler:innen belehren lassen, nichts entgegnen und selbst kaum zu Wort kommen. Die gewählte filmische Form setzt dem nichts entgegen – die ohnehin mit Klischees besetzten Bilder werden weder kommentiert noch eingeordnet. Besonders in dem Aspekt des Blicks auf das Fremde, auf die anderen, besteht das Stereotype in diesem Film. Das deutsche oder österreichische Publikum schaut zusammen mit Fürhapter auf die „Migranten“, schmunzelt vermutlich an der ein oder anderen Stelle über die kulturellen Unterschiede und Integrationsschwierigkeiten, während sich die porträtierten Menschen nicht äußern können, wir sie nicht kennenlernen. Der Film schlägt damit keine Brücke zu den gezeigten Menschen, sondern lässt eine Wand zwischen „uns“, der Kamera und „den anderen“ stehen. Die distanzierte Kamera schafft es nicht, die Oberfläche zu durchbrechen und bietet damit lediglich einen Nährboden für Missverständnisse.

Worum es mir an dieser Stelle geht, ist die Verantwortung, welche Filmschaffende gegenüber den Menschen, die sie zeigen, tragen. Bei diesem Film fehlt es an jeglicher Verantwortung seitens des Filmemachers. So stellt sich auch die Frage, an wen der Film gerichtet ist. Es ist ein rein formaler Blick auf die Kurse, ohne diese in einen Kontext zu setzen. Das spiegelt sich auch in der Tatsache, dass der Film weder Aussagen über den Grund für die Kurse oder die Hintergründe der Teilnehmenden trifft noch sich zu der Situiertheit der Filmschaffenden positioniert oder die Form selbst reflektiert. So scheint es auch nicht allzu verwunderlich zu sein, dass dem gesamten Dreh ein grundsätzliches Machtgefälle unterlag. Denn der Regisseur habe nach eigener Aussage die Kurse aufgrund der unterschiedlichen Sprachen selbst nicht verstanden. Fürhapter habe sich, wie er selbst sagt, für den Diskursraum zwischen Institution und Kursteilnehmenden interessiert. Dieser Diskursraum kommt in dem Film allerdings nicht zustande. Die filmische Form konstruiert ihren eigenen Diskurs und bleibt dabei nur bei sich, ohne das dahinterstehende Gerüst zu beleuchten. Die Annäherung an porträtierte Sujets in Form des Direct Cinema kann funktionieren. Es bedeutet aber nun mal nicht nur mit der Kamera auf etwas draufzuhalten. Die Frage sollte also nicht sein, ob die Filmtechnik es ermöglichen kann, die Oberfläche einer Thematik zu durchstoßen und tieferliegende Zusammenhänge sichtbar und erfahrbar für die Zuschauenden zu machen, sondern wie sie das umsetzt. Tatsache ist doch, dass sich in dem Endprodukt immer die Vorgehensweise, wie sich Filmschaffende den Menschen annähern, widerspiegelt. Damit meine ich die Recherche zu dem filmischen Thema, aber auch Gespräche und die Auseinandersetzung mit den Menschen, die gezeigt werden. Dabei sollte auch die eigene Subjektivität in den Kontext der Arbeit gestellt sowie die Entstehung des Films in seiner Prozesshaftigkeit begriffen und innerhalb der filmästhetischen Form thematisiert werden.

Von Laura Baumgardt