Das Seltsame am Stierkampf (corrida) ist, dass das Tier (toro) dem Menschen (torero) mit seiner Größe und Muskelkraft bei weitem überlegen ist, der Ausgang des unfairen Kampfes trotzdem von Anbeginn feststeht: Das Tier liegt verblutend im Sand, während der matador, möglicherweise verwundet, triumphierend die Arena verlässt. Albert Serra hat mit Tardes de Solidad über dieses Spektaktel, das Ernest Hemingway lakonisch Trauerspiel nennt, einen Film gedreht, der sich alles erspart, was erklärend oder moralisch beschwichtigend dem Publikum die Begeisterung für diese spanische Tradition näherbringen würde. Sein Film beschränkt sich darauf, den matador Andrés Roca Rey bei, vor und nach seinen Kämpfen zu begleiten. Die meiste Zeit sieht die Kamera dabei zu, wie er sich typischerweise mit einem roten Tuch (muleta) grotesk um die Stiere windet, er vollführt die veronicas. In welchen Arenen (plazas de toros) die corridas stattfinden, erfährt man nicht, denn die restlichen Szenen des Films spielen entweder in einem schmucklosen Hotelzimmer, wo Rey mithilfe seiner Assistenten die blutverschmierte, posamentierte Tracht (traje de luces) auszieht oder eine neue, noch viel aufwendiger gestaltete, in einer mühevollen Prozedur überstreift. Ansonsten begegnet man dem matador nur noch in einem Bus, der ihn, umgeben von seinem Gefolge, den picadores sowie banderilleros, zur Arena bringt beziehungsweise wieder abholt.
Abseits von diesen drei Orten bekommt man von Rey nichts zu sehen. Und obwohl die Kamera durch die langen, ununterbrochen Einstellungen dem Protagonisten immer wieder aufdringlich nah kommt, erhält man nicht den Eindruck, viel über ihn zu erfahren. Im Gegenteil, seine Erscheinung wird im Laufe des Films immer mehr zu einem Rätsel, so lässt sich kaum eine eindeutige Aussage über seinen sozialen Hintergrund oder sein Alter treffen. Auf den ersten Blick wirkt er jugendlich, wie ein novillero, ganz so als würde man von seinen torero-Begleitern, die wesentlich älter – fast schon väterlich – aussehen, erwarten, ihn von seiner riskanten Versuchung abzuhalten. Einige Momente später, in denen man an Reys Kaltblütigkeit teilnehmen konnte, verändert sich dieser Eindruck, sodass man immer mehr an dem zweifelt, was man bislang über den Mensch vor der Kamera dachte. Die Bilder fokussieren sich auf sein ostentatives Minenspiel beim Kampf, mit dem er gleichsam stoßhaft-keuchend den sterbenden Stier vor ihm konterkariert; außerdem betont sie seine Körperhaltung in extremen Verrenkungen, womit er aus seinen fragilen Gliedern den Anschein von Überlegenheit streckt. Auch wenn man sich von der Verwandtschaft zwischen Bühne und Arena in Tardes de Solidad überzeugen möchte, teilt Rey (so wie ihn Serra zeigt) mit seiner irritierenden Ausstrahlung ebenso wenig mit einem Schauspieler, der mit seiner Rolle verschmilzt, wie mit einem Stier, gegen den er seine Rolle als Schutz gebraucht.
Den Stieren verleiht Serras Film hingegen kaum individuelle Züge. Innerhalb von knapp zwei Stunden sterben mindestens fünf von ihnen, der Vorgang wiederholt sich einige Male aufs Neue. Die Ouvertüre des Films zeigt das Tier, wie es schnaufend zögerlich aus dem Schatten schreitet; Bilder dieser Sequenz befanden sich schon in Serras Festivaltrailer (Vienna Waltz) für die Viennale im Jahr 2022. Dann beginnt der immergleiche Tanz in den Tod: Als erstes, tercio de varas, wird der Stier durch den matador mit einem großen gelb-rötlichen Tuch (capote) in einen aggressiven Zustand versetzt, um dann vom reitenden picador mit einem Lanzenstoß am Nacken verletzt zu werden. Als zweites, tercio de banderillas, betritt der bandillero den Ring und versetzt dem Stier an derselben Stelle, während er springend an ihm vorbeiflüchtet, zwei Spieße (bandilleras) mit Widerhaken und papiernen Federn, die sich im weiteren Verlauf mit Blut vollsaugen. Der Stier verliert nun immer mehr seine Kräfte, womit der letzte Akt, tercio de muerte, und damit die faena beginnt, bei der der matador das Tier durch minutenlanges Traktieren mithilfe der muleta stets abwechselnd in Bewegung und Ruhe bringt, um es weiter zu erschöpfen, bis ihm der finale Todesstoß mit dem Degen versetzt wird. Bis zu diesem Moment kann es immer noch passieren, dass der geschwächte Stier erneut Kräfte mobilisiert, mit denen der matador nicht gerechnet hat. Augenblicklich kann so aus vermeintlicher Sicherheit die kaum zu bändigende Gefahr erwachsen, von den Hufen oder Hörnern des Tieres tödlich verletzt zu werden.
Zwei solcher Situationen beobachtet die Kamera, die sich sonst in den oberen Rängen der Arena aufhält, plötzlich aus nächster Nähe, als würde auch sie sich schockhaft zu Boden werfen. So darf man annehmen, dass es sich bei Tardes de Solidad gar nicht um einen bloß beobachtenden Film handelt, sondern eher um die Visualisierung der erregten Fassungslosigkeit, die man gegenüber dem archaisch anmutenden Spektakel empfinden kann. Anstatt eine Bildethik anhand des brutal zu Tode gebrachten Tieres darzulegen, interessiert sich der Film mehr für das Ausleben einer gewissen Angstlust im Ausnahmezustand, verwandt mit dem filmischen Horror, dem hier das nächtliche Geheimnis in der regelhaften Normalität abhandengekommen ist. Nachmittags, wenn die corridas stattfinden, liegt eine solche Stille, eine Unbekümmertheit in der Luft, alles könnte passieren: Ein Banküberfall oder man ist auf einmal verliebt. Allerdings folgt der Zufall in der Arena einem strengen Ablauf, der für jede ausbrechende Eventualität eine Regel kennt. Statt um eine archaische Kultur handelt es sich bei der corrida so um ein komplexes Phänomen, dessen Bedeutung, unabhängig von der bestürzenden Präsenz des Todes, sich nur mit der Kenntnis von Begriffen und Normen begreifen lässt. Serras Film gibt sich keine Mühe, dahingehend etwas mitzuteilen, dennoch wirkt nichts – vor allem nicht die Provokation des Tabus – an ihm zufällig. In der unveränderten filmischen Struktur drängt sich allmählich der Gedanke auf, dass Serras Film noch mehr offenbaren will, als die schiere Brutalität der corrida, denn der Film nimmt gewissermaßen den anthropologischen Blick eines Schauspielers ein, um die Bewegungen eines torero zu studieren. Dass sich dafür kaum eine geeignete Sprache, eine sinnbildende Übersetzung in Formen des Kinos, findet, weil man an seine Grenze stößt, wird daran ebenso sichtbar.
Im Kino dürfen Tieren zurzeit nicht fehlen, dabei muss man nicht notwendigerweise von einer zeitgenössischen Tendenz ausgehen, denn ihre Präsenz dauert in der Geschichte des Films schon seit einer Weile an. Nur dass sie sterben müssen, und auf diese Weise, sieht man selten. Stattdessen begegnen sie den Menschen oft einfach als stumme, friedfertige Begleiter, nicht selten in einem Traum oder zumindest einer rationalitätsfernen Umgebung, wie in Serras Trailer. So füllt ihre Anwesenheit in der Regel lediglich eine Lücke aus, die das Verständnis der inneren oder äußeren Welt in der Logik des Films überbrückt. Dabei sieht es aus, als würden die Tiere die Antworten für die Rätsel der Filme hüten, weshalb ihnen die Menschen darin bereitwillig folgen, bis sich aber herausstellt, dass die Tiere auf die Fragen überhaupt nicht antworten können und die Antworten wahrscheinlich ebenso wenig kennen wie die Menschen. Das Problem, das in sie projiziert wird, bleibt bestehen, und weder ein Identifikationsversuch noch die Leugnung jeder Gemeinsamkeit führt weiter. In Tardes de Solidad sieht man den Kampf gegen ein Tier und wie man den Rufen währenddessen entnehmen kann, kommt es dabei besonders darauf an, wie das Tier selbst zu sein. So könnte man glauben, die Tradition erfüllt den Zweck, das Tier im Menschen zu erkennen und damit den Spalt zu überqueren. Das übersieht allerdings, mit welcher Notwendigkeit der Stier hier im ungleichen Kampf glorifiziert wird, worin sich gerade zeigt, wie wenig es für die Menschen möglich ist, (wie) ein Tier zu sein. Der vom Kino geäußerte Wunsch, nach der Nähe zum Tier, verbürgt die größer werdende Distanz zwischen ihnen und den Menschen.
Serra ist sich dessen wahrscheinlich nicht bewusst, dennoch drückt sich dieser spezifische Zwiespalt, diese gewaltvolle Anziehungskraft zwischen Mensch und Tier in seinem Film aus. Was einem daran auffallen wird, ist, dass er gar keine Haltung gegenüber der corrida beansprucht, eher interessiert er sich für diejenigen, die das Spektakel beobachten, ohne sie zu zeigen, das gilt auch für das Publikum seines Filmes. Egal wie sehr sich ein Schauspieler verrenkt, um als torero erkannt zu werden, man wird ihn immer als jemanden erkennen, der sich preisgibt. Das unterscheidet ihn von einem matador, der sich von nichts beeinflussen, von nichts durchdringen lassen sollte.