Vorm Einbruch der Welle: Pacifiction von Albert Serra

Nach knapp einer Stunde Laufzeit zieht es Pacifiction zum ersten Mal hinaus aufs Meer. Bislang glitzerte der Pazifik nur im Hintergrund Tahitis, sein fernes Rauschen legte sich sanft unter die Klangkulisse der Insel. Es ist eine Art imaginiertes Urlaubsparadies, in dem sich der französische Staatsvertreter De Roller (Benoît Magimel) im Überseegebiet Polynesien wiederfindet. Überall bietet die Natur Ansichten wie Postkartenmotive, die jedoch seltsam entrückt, beinahe unwirklich scheinen. So verleiht das Licht den Bildern keine Tiefe, sondern legt sich als verklärender Schleier aus Pastellfarben über die Aufnahmen. Als bräuchte es einen Nebel der Ignoranz, um die Bilder ästhetisch genießen zu können. Die Figuren bewegen sich mit einer somnambulen Langsamkeit durch den Film, bei der sich kaum unterscheiden lässt, wer gerade arbeitet und wer Urlaub macht. Jeden Abend finden sie in demselben Club zusammen, wo sie auf der immer gleichen Party umeinander herumstehen. Das Leben spielt sich hier als Dauerschleife in Zeitlupe ab. Zwar scheinen immer wieder unterschwellige Konflikte auf, doch dringen sie nie durch die Oberfläche traumhafter Irrealität, die sich über der Insel ausgebreitet hat.

Erst jetzt, mit dem Aufbruch aufs Meer, ändert sich dieser Zustand. War der Ozean zuvor nur ein Element des umfassenden Licht- und Farbschauspiels, offenbart er sich nun in seinen überwältigenden Ausmaßen. De Roller winkt noch mit staatsmännischer Geste dem fliehenden Festland zu, bevor er sich mit verschränkten Armen der neuen Umgebung zuwendet. „Ça fait peur“ – das macht Angst, lautet seine erste Reaktion auf den neuen Anblick. Endlos erstreckt sich reines Blau in alle Richtungen des Bildes. Der wolkenfreie Himmel lässt das tiefe, klare Wasser in sämtlichen Abstufungen der Farbe aufleuchten. Noch immer ein paradiesischer Anblick, der sich jedoch nicht mehr in den Rahmen der bisherigen ruhig beobachtenden Totalen einfassen lässt. Die Kamera fliegt schon in den Himmel hinauf, über die Köpfe der Passagiere hinweg, die in dutzenden Booten aufs Meer hinausgefahren sind und nun verzwergen gegenüber seiner unendlichen Weite. Einige haben ihre Smartphones gezückt, doch diese Bilder sind nicht mehr dafür geschaffen, aus einer sicheren Distanz genossen zu werden. Vielmehr sind die Menschen der Naturgewalt nun völlig ausliefert.

Dann kommen die Wellen. Meterhoch rollen sie aus den Tiefen der Einstellung auf die Kamera zu und mit ihnen wird die Tonspur von einem ohrenbetäubenden Dröhnen verschluckt. Die Boote müssten zerschellen, brächen die Wellen über ihnen hinein. Doch kurz bevor es zum Aufprall kommt, stürzen die Fluten in sich zusammen und nur ein sanfter Wellengang bleibt zurück, der die Boote auf und ab wippen lässt. Als würden sie sich hinter einer magischen Grenze in Sicherheit bewegen. Nur ein paar wenige Surfer setzen sich bereitwillig der Kraft der Gezeiten aus, der Rest nimmt die unmöglich scheinende Position teilnahmslos Betrachtender ein. Auch De Roller bleibt fest im Zentrum seiner Einstellungen verhaftet, egal wie stark sein Gefährt ins Schwanken gerät. Daran ändert sich nicht einmal etwas, als er mit einem Surfer auf einen Jetski umsteigt, um noch näher an das Spektakel heranfahren zu können. Die Kamera gleitet nun auf Höhe der Meeresoberfläche mit ihnen, als die nächste Welle aus dem Hintergrund heranrollt, deren schäumende Kraft noch unausweichlicher zu sein scheint. wieder ebbt ihre Energie genau vor den Zuschauenden ab. Am Ende der Show ist das Weiß von De Rollers Anzugs von keinen einzigen Wassertropfen getrübt.

In dieser gewaltigen Szene wird zum ersten Mal erfahrbar, was im weiteren Verlauf des Films allmählich zur Paranoia des Protagonisten heranwächst: Die Angst vor einer nahenden Katastrophe, ja sogar die Gewissheit über die Unabwendbarkeit ihres Eintreffens. Auch De Roller sieht die Gefahr im Meer lauern. Er ist überzeugt, dass irgendwo da draußen, direkt unter der Wasseroberfläche, die Wiederaufnahme von Kernwaffentests vorbereitet wird, wie sie die französische Regierung zwischen 1966 und 1996 über 180-mal in Polynesien durchgeführt hat. Doch seine Nachforschungen prallen an derselben leuchtenden Oberfläche der Insel ab. Als er sich irgendwann erneut auf eigene Faust hinaus auf Meer begibt, verliert sich die Suche im Schwarz der Nacht. Unmöglich zu erkennen, ob sich hinter der Dunkelheit eine neue, noch höhere Welle verbirgt. Eine lähmende Handlungsunfähigkeit breitet sich aus, die nicht zuletzt Ausdruck der Perspektive derer ist, die sich trotz allen Vorzeichen in einer trügerischen Sicherheit wiegen, von der vollen Wucht der drohenden Konsequenzen (noch) nicht wirklich getroffen zu werden.

Woche der Kritik: Abgrundtief entblößt

Es ist ein schönes Erlebnis, wenn auf einem Festival der ästhetische Knall etwas unerwartet kommt. Der Twist, der durch seine Stärke und seine Vollendung alle schlechten Erinnerungen der vergangenen Tage ganz weit in den Hintergrund rücken lässt. Wohl ist Albert Serra eine wichtige, verehrte Figur des europäischen Gegenwartkinos, aber ich kannte ihn bisher nur durch das Kritikerlob, das er seit ein paar Jahren einheimst, ohne je die Gelegenheit zu haben, mich selbst im Kino von seiner Arbeit zu überzeugen. Radikale Kinowagnisse wie Roi Soleil bekommt man sonst nicht so einfach im Kinosaal zu sehen – selbst in Frankreich nicht. Wie ich dies schon erahnt hatte, erklärt Serra in seiner Einleitung, dass er diesen Film gedreht hat, um der Kritik den Beweis zu bringen, dass er sich nicht auf den klassischeren Stil seines vorherigen Filmes La Mort de Louis XIV beschränken will. Roi Soleil ist also ein Film, der einen Kontrapunkt zum Vorgänger darstellen soll.

Ab der ersten Einstellung zeigt sich jedenfalls, dass Roi Soleil ein Film ist, der ganz für sich allein stehen kann. Schon nach wenigen Minuten wird unter dem Publikum viel gelacht, es bleibt aber unklar, ob das ein Zeichen für Spaß oder für ein Ausdruck von Peinlichkeit ist. Zumal viele Zuseher den Saal während der Vorführung verlassen. Bei den vorherigen Vorführungen der diesjährigen Woche der Kritik war es überhaupt nicht so; von den fünf Vorführungen, bei denen ich anwesend war, kann ich mich in der Tat an keine einzige erinnern, bei der das Publikum so reagierte, wie auf Roi soleil. Ganz im Gegenteil: Außer dem etwas experimentelleren Gulyabani wurden alle anderen Filme von den ersten Minuten an sehr gut aufgenommen. Diesen – von einem filmkritischen Standpunkt aus betrachtet – enttäuschenden Stand der Dinge kann ich eigentlich nur dadurch nachvollziehen, dass Roi soleil kein einfaches Fressen im vulgären Sinne ist. Der Film besteht aus langen, stillen Einstellungen, es gibt keine Dialoge bis auf das müde, regelmäßige Stöhnen des Königs, welches allerdings zum abstrakten, kaum emotional aufgeladenen Begleitgeräusch wird.

Der Film beginnt mit einer Totalen, die uns den König wie in einem Kasten eingesperrt zeigt. Der Raum ist ganz weiß. Und doch ist das Bild überhaupt nicht weiß, sondern alles ist in rotes Licht getränkt. Die Leinwand ist eine Käfig, eine übertrieben enge Kammer, eine camera obscura. Louis XIV steht am Anfang im Hintergrund, nach ein paar Schritten im Raum, die Hände mal auf die Wand gestützt, scheint er schon außer Atem zu sein, er stöhnt, stöhnt und stöhnt wieder. Die erste Nahaufnahme kommt ziemlich spät, als der Darsteller seinen Kopf an die Wand gestützt hat. Das Gesicht liegt völlig im Schatten, man sieht nur die rot-graue Perücke, die er sich aufgesetzt hat. Wo das Gesicht sein sollte, liegt nur ein schwarzer Fleck. Man könnte fast den Eindruck bekommen, dass der König in der Wand verschwindet, als wäre das Zimmer, in dem er sich befindet, ein unendlich biegsamer, allen Gesetzen der Physik widerstehender Raum.

Diese ersten zwei Einstellungen bringen bereits den ganzen Gehalt des Filmes zum Ausdruck: Zum einen wird Louis XIV hier wie eine abstrakte Form behandelt, die ihrer symbolischen Bedeutung entleert worden ist; wie ein bloßes Ding unter den im Raum anderen vorhandenen Dingen. Zum anderen aber ist er zugleich ein leidender Körper, der seiner spektakulären, schweren Körperlichkeit unterlegen ist. Der Leib herrscht über den Geist, saugt ihn aus. Dies gilt auch für Albert Serras Herangehensweise als Filmemacher: wie Rainer es in seinem Text über den Film schon hervorgehoben hat, ist Albert Serras Film keine rein intellektuelle Übung, sondern eine leibliche Erfahrung. Vielleicht ist das der Grund, warum der Film an manchen Stellen so schwer erträglich ist: Roi soleil spricht einen an, ohne einen anzusprechen. Er vermittelt die Figur Louis XIVs durch Bilder, die fein aufgebaut sind, die zweifellos ins Kino gehören, und doch vermittelt der Film nichts, das auf eine intelligible Vermittlung zurückgeführt werden könnte. Serra beobachtet eine Handlung, die keine Handlung ist, weil sie schon immer ein sich weiter neu erfindendes, nie ganz zum Stillstand gekommenes Netz von Gebärden ist.

Nach dieser Einführung der Figur, wechselt Serra stets von Totalen, in denen der Körper des Königs abstrahiert wird, zu Nahaufnahmen, die diesen Körper ganz sachlich ins Zentrum rücken, ihn beim Essen und Trinken zeigen. Trotz des Schmerzes, den Serras Louis XIV ostentativ zur Schau stellt, wirkt er dennoch entspannt, unbekümmert und seinem eigenen Genus hingegeben, als bräuchte er gar kein Publikum. Das Schönste daran ist, dass diese Abwechslung keine List ist, um die zu befürchtende Langeweile des Zuschauers zu mildern, sondern sie führt zu einer verwirrenden, ständigen Umformung des inszenierten Raumes, welche die unbequeme, unangenehme, fast barocke Schwankung der räumlichen Stimmigkeit immer weitertreibt.

Einer der verblüffendsten Erfolge von Roi Soleil liegt darin, dass sich das Wechselspiel von Raum und Körper, in dem der eine den anderen beeinflusst und umgekehrt, bis zum Punkt, wo ihre Umrisse sich einander so durchdringen, nicht in einem undurchdringlichen Konvolut endet, sondern paradoxerweise in einer Öffnung. Die letzte Einstellung (eine sehr lange, stille Plansequenz) treibt diese scheinbare Paradoxie noch weiter: Die Kamera ist jetzt im Untergeschoß platziert. Im Vordergrund ist die Treppe zu sehen, es kommen und gehen Besucher der hier zum Film gemachten Performance (Roi Soleil auf beruht auf einer von Serra in einer Lissaboner Galerie inszenierten Performance), manche von ihnen setzen sich auf eine der Stufen, eine sitzende Frau holt sogar ihr Handy heraus. Louis XIV ist wenig mehr als ein undeutlicher Tupfen im Hintergrund, der der Kekse-Etagere in der Einstellung fast gleichgesetzt ist. Für mehrere Minuten bleibt der Raum im gewohnten roten Licht beleuchtet, dann verändert sich diese Beleuchtung langsam. Der Kontrast sinkt, die Schatten verschwinden, das Bild wird heller, fast orange. Das auf der rechten Wand befestigte Neon-Licht strahlt nun oranges Licht aus.

Schließlich verlassen die Besucher den Raum, es kommen zwei schwarz bekleidete Männer die Treppe hinunter – einer von ihnen ist Albert Serra. Sie verkünden, dass der König tot sei. Dann folgt die totale Finsternis – bis auf einen kleinen, weißen Schimmer im Vordergrund. Wieder gibt es also in der gleichen Einstellung etwas und nichts, nichts und doch etwas, zu sehen. Roi Soleil inszeniert den Sonnenkönig als einen gleichsam kranken, zuckenden Körper, als auch als mal dunkle, mal helle Form, die unsere Raumwahrnehmung als Zuschauer unaufhörlich umgestaltet. Louis XIV ist nicht tot – wie der Phoenix wird er bald aus seiner Asche wiederauferstehen.

Viennale 2018: Roi Soleil von Albert Serra

Roi Soleil von Albert Serra

Als Albert Serra vor dem Screening von Roi Soleil den Kinosaal betritt, beginnt er sogleich in sich überschlagendem Englisch und auf seine typisch exzentrische Weise von und über seinen Film zu erzählen. Seine kurze Einführung endet in einer Pointe, die erwartungsgemäß gut beim Publikum ankommt: Nach seinem letzten Film La Mort de Louis XIV hatten ihn Bekannte darauf angesprochen. Der Film sei ihnen zu konventionell gewesen. Nun habe er eben noch eine Version der Geschichte gemacht, die vor solcher Kritik gefeit ist.

Serra hat nicht zu viel versprochen, so viel vorweg. Während in seinem letzten Film Jean-Pierre Léaud langsam dahinsiecht, umgeben von seinem Hofstaat, prächtig kostümiert und von opulenten Requisiten umgeben, geht Serra in Roi Soleil den gegenteiligen Weg. Statt des ausgezehrten Léauds mimt nun Lluís Serrat den Sonnenkönig. Während Léauds Körper einigermaßen verbraucht wirkt, weist Serrats Leib eine Körperfülle und Jugendlichkeit auf, die man einem kranken, sterbenden Menschen nicht zutrauen würde. Das schmälert die Effektivität des Films aber in keinster Weise: Wo La Mort de Louis XIV letztendlich doch eine gewisse Form von Naturalismus zum Ziel hatte, ist Roi Soleil rein auf die Performance reduziert.

Stöhnend und ächzend schleppt, rollt und schleift sich Serrats Ludwig über den Boden einer Lissaboner Galerie. An vier Abenden hat Serra hier 2017 die letzten Stunden im Leben des legendären französischen Königs inszeniert. Und auch mitgefilmt. Denn, so Serra, vielleicht deckt die Kamera ja Dinge auf, die für das anwesende Publikum nicht zu erkennen waren. Serra hat auf jeden Fall mehr gemacht als einfach nur die Kamera mitlaufen zu lassen. Sieht man den Film, erkennt man deutlich ein filmisches Konzept hinter den Aufnahmen.

Zu Anfang steht der König noch aufrecht im rot ausgeleuchteten Galerieraum, bald schon muss er sich gegen die Wand lehnen, bis er schließlich zu Boden geht. Gegen Ende des Films dann gelingt es ihm kaum mehr sich von einer Seite auf die andere zu rollen. Während der Bewegungsradius und der Handlungsspielraum des Monarchen immer weiter eingeschränkt werden, nähert sich die Kamera immer weiter an. Wird Serrat zu Beginn noch von der anderen Seite einer Halle gefilmt, ist die Kamera am Ende ganz dicht an seinem Körper, registriert jede Bewegung, jedes schmerzerfüllte Zucken, jeden quälenden Atemzug. Die langsame Annäherung erzeugt eine Dynamik die abgefilmtem Theater und abgefilmter Performance-Kunst oft abgeht. Die Kamera ist hier kein Afterthought. Man braucht gar nicht beginnen zu diskutieren, ob ein solcher Film in ein Kino gehört. Es ist offenkundig.

Roi Soleil von Albert Serra

Knapp eine Stunde folgt man so dem Todeskampf von Serrats Ludwig. Sein gequältes Stöhnen wird einzig durch den Einsatz der spärlichen Requisiten unterbrochen: eine Etagere mit Süßigkeiten, einen Krug Wasser, aus dem Serrat im Liegen durch einen Schlauch trinkt. Die totale Isolation der Figur in diesem blanken Ort erzeugt eine irrsinnige Anziehungskraft, zieht einen in seinen Bann. Man fühlt sich seltsam vertraut mit diesem sterbenden Menschen, wenngleich es allzu offensichtlich ist, dass hier nur ein Schauspieler in einem Kostüm zu sehen ist.

Die Brechungen und Verfremdungen der Abstraktion vermögen es nicht, den Bann zu lösen. Das gelingt erst einem Geräusch, dass von außen in die Isolation des Films eindringt. Es ist das hallende Poltern von Schritten, die den Galerieraum erfüllen. Kurz danach beginnt man die ersten, dazugehörigen Beine zu sehen. Für die letzten Minuten seines Films, integriert Serra das Publikum in seinen Film. Die Kamera hat nun wieder eine entfernte Position eingenommen, der König hat seinen Todeskampf hinter sich gebracht. Aber statt einer bewegungslosen Leiche, kann man nun die Reaktionen des Publikums beobachten, das nicht so ganz weiß, ob die Performance nun beendet ist. Gewissheit bringt erst Serra selbst, der zum Abschluss selbst auftritt, sich dem liegenden Körper nähert und verkündet, dass Ludwig tot sei.

Es ist beeindruckend aus was für limitierten Mitteln Serra hier ein Werk höchster Konzentration erstellt – und wie im ein Medienübergang gelingt von der performativen zur Film-Kunst. Selbst ohne die Performance in Lissabon live erlebt zu haben, spürt man, dass der Film etwas gänzlich anderes ist, sich gänzlich anders anfühlt. Die Dauer ist eine andere. Sie ist segmentiert und sequenziell im Raum verteilt, es ist nicht die absolute Dauer, die die Aufführungen in der Galerie auszeichnete. So gesehen ist Roi Soleil auch ein ziemlich beeindruckendes Machwerk über die Unterschiede zwischen Film und darstellender Körperkunst. Bezeichnend, dass es von einem Künstler kommt, der die Grenzen zwischen Kino, Theater und Kunstraum in seinen Arbeiten beständig übertritt.

13 Kinomomente des Jahres 2016

Wie in jedem Jahr möchte ich auch in diesem Jahr zum Ende hin über die Augenblicke im Kino nachdenken, die geblieben sind. In der Zwischenzeit bin ich jedoch nicht mehr so sicher, ob es wirklich Momente sind, die bleiben. Viel öfter scheint mir etwas in mir zu verharren, was konkret gar nicht im Film existierte. Nicht unbedingt die subjektive Erinnerung und das, was sie mit Filmen macht, sondern vielmehr ein Wunsch, ein Begehren oder eine Angst, die sich im Sehen ausgelöst hat und sich an mir festkrallte. Ein Freund nennt Filme, die das mit ihm machen, die in ihm weiter leben und töten „Narbenfilme“. Ich mag diesen Ausdruck von ihm, obwohl eine Narbe ja bereits eine Heilung anzeigt. Diese Momente, diese Filme, die sich als Narbenfilme qualifizieren, brennen jedoch noch. Es sind offene Wunden, manchmal in der Form einer Blume, manchmal als klaffendes Loch.

Ich versuche daher in diesem Jahr solche Momente zu beschreiben, Momente, die nicht nur den Filmen gehören, die sie enthalten.

Inimi cicatrizate von Radu Jude

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Ein Top-Shot: Der junge, kranke Mann möchte seine Liebe besuchen, sie überraschen. Mit seinem wortreichen Charme überzeugt er Arbeiter des Sanatoriums, ihn auf einer Trage zu ihrer Wohnung zu tragen. Auf seinem Bauch ein Strauß Blumen. Er trägt schwarz unter seinem weißen Gesicht. Die meisten Top-Shots empfinde ich als schwierig. Sie erzählen lediglich von der Macht der Perspektive. Dieser hier ist anders. Er erzählt etwas über die Präsenz des Todes. Der Liebende wird für unter der Kamera zum Sterbenden. Darum geht es auch in diesem famosen Film. Das liebende Sterben, das sterbende Lieben.

(Meine Besprechung des Films)

Atlantic35 von Manfred Schwaba

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Ein Film wie ein einziger Moment. Ein Blick auf das Meer, der nur wenige Herzschläge anhält. Er kommt aus und verschwindet in der Dunkelheit. Es ist ein Film für einen Moment gemacht, der aus zwei Träumen besteht. Der erste Traum, das ist das Filmen auf und mit 35mm, ein sterbender Formattraum. Sterbend, weil eben nicht alle Menschen sich einfach so leisten können, auf Film zu drehen. Nicht jeder kann jeden Traum auf Film realisieren. Der zweite Traum, das ist das Meer, der Atlantik. Beide Träume also im Titel. Die Realität dieses Traumes, kommt gleich einer unaufgeregten Welle. Kaum spürbar, schon vorbei, wenn sie begonnen hat, aber doch mit all der Grazie des Kinos und des Ozeans ausgestattet, die es gibt.   

(Rainers Avantgarde Rundschau von der Diagonale)

Die Geträumten von Ruth Beckermann

Ich bin mir nicht mehr ganz sicher, wann genau dieser Augenblick eintritt, aber es ist ein einzelner Satz. Ein Satz, der alles vernichtet, was vorher geschrieben wurde. In ihm sammelt sich das Kippen einer Beziehung, die sich nur in Worten nährt. Es gibt mehrerer solcher Momente im Film. In ihnen kippt etwas in der geträumten Beziehung oder auch zwischen den Sprechern/Darstellern und den Worten. Das grausame und schöne an den Momenten in diesem Film ist, dass sie zeitlich verzögert sind. Oder gar vielleicht nie abgeschickt wurden.

(Meine Besprechung des Films)

Sieranevada von Cristi Puiu

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Wie viele meiner favorisierten Filme des Jahres handelt auch Cristi Puius neuestes Werk mehr von einer Präsenz der Auslassung, denn Dingen, die tatsächlich passieren. Ein Jahr der Fiktionen, die ihre eigenen Realitäten konstruieren. Ein Moment, der das bei Puiu bricht, ist die Erkenntnis. Diese gibt Puiu seinem Protagonisten Lary. Einmal in Form von Tränen und mehrere Male in Form eines machtlosen Lachens. Dieses Lachen ist wie der ganze Film zugleich unglaublich komisch und bitter. Es ist ein Lachen, das einem verdeutlicht, dass man keinen Zugriff hat auf die Fiktionen.

(Mein Interview mit Cristi Puiu)

(Andreys Besprechung des Films)

(Mein Bericht vom Festival in Cluj)

Austerlitz von Sergei Loznitsa

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Die Obszönität des Kinos ist hier zweisilbig. Die erste Silbe betont die Obszönität des filmischen Unternehmens selbst, der filmischen Fragestellung, der Art und Weise wie die Kamera in den Konzentrationslagern auf die Touristen blickt. Die zweite Silbe schafft Momente. Sie offenbart beispielsweise ein absurdes, schreckliches Kostümbild, womöglich das obszönste der Filmgeschichte. Ein junger Mann trägt ein Jurassic Park T-Shirt in einem Konzentrationslager. Die Kamera zuckt nicht, sie schaut sich das an, zeigt es uns und fragt sich tausend Fragen. 

(Andreys Besprechung des Films)

Ta‘ang von Wang Bing

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In den ersten Sekunden seines Films injiziert Wang Bing schockartig ein ganzes Drama unserer Zeit in unsere Körper. Eine junge Frau sitzt mit einem Kind unter einem Zeltdach in einem Flüchtlingslager. Ein Soldat kommt, tritt sie, das Dach wird weggezogen, sie wird beschuldigt. Es ist eine unfassbar brutale und kaum nachvollziehbare Szene. Was ihr folgt ist Flucht. 

(Mein Tagebucheintrag vom Underdox mit einigen Gedanken zum Film)

Der traumhafte Weg von Angela Schanelec

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Nehmen wir einen Ton. Den des Zuges, der schneidet. Ein wenig zu laut, als dass man es ignorieren könnte. Ein Ton der bleibt, weil er kaum da war. Er erzählt etwas, was man nicht sieht, etwas Grausames. Es ist die Beständigkeit ausgelassener, angedeuteter und wiederum zeitlich verzögerter Momente, durch die sich eine Erkenntnis winden muss. Das Echo dieses Zuges hallt wieder durch den Bahnhof. Schanelec verstärkt diesen Ton noch mit dem Bild eines verlassenen Schuhs neben den Gleisen. Mit dem Regen. Es sind disparate Momente, die sich der Fragmentierung fügen und dadurch in sich selbst ein neues Leben entdecken.

(Meine Besprechung des Films)

Le parc von Damien Manivel

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Damien Manivel bringt das von David Fincher am Ende seines The Social Network begonnene Drama unserer Generation zu einem grausamen Höhepunkt in den letzten Lichtern eines endenden, unwirklich schönen Tages und der ebenso unwirklichen Realität der folgenden Nacht. Eine junge Frau wird plötzlich von dem Jungen sitzengelassen mit dem sie einen Tag im Park verbracht hat. Sie sitzt auf einem kleinen Hügel in der Wiese im  Park und schreibt ihm eine SMS. Sie blickt in die Ferne, sie fragt sich, ob er zurückkommt. Sie wartet auf eine Antwort. Sie sitzt und wartet. Die Kamera bleibt auf ihrem Gesicht. Langsam wird es dunkel. Der Park leert sich. Sie wartet auf eine Antwort. Sie wartet und es wird Nacht.

Certain Women von Kelly Reichardt

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Wie kann man vom unausgesprochenen Begehren erzählen? Kelly Reichardt wählt das unvermeidbare Gewitter eines kleinen Lichts in den Augen. Beinahe wie Von Sternberg, nur ohne den Glamour, erscheint ein funkelndes Augenhighlight in der blickenden Lily Gladstone, es brennt dort und erzählt von etwas, das darunter brennt. Es ist sehr selten, dass jemand mit Licht erzählt und nicht mit Worten.

(Meine Besprechung des Films)

Nocturama von Bertrand Bonello

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Ich bin kein Fan der Musik von Blondie. Aber ich habe das Gefühl, dass Bertrand Bonello mich beinahe zum Fan einer jeden Musik machen könnte. Er benutzt sie immer gleichzeitig als Kommentar und Stimmungsbild. Er treibt mit ihr und bricht sie. Seine Kamera vollzieht begleitend zu den Tönen das Kunststück, sich im Rhythmus zu bewegen und dennoch immer etwas distanziert zu sein. Als würde man jemanden betrachten, der hinter Glas tanzt zu einer Musik, die man sehr laut hört.

(Mein Interview mit Bertrand Bonello)

Două Lozuri von Paul Negoescu

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In dieser sehr unterlegenen Hommage an Cristi Puius Marfa și banii gibt es eine der lustigsten Szenen des Jahres. Dabei geht es um die Farbe eines Autos. Der Polizist geht richtigerweise davon aus, dass das Auto nicht weiß ist. Aber alle Menschen, die er befragt, leugnen die Farbe des Autos. Was er nicht weiß ist, dass sie alle unter einer Decke stecken. Dieses nicht-weiße Auto wird zu einer absurden Fiktion. Wenn alle Menschen sagen, dass etwas weiß ist, bleibt es dann nicht weiß, wenn es nicht weiß ist?

O Ornitólogo von João Pedro Rodrigues

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Eine Eule schwebt im Gleitflug über die Kamera und ihre Augen treffen die Linse mit einer bedrohlichen Bestimmtheit. Sie landet perfekt, ihr Blick bleibt. In einem Film, der weniger vom titelgebenden Beobachten der Vögel, als von deren Blick zurück besessen ist, bleibt dieser Augenblick, weil er zeigt, dass man oft nur bemerkt, dass man angesehen wird, wenn man hinsieht.

(Meine Besprechung des Films)

La mort du Louis XIV von Albert Serra

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Jean-Pierre Léaud (machen wir uns nichts vor, es ist nicht Louis XIV) verlangt nach einem Hut. Für einige Sekunden könnte man meinen, dass er jetzt das Innenleben seiner Gemächer verlassen will, dass er aufbricht in eine neue Sonne. Aber weit gefehlt, denn Jean-Pierre Léaud verlangt nur nach dem Hut, um einigen Damen damit zu grüßen. Es ist dies der Inbegriff des schelmisch Charmanten, in dem sich Serra, der Sonnenkönig und dieser bildgewordene Schauspieler treffen. Selbst, wenn es ums Sterben geht.

(Meine Besprechung des Films)

Das Pure und die Parodie: Albert Serra und Eugène Ionesco

Das Absurde wird gemeinhin als eine Kategorie des Theaters verstanden. Dennoch ist völlig klar, dass Strömungen, Einflüsse und Inspirationen dieser Theaterbewegung sich auch auf andere Künste wie die Literatur oder das Kino übertragen haben. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die wichtigsten Vertreter des Absurden Theaters wie Samuel Beckett oder Eugène Ionesco sich in ihrer Tätigkeit nicht exklusiv auf das Schreiben für das Theater verlegt haben. Vielmehr ist das Absurde nicht nur mit Albert Camus eine Haltung zur Welt. Bis heute findet man mehr oder weniger deutliche Spuren des Absurden in der Kunst. Ein Beispiel dafür ist der katalanische Filmemacher Albert Serra, dessen bisherige vier Langfilme (wie auch seine Installationen, Kurzfilme und Theaterprojekte), Honor de cavalleria, El cant dels ocells, Història de la meva mort und La mort du Louis XIV das Absurde geradezu heraufbeschwören.

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Der Vergleich Serras mit Ionesco mag insofern ein wenig fragwürdig erscheinen, da der Filmemacher gemeinhin eher Vergleiche mit Samuel Beckett anregt. Grund dafür ist hauptsächlich die Reduktion von Gestaltungsmitteln in Verbindung mit einer extremen Langsamkeit bei Serra. Doch halte ich den Vergleich mit Ionesco vor allem deshalb für fruchtbarer, weil beide in einem praktischen und theoretischen Spannungsfeld zwischen dem Puren und der Parodie arbeiten, wogegen sich Beckett zum einem theoretischen Äußerungen zu seinem Werk entzog und meiner Meinung nach zum anderen viel weniger in einen Meta-Diskurs um das Pure seines gewählten Mediums verstrickt war als Ionesco. Es soll hier also weniger um das Absurde an sich gehen, sondern mehr um die Ideen einer formalistischen Anti-Haltung in Theater und Film.

Das Pure

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Mit dem Puren sind in diesem Fall die exklusiven Eigenschaften des jeweiligen Mediums gemeint, die Essenz dessen, was man nur im entsprechenden Medium ausdrücken kann. Eine gefährliche Begrifflichkeit, die von manchen nur allzu bereitwillig umarmt und von anderen gar verachtet wird. Gibt es etwas Pures im Kino? Vielleicht, so sagte mir Serra nach einem Interview, in manchen Stummfilmen, vielleicht dort. Serra und Ionesco sind in ihrem Schaffen und ihren Äußerungen beide auf der Suche nach dieser womöglich unerreichbaren Essenz. In ihrem Fall hängt diese Essenz eng an Begriffen wie Formalismus oder Materialität. So bemerkte Mark Peranson in einer Besprechung von Honor de cavalleria, dass es sich um einen der raren Filme handeln würde, die man besser sehen würde, als darüber zu lesen. Bei Serra ginge es um Präsenz und um Ursprünglichkeit. Serra selbst nannte diese Eigenschaft seines Kinos eine Suche nach der Materialität, die nicht an die Realität gebunden sei. Bei der Betrachtung seiner Filme fällt auf, dass auch der Umgang mit Zeit und Montage dem Bewusstsein der kinematographischen Doppelung von dokumentarischen und fiktionalen Aspekten entspricht. Serra ist immer zugleich offen und spontan im Umgang mit der Realität und akzeptiert dennoch die Konstruktion und Illusion des filmischen Mediums. Von Ionesco kann man ganz ähnliches in Bezug zum Theater sagen. Auch er machte sich immerzu Gedanken über die Eigenschaften seines Mediums und baute ästhetische Entscheidungen auch auf diesen theoretischen Überlegungen auf. So verteidigte er vehement die Idee eines Formalismus: „Formal experiment in art thus becomes an exploration of reality more valid and more useful (because it serves to enlarge man’s understanding of the real world) than shallow works that are immediately comprehensible to the masses.” Auch über Serra wurde gesagt, dass er Form über den Inhalt stellt, weil sich in seiner Form der eigentliche Inhalt verstecke. In Ionescos Fall sprechen Theoretiker von einem puren Theater und verwenden Begriffe wie Präsenz. Es ist selbstverständlich, dass das Pure im Theater sich anders offenbart, als das Pure im Kino. Dennoch ist erstaunlich, dass sowohl Ionesco wie auch Serra nicht nur mit Präsenz und Materialität arbeiten, sondern beide auch großen Wert auf Spontanität legen. Es geht dabei um die Reaktion des Künstlers und seines Mediums auf die Gegebenheiten, sowohl der Realität als auch der Eigenheiten der Produktion ihrer Kunst. Und auch in Ionescos Fall wird die Unmöglichkeit einer Beschreibung seiner Werke hervorgehoben wie zum Beispiel von Charles Edward Aughtry: “Similarly, the best way to say what lonesco’s plays mean is simply to show them.” Solche Aussagen sprechen für eine Nicht-Übersetzbarkeit des jeweiligen Ausdrucks in ein anderes Medium, was wiederum auf das Pure im Bezug zum jeweiligen Medium schließen lässt. Vielleicht ist das ein Kurzschluss, aber ich habe nie verstanden, weshalb Filmemacher vom Objektiven und vom Puren sprechen und diese Begriffe von der Theorie verdammt werden. Der Diskurs darüber, was „filmisch“ ist, ist sicherlich eine Sackgasse, aber er ist dennoch existent, weil das Beständige Definieren und Neu-Definieren von Kino neue Räume öffnet. Auffallend ist, dass sowohl Serra als auch Ionesco mit Extremen und radikalen Verfremdungen arbeiten und diese Extreme mit einer Ontologie ihres jeweiligen Mediums begründen. Sie suchen nach Möglichkeiten, die Sprache ihres Mediums zu erweitern. Als Folge bewegen sich beide Künstler hin zu einem Surrealismus. So arbeitet Ionesco vor allem in Werken wie Victimes du devoir häufig mit albtraumhaften Motiven und allgemein kann man sagen, dass seine Welten weniger auf die Vermittlung einer Moral als auf das Beschreiben eines Gefühls aus sind.

Diese intensivierten Erfahrungen finden sich auch bei Serra, von dem erneut Peranson schreibt, dass es sich um einen Realismus ohne Realismus handeln würde. Man befindet sich eben in der puren Realität des jeweiligen Mediums, einer entrückten Welt, die mit dem, was man Realität nennt, in einem Wechselverhältnis steht, aber dennoch eigenen Gesetzen gehorcht. In diesem Wechselverhältnis mag man auch die Ambivalenz von Ernsthaftigkeit und Humor finden, die beide Künstler so sehr betonen und so wenig wie möglich unterscheiden. Vielleicht liegt das auch daran, dass die Ernsthaftigkeit der Glaube an das jeweilige Medium ist und der Humor die Parodie der Darstellungsweisen.

Die Parodie

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Ionesco scheint immerzu einen Standpunkt zu vertreten und ihn gleichzeitig zu parodieren. Das Paradoxe ermöglicht eine Transformation der Weltsicht und Figurenkonstellationen in jedem Augenblick. Bei Ionesco äußert sich dies häufig durch ein Spiel mit den Erwartungen der Zuseher. Als Beispiel könnte man die Bedeutung und Nicht-Bedeutung des Titels für das Stück La Cantatrice chauve nennen. Ein solches Vorgehen ist vor allem deshalb möglich, weil Ionesco wie auch Serra in seinen Filmen auf das Einhalten psychologischer und dramaturgischer Grundsätze einer naturalistischen Darstellung verzichtet. Nicht nur aus diesem Grund wird bei beiden Künstlern oft von einer Nicht-Haltung zu ihrem Medium gesprochen. Wir haben es mit Anti-Theater, Anti-Narration, Nicht-Schauspiel oder Null-Fiktion zu tun. In diesem Fall wäre die Parodie auch ein Angriff auf die Herkömmlichkeit der jeweiligen Kunst. Im Fall von Serra ist das vor allem deshalb pikant, weil er sich in seinen Filmen mit großen Figuren der Literatur und Religion beschäftigt. Er entmythologisiert die Figuren wie Don Quixote, die Heiligen Drei Könige, Dracula oder Casanova, indem er sich ihnen ironisch nähert und sie in absurde Situationen bringt, in denen man sie nicht erwartet hätte. Dasselbe galt zuletzt für seine Darstellung des Sonnenkönigs Ludwig XIV. Allerdings wurde die Parodie hier weniger in die Darstellungsweise gelegt als in die höfische Etikette als solche. Nur der Clou daran ist, dass die höfische Etikette eine Darstellungsweise ist.

Der Bruch entspricht dann jenem von Serras anderen Filmen: Dort sehen wir Don Quixote bei einem hilflosen Bad in einem kleinen See mit Sancho Panza, die drei Könige bei der Suche nach dem richtigen Weg oder Casanova lachend auf der Toilette. Serra nutzt das Absurde und Parodistische selbst zur Herstellung dieser Situationen. So beschreibt er den Dreh einer Szene, in der die Könige in El cant dels ocells verloren durch die Wüste gehen: „So, I sent them off walking across the desert with the walkie-talkie. And there they go. Walking. Walking. And then I started speaking jumbled words. And I could tell they were saying to each other [whispers], “Mother? Wall? Tree? What is this? The walkie-talkie must not be working.“ Darin liegt nicht nur die bereits angesprochene Spontanität sondern auch eine Parodie und Ironisierung von gewöhnlichen Produktionsumständen.

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Zu dieser künstlerischen Haltung gehört bei Ionesco und Serra auch eine entsprechend polemische Selbstdarstellung, die sich abgrenzt von anderen Künstlern und Einflüssen. So äußerte sich Ionesco immer wieder abwertend gegenüber anerkannten Theaterautoren und sogar dem Theater an sich. Ähnliches gilt für Serra, der sich immer wieder selbst über alle anderen stellt und sich abwertend über das Kino äußert. Eine klassische Filmkritik von Albert Serra hört sich so an: „It‘s shit.“. Hinter dieser Haltung verbirgt sich neben diversen avantgardistischen Einflüssen auch ein Subjektivismus, der im Fall von Ionesco zu einigen Diskussionen führte. Der Streitpunkt war und ist die Unmöglichkeit einer kritischen Auseinandersetzung mit den jeweiligen Werken. So wird über Ionescos Werk immer wieder gesagt, dass man es entweder hassen oder lieben würde. Serra selbst prägte im Bezug zu seinen Filmen den Begriff „unfuckable“, der auf eine ähnliche Reaktion zielt. Dieser Haltung zu Grunde liegt ein Streben nach einer Freiheit und Autonomie des Künstlers, dessen Weltbild man entweder ganz kauft oder gar nicht. Darin liegt neben einer Weltsicht auch eine Haltung zum Zuschauer und zur Kunst, die eben gleichzeitig nach der Essenz sucht und sich völlig abseits jeglicher Strömung versteht: das Pure und die Parodie.

Wie sich dieser Subjektivismus äußern könnte, zeigt Serra, der immer wieder mit dem Begriff des Absurden in Verbindung gebracht wurde, in seiner Begründung für den Einsatz dieses Elements in seinen Filmen: „I like to put some absurdity inside the films, because I think it’s funny,(…)“. Das Absurde und Widersprüchliche, das Idealistische und das Willkürliche sind bei Ionesco und Serra also auch immer Teil einer Selbstdarstellung. In einer leichten, aber entscheidenden Abwandlung könnte man also abschließend wieder Camus zitieren, um über das künstlerische Vorgehen dieser beiden Vertreter des Absurden zu bilanzieren: „Großmütig ist nur die Kunst, die sich gleichzeitig vergänglich und einzigartig weiß.“

Zeitbilder: Inimi cicatrizate von Radu Jude

Radu Judes Filmschaffen oszilliert seit jeher zwischen den Polen der ständigen Bewegung und der totalen Bewegungslosigkeit. Dieses Paradox treibt er in seinem wunderbaren Inimi cicatrizate auf die Spitze, weil sein Protagonist Emanuel gleichzeitig ans Bett gefesselt ist und in seiner sexuellen Blüte steht. Mit 20 Jahren an der Potts Krankheit (Tuberkulose) erkrankt, wird Emanuel in ein Sanatorium gebracht und erlebt dort eine dekadente Romantik und erbarmungslose Zeitlichkeit vor dem Zweiten Weltkrieg am Schwarzen Meer.

Irgendwo zwischen Thomas Mann und rumänischer Absurdität entfaltet sich ein eigentlich sehr klassischer Film über die Zeit des jungen Mannes in der Heilanstalt. Wir folgen Emanuel dabei eher auf seiner emotionalen, denn auf seiner tatsächlichen Reise durch die Krankheitsstadien. Das „Eigentlich“ bezieht sich auf die vielen Schichten, die mit diesem narrativen Ansatz in Verbindung stehen und der Art und Weise (lange tableauxartige Einstellungen in einem an Lisandro Alonsos Jauja erinnerndem Academy-Ratio-Format) in der Jude das filmt. Der Filmemacher bringt hier zwei Dinge ins jüngere rumänische Kino, die man dort durchaus vermissen konnte: Sexualität und Licht. Letzteres ist in seiner Behutsamkeit und Vielschichtigkeit wirklich bemerkenswert in Verbindung mit dem 35mm-Material, das hoffentlich jenseits von Hamburg auch so projiziert wird.

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Bild vom Set

Dabei arbeitet der Filmemacher deutlich zärtlicher und weniger vulgär (was nicht heißt, dass er die Krankheiten nicht auch organisch filmen würde) als in seinen bisherigen Filmen. Die Rauheit eines Aferim! oder O umbra de nor lässt nun eine deutlichere Distanz zu, die etwas zwischen den Bildern kommunizieren kann und eine größere Konzentration auf die Stille, ein offenes Fenster im Regen oder die Schönheit eines sterbenden Körpers mit Blumen für seine Geliebte ermöglicht. Das liegt vor allem an der Bildgestaltung von Marius Panduru und der Sprache von Max Blecher, dem rumänischen Surrealisten auf dessen Werken und Leben dieser Film basiert. Zwischen den Bildern werden ähnlich Fassbinders Effi Briest Textzitate eingeblendet, die gleichermaßen einen inneren Monolog ermöglichen, als auch das Gesehene abstrahieren, bisweilen hinterfragen. Denn was wir sehen ist entweder Leid oder Lust, meist das Warten auf beides. Was wir lesen, ist die Poesie dieses Leids, das kommende Ende, das man natürlich auch auf die Situation der Welt und Rumäniens vor dem Faschismus in diesen Jahren legen kann. Das Hinterfragen kommt dann, wenn ein Bild der Zügellosigkeit von einem Text der Einsamkeit abgelöst wird. Man fragt sich, ob man richtig hinsieht und zusammen mit dem abgerundeten Rahmen des Bildes, der manchmal theatralischen Art des Spiels (zum Beispiel in einer entscheidenden Szene am Meer zwischen Emanuel und seiner Liebe Solange) und der präzisen Kadrierung merkt man schnell, dass diese Welt auseinander fällt. Es ist eine Welt, die auf Bildern und Fiktionen beruht, die sich nicht halten werden können. Das gilt für den Heilungsprozess, der auf Lügen basiert, vielleicht gar nicht möglich ist, zumindest nicht kontrollierbar und das gilt für die medizinischen und politischen Ansichten in dieser Anstalt.

Zitate spielen allgemein eine große Rolle, denn Emanuel erweist sich als Lexikon von Werbe- und Gedichtzitaten, die er nur so um sich wirft. Verspielt, verletzlich, naiv und furchtlos, liegt er die größte Zeit des Films einbandagiert in einem Gips, der ihn nicht daran hindert auf verschiedene Frauen zu klettern. Es geht allen so in diesem Sanatorium, es ist eine große Verzweiflung, Herzen, die wirklich vernarbt sind (wer denkt beim Titel nicht auch ein wenig an Philippe Garrel), sexuelle Dekadenz. Besonders angetan hat es dem jungen Mann eine ehemalige Patientin, die Solange heißt oder sich Solange nennt. Insbesondere in den Szenen mit ihr, die Jude in seinen gewohnt virtuosen, statischen Plansequenzen filmt, wird einem schmerzvoll klar wie brutal es ist, wenn man sich nicht bewegen kann. Diese langen Einstellungen sind schlicht unglaublich. Judes Mise-en-scène erinnert an Hou Hsiao-hsien oder Mauritz Stiller. Eine derartige Choreographie an Bewegungen, Sichtwechseln und Spiegeln, Rahmungen im Bild hat man selten gesehen. Am besten zeigt sich Bewegungslosigkeit immer mit Bewegung und so lässt der Filmemacher allerhand gesündere Patienten um Emanuel tanzen, rennen, er wird herumgeschoben und hinzu kommt dieses beständige Drängen des Herzens, das ausbrechen will aus dem Gips. Dadurch entstehen sowohl komische als auch tragische Szenen, meist beides zugleich.

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Neben den sprachlichen Verweisen auf Blecher, gibt es auch eine Rahmung, die an den Schriftsteller erinnert. Im wunderschönen Vorspann sehen wir Bilder und Dokumente des tatsächlichen Aufenthalts von Blecher im Sanatorium und am Ende besuchen wir sein Grab. Dadurch macht Jude die Zeitlichkeit des Ganzen noch präsenter und er tritt auch in einen Dialog mit der Geschichte und ihrer Fiktion zugleich. In mancher Hinsicht erinnert der Film an La Mort du Louis XIV von Albert Serra. Zwei Filme aus diesem Jahr, die über Krankheiten von einer vergänglichen Welt erzählen, die irgendwann war und doch auch jetzt ist. Beide Filme erzählen von einer Starre, einer Ohnmacht der Bewegung, die immer auch absurd ist. Wenn es einmal das Bewegungsbild und das Zeitbild gegeben hat, dann gibt es dieses Jahr im Kino das Krankheitsbild. Es ist ein Zeitbild, das gerne ein Bewegungsbild wäre.

Am 14. November zeigen wir im Filmhaus am Spittelberg Inimi cicatrizate und O umbra de nor von Radu Jude.