„L’idiot“ von Pierre Léon

Ich habe mir also den “Idioten” von Pierre Léon angesehen, um den von Ihnen bestellten Artikel zu schreiben, als pflichtgemäße Vorbereitung auf die Arbeit sozusagen, und ich muss zugeben, dass er mich etwas perplex zurückgelassen hat, nicht zuletzt, weil ich mir das gleichnamige Buch von Fjodor Michailowitsch Dostojewski – das ich als Russe natürlich kennen sollte wie meine Westentasche, aber bis vor Kurzem aus unerfindlichen Gründen immer noch nicht gelesen hatte – relativ kurz vor meiner Sichtung des Films endlich (entschuldigen Sie diese etwas umständlichen Ausführungen) gelesen habe. Nicht auf russisch zwar (Skandal! Würde jetzt selbstverständlich jeder Russe sagen), aber in der Übersetzung von Swetlana Geier, die von kundigen Koryphäen und Slawophilen als ausgesprochen gute und talentierte Übersetzerin vom Russischen ins Deutsche hochgehalten wird, und die mir überdies aus einem Dokumentarfilm, der ihrem Schaffen gewidmet war – ich glaube, er hieß Die Frau mit den 5 Elefanten – als sorgfältige Sprachliebhaberin noch in relativ guter Erinnerung ist. Insofern meine ich hoffen zu dürfen, dass meine Lektüre der Übersetzung den Genuss des Originals zwar nicht aufwiegen kann, aber dessen Timbre und Stimmung zumindest näher kommt, als andere Übersetzungen – deren Urheber fraglos über die nötigen fachlichen Kompetenzen verfügten, aber dem, sagen wir, Herz der Materie, womöglich nicht im gleichen, hohen und persönlichen Maße verbunden waren.

Jedenfalls war ich nach der Lektüre dieses doch sehr weitschweifigen Werks außerordentlich gespannt darauf, zu sehen, wie ein Filmemacher, der, soweit ich weiß, in Russland geboren wurde und später nach Frankreich gezogen ist, und dessen Tätigkeit eher in französischen Traditionen des künstlerisch ambitionierten Kinos zu verorten ist (eine Annahme, die zugegebenermaßen auf einer Handvoll verstreuter Indizien fußt und von mir nicht wirklich verifiziert wurde), wie also dieser Filmemacher, den ich mir immer sehr jung vorgestellt habe, und dessen doch eher fortgeschrittenes Alter mich überrascht hat (keineswegs negativ, wie ich anmerken muss), wie so ein von unterschiedlichen kulturellen Befindlichkeiten beeinflusster Mensch sich dieses enorm dichten und vielschichtigen und, soweit ich das beurteilen kann, zutiefst “russischen” Romans (der im Übrigen bereits einige Male verfilmt wurde, sogar von sehr namhaften Filmpersönlichkeiten, etwa von Akira Kurosawa, eine sicherlich spannende Leinwandfassung, die ich leider nicht gesehen habe), wie er sich dieses aus allen Nähten platzenden Romans annehmen würde.

Dass es sich nicht um eine klassisch werkgetreue Übertragung handeln würde, konnte ich natürlich schon an der Länge, beziehungsweise an der erstaunlichen Kürze des Films ablesen, der sich bereits nach einer läppischen Stunde dem Ende zuneigt, und den Sie sich übrigens, wenn Sie Lust haben, auf dem Vimeo-Kanal des Regisseurs, ganz offiziell und legal (und sogar mit englischen Untertiteln versehen), zu Gemüte führen können. Nein, die ganzen aberhundert Seiten des Romanidioten können, soviel ist sicher, in so kurzer Zeit nie und nimmer abgehandelt werden! Wobei mir natürlich klar ist, dass es bei Adaptionen nicht ums “abhandeln” geht, keineswegs – im Gegenteil, die besten und schönsten Adaptionen sind immer die, die sich große Freiheiten nehmen, die sich ihrem Gegenstand von ihrer ganz persönlichen Warte aus nähern. Dennoch, bei einem so langen Roman, da drängt sich angesichts einer so kurzen Laufzeit unweigerlich die Frage auf: Wie soll das gehen?

Und ich muss zugeben, dass die Lösung, die Léon für dieses Problem gefunden hat – das ja in Wirklichkeit, wie schon gesagt, gar kein richtiges Problem ist – dass diese Léonsche Lösung mir durchaus gefallen hat, sehr sogar, es handelt sich nämlich um eine ausgesprochen elegante und gewitzte Lösung: Statt des ganzen Romans verfilmt Léon einfach nur ein Kapitel daraus. Eigentlich kein Kapitel, sondern eine Szene. Denn beim “Idioten” merkt man sich weniger Kapitel als Szenen, es ist weniger ein Roman, der aus Handlung und Erzählung besteht, sondern eher eine Abfolge und Aneinanderreihung von Szenen, die manchmal nur ganz kurz sind, aber oft enorm ausufern, die ganz unvermittelt unerwartete Richtungen einschlagen, die sich plötzlich extrem zuspitzen, nur um irgendwann wieder abzuflachen – oder komplett zu eskalieren.

Mit Szenen meine ich Begegnungen und Gespräche zwischen Menschen, in Salons oder in Gästezimmern oder auch draußen (also gewissermaßen in freier Wildbahn). Meistens sind es mehrere Figuren, die so aufeinandertreffen, manchmal aber auch nur zwei. Und die Szene, die Léon sich ausgesucht hat, ist ganz besonders schön, weil sie sehr viele Personen versammelt, wichtige und weniger wichtige (im Kontext des Romans), und weil sie sehr viele verschiedene emotionale Register zieht. Das ist ja die Stärke des “Idioten”, dass darin immer ganz viele widersprüchliche Empfindungen und Perspektiven aufeinanderprallen und ein wildes Gefühlsgetöse verursachen.

Und was macht Léon nun mit dieser Szene? Ja, so ganz sicher bin ich mir immer noch nicht, was er damit gemacht hat, obwohl ich seinen Film ja gesehen habe, haha! Eigentlich hat er sie relativ textgerecht durchspielen lassen von seinen Darstellern, mit diversen Kürzungen und Abwandlungen freilich, aber verhältnismäßig nahe dran an der Vorlage. (Ich glaube nicht, dass es für meine Ausführung wirklich wichtig ist, Ihnen den Inhalt dieser Szene en detail zu schildern, das würde, auch aufgrund zwingend daran geknüpfter, allgemeiner Handlungserläuterungen, viel zu viel Zeit in Anspruch nehmen, von der Sie, wie ich weiß, viel zu wenig haben). Auf alle Fälle fühlt sich die Szene überhaupt nicht so an, wie ich sie mir vorgestellt habe, als ich sie las! Im Buch mausert sie sich nach einem zögerlichen Trommelwirbel zu einem regelrechten Orkan, im Film hingegen bleibt sie über weite Strecken auf dem Boden der Besonnenheit, gleichwohl ihr narrativer Ablauf identisch ist.

Ist das nun gut oder schlecht? Weiß der Teufel, darum geht es mir auch nicht, ich wüsste nur gerne, warum Léon den Zugang gewählt hat, den er gewählt hat. Einen Zugang nämlich, der in meinen Augen wenig vom Ungestüm hat, das mich am Roman fasziniert hat, kaum etwas von dem Zuviel an Gefühl, dass an allen Ecken und Enden aus Dostojewskis Figuren und aus ihrer Sprache sprüht. Weil es aus meiner Sicht ein eher gesetzter, zugeknöpfter Stil ist, den Léon seiner Verfilmung angedeihen lässt – etwa über eine Schauspielerei, die sehr genau ist und gar nicht zerfahren (beziehungsweise nur auf eine sehr genaue Art zerfahren), eine ruhige, präzise, ökonomische Bildsprache, wie man sie von Filmemachern mit einschlägigen cinephilen Neigungen gut kennt (und deren Gelassenheit vom weichen Schwarz-Weiß der Bilder verstärkt wird), ein Humor, der, wie ich meine, als “trocken” bezeichnet werden könnte und der mich zuweilen sogar an die Arbeiten von Aki Kaurismäki erinnert hat, wie überhaupt der ganze Film. (Kaurismäki hat ja, wie Sie vielleicht wissen, seine Karriere mit einer Verfilmung von Dostojewskis “Schuld und Sühne” begonnen, die zwar insgesamt ganz anders tickt als Léons Film, aber mich dennoch in meiner Assoziation bekräftigt hat.)

Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, ich möchte hier keineswegs behaupten, das Leóns Zugang falsch oder illegitim ist, ganz und gar nicht! Ich wundere mich nur darüber, dass jemand im Zusammenhang mit Dostojewski auf die Idee kommen könnte, einen solchen Zugang zu wählen, zumal bei zeitgleicher Beibehaltung der wesentlichen erzählerischen Zutaten des Ausgangsmaterials. Aber ich fand das Resultat durchaus sympathisch, und stellenweise sogar sehr amüsant. Denn es ist ja, wie ich bei meiner Lektüre des “Idioten” feststellen musste, ein fataler Irrglaube, dass Dostojewski ein “schwerer” oder gar “schwieriger” Autor ist – natürlich ist er das in gewisser Hinsicht auch, aber bei weitem nicht nur!

Seine komische Ader wird viel zu selten ins Licht gerückt – das ist fast wie bei Kafka, der sich ja, sofern es sich dabei nicht um eine bloße Legende handelt, beim Abfassen seiner Geschichten ständig vor Lachen geschüttelt hat. Dostojewski hat auf alle Fälle einen stark ausgeprägten Hang zur Karikatur, dem er sich immer wieder mit großer Lust hingibt, selbst wenn die Szene, die er gerade beschreibt, ganz und gar nicht lustig ist, und es ist Léon hoch anzurechnen, dass er dieses Faible nicht verdrängt, sondern mit sichtlichem Vergnügen übernimmt. Nicht nur das, er spielt General Jepantschin, einen stolzen und schnell gekränkten, in vielerlei Hinsicht tragikomischen Angeber (und eines der häufigsten Ziele von Dostojewskis Spott im “Idioten”), Léon spielt diesen in die Jahre gekommenen Schwerenöter sogar selbst – und das gar nicht mal so übel!

Sonst speist sich der Humor aber eher aus kleinen, verschrobenen Details, wie aus der Lederjacke, die der abgründige Rohling Rogoschin trägt, und die ganz ohne Worte auf den Punkt bringt, das er ein leidenschaftlicher und potenziell gefährlicher Bad Boy ist, zumal mit einem Requisit, das gar nicht zum Ambiente der restlichen Ausstattung passt – wobei, irgendwie passt es doch, denn eigentlich ist diese Ausstattung (der Schauplatz ist ein spärlich möbliertes und sorgsam dekoriertes Zimmer) genau so eingerichtet, dass man sich irgendwo zwischen der Zeit des Romans und der Gegenwart wähnt, ohne genau sagen zu können, warum. Und ebendieser Rogoschin, der insgesamt nur sehr wenige Worte verliert, beginnt an einer Stelle plötzlich auf Russisch zu singen, herzzerreißend schön und voller Gefühl, was aufgrund des scheinbaren Widerspruchs mit seiner ruppigen Erscheinung sehr lustig ist, aber auch unendlich traurig. (Sie müssen bedenken, dass in diesem Film sonst nur Französisch gesprochen wird. Und eine andere Sprache macht natürlich aus jedem Text etwas ganz anderes!)

Dergleichen wunderliche Einfälle sind über den gesamten Film verstreut, der im Übrigen, wie auch die Szene, die ihm zugrunde liegt, viele verschiedene Stimmungen durchläuft. Allerdings verändern sich diese Stimmungen viel unmerklicher als im Buch, und auch als alles aus den Fugen gerät, verbleibt die generelle Ästhetik und Atmosphäre trotzdem in einem gesitteten Rahmen. Wenn ich es mir recht überlege, ist diese Inszenierung womöglich viel näher an der Wirklichkeit dessen dran, wie sich so eine Szene in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts abgespielt hätte, hätte sie sich tatsächlich abgespielt, schließlich war die Wahrung der gängigen Etikette eine nicht zu verlachende Ehrensache, Dostojewski spielt selbst immer wieder auf diesen Umstand an, und ganz so ausgelassen, wie seine Streitgespräche und emotionalen Eruptionen im Buch auf mich wirken, sind sie womöglich nur in meinem Kopf.

Wie dem auch sei, etwas Verspieltes hat dieser kleine Film doch, und falls Sie ein Anhänger einer gewissen Varietät des französischen Kinos sind – ich für meinen Teil muss ja zugeben, dass ich ihr nur bedingt etwas abgewinnen kann – so werden Sie sich mit Sicherheit freuen, hier einige ihrer Vertreterinnen und Vertreter wiederzusehen. Ja, man könnte angesichts ihres so zwanglosen Beisammenseins fast auf die Idee kommen, diese Menschen seien alle befreundet! So sehr wirkt das Ganze wie ein Unterfangen, das eine Gruppe von Gleichgesinnten zu ihrer eigenen Unterhaltung ersonnen hat. Serge Bozon, Sylvie Testud, der Filmkritiker und Historiker Bernard Eisenschitz, sie alle wirken hier wie Teilnehmer eines vergnüglichen Rollenspiels unter guten Bekannten.

Im Grunde macht genau das, genau diese eigentümliche Intimität, einen nicht unwesentlichen Teil des Reizes dieses Filmchens aus! Nur Jeanne Balibar, die ja von weiten Teilen der Anhängerschaft der bereits erwähnten Kinovarietät vergöttert wird (ich muss gestehen, dass sich mir noch immer nicht ganz erschlossen hat, warum), wirkt auch in diesem Film wie Jeanne Balibar, steht für sich wie ein Stern, der ein bisschen heller strahlt als alle anderen. Woran das wohl liegt? An ihrem Tonfall, an ihren Bewegungen? Vielleicht an der unnachahmlich selbstbewussten Art, mit der sie sich einen Schal um ihre Schultern wirft? So oder so, es passt erstaunlich gut zu der Zentralfigur, die sie verkörpert, zur von allen begehrten, zutiefst versehrten, starken und unberechenbaren Nastassja Filippowna.

Jetzt, wo ich ein Weilchen darüber schwadroniert habe – ich hoffe, Sie mit meiner Suade nicht übermäßig beansprucht zu haben – muss ich festhalten, dass es doch gar nicht so läppisch ist, was Léon hier fabriziert hat, nein… eigentlich steckt in diesem kleinen Film viel mehr, als man angesichts seiner Kürze – die, wie schon gesagt, im Vergleich zur einschüchternden Länge der Vorlage umso kürzer erscheint – als man angesichts dieser so trügerischen Kürze annehmen könnte, letztlich steckt sogar bemerkenswert viel drin, auch aus dem tiefsten Inneren des Romans, den Léon bestimmt sehr schätzt! Nur die Besetzung der Titelfigur (also des “Idioten”, des Fürsten Myschkin), aus der werde ich nach wie vor nicht schlau. Er ist doch im Buch so ein unsicherer, wankelmütiger, zerstreuter Mensch, und das macht ihn erst nahbar, denn im Kern ist er ja ein Heiliger, ein Superheld des Edelmuts. (Ich frage mich sogar, ob Dostojewski ihm seine stotternde, menschliche Lächerlichkeit nicht auf den Leib geschrieben hat, um ein bisschen davon abzulenken, wie übermenschlich er in den entscheidendsten Aspekten seines Wesens ist, wie sehr alle anderen Figuren des Romans, die Myschkin allesamt offen oder heimlich lieben und beneiden, ethisch gegen ihn abstinken.)

Laurent Lacotte (der übrigens in der Schlussszene von Leos Carax’ Holy Motors einer der sprechenden Limousinen seine Stimme leiht, aber das nur am Rande) spielt die Figur indes, wie mir scheint, mit ausgesprochener Fassung und innerer Ruhe, sein Myschkin strahlt (gleichwohl seiner Statur durchaus etwas Zerbrechliches eignet) vornehmlich souveränen Gleichmut aus, alles in allem jedenfalls, und wieder muss ich fragen: Wo sind denn da die seelischen Zerwürfnisse abgeblieben, die dem Fürsten aus dem Roman den Schlaf rauben, seinen Redefluss zum Stocken bringen und seine ekstatischen Anfälle befeuern? Oder hat Léon gleichsam den wahren Myschkin erkannt, jenen, vor dessen unverhüllter Darstellung sich Dostojewski gescheut hat, aus Angst, er würde zu sehr als christliche Ikone wahrgenommen werden? Was meinen Sie? Mit Dostojewski kenne ich mich ja, wie ich bereits gesagt habe, nicht wirklich aus… aber mein Gott, jetzt habe ich die Zeit vollkommen übersehen! Es ist schon spät, viel zu spät. Lassen Sie uns das Gespräch ein andermal weiterführen, heute habe ich noch eine dringende Erledigung, ich muss mich sputen. Vielen Dank für die Gastfreundschaft, der Tee war vorzüglich, wie immer – danke, danke, ich finde selbst hinaus, keine Sorge, auf Wiedersehen!

Er verstummte, zog seinen Mantel mit einer ruckartigen Bewegung vom Kleiderhaken, eilte zur Tür und verschwand ebenso plötzlich, wie er gekommen war. Ich sah ihm beunruhigt nach.

L’Idiot eng sub from Pierre Léon on Vimeo.

Les rêveurs du Pont Neuf: Quatre nuits d’un rêveur von Robert Bresson

Es gibt Farben in Quatre nuits d’un rêveur von Robert Bresson, solche die berühren, solche die verletzen, solche die verzerren.

Das Schaffen von Bresson wird gern getrennt zwischen dem Schwarz/Weißen und dem Farbigen. Warum wird klar, wenn man sieht, wie sehr er wirklich mit Farben arbeitet. Neben Antonioni und Godard gehört Bresson zu den wenigen Filmemachern, bei denen der Wechsel zur Farbe immer eine Entscheidung ist. Heute hat sich das irgendwie natürlich gedreht und es gibt wenn dann Filmemacher, bei denen schwarz/weiß eine Entscheidung ist. Wohl sei aber bemerkt, dass Godard über Bressons Au hasard Balthazar sagte: Ein Film in den Farben schwarz und weiß.

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Sie klingen ähnlich wie die ersten Töne von Chaplin, diese Farben bei Bresson. Vor allem Rot ist es in Quatre nuits d’un rêveur, man sieht es ständig. Es ist ein Film über die Liebe, warum also nicht diese Farbe, möchte man fragen. Wie unter anderem Luchino Viscontis Le notti bianchi basiert der Film auf Dostojewskis Novelle Weiße Nächte. Weiß, weil es in der Zeit um die Sonnwende nicht richtig dunkel wird in St. Petersburg. Bei Visconti hat dieses Weiß eine Übersetzung in künstlichen Schneefall bekommen. Ein Film im Studio, der ähnlich mit der Frage der Fiktionalität einer Romantik umgeht wie zuletzt Die Geträumten von Ruth Beckermann. Statt der Illusion der Worte ist es bei Visconti jene der ganzen Welt, der Umgebung, der Zeitlichkeit, des Wartens zusammen, des Tanzes, des Schneefalls. Auch wenn man das Gefühl hat, dass die Figur von Mastroianni den ganzen Film über weiß, dass das eigentlich nichts werden kann, vielleicht. Die Geschichte ist letztlich trotz vieler Anpassungen die gleiche bei allen drei Künstlern. Ein Mann trifft eine Frau, die auf ihre Liebe wartet und daran verzweifelt. Der Mann verliebt sich in die Frau und gerade als sie beginnt darauf einzugehen, kommt der andere Mann doch und die Frau verschwindet mit ihm.

Bei Bresson ist Weiß etwas anderes. Es ist das Papier bevor es bemalt wird, der Urzustand, die Unschuld. Liebe macht Schuld, befleckt, aber auch: Kreiert ein Gemälde. Farbtupfer, abstrakte Farben, die in der Unschärfe in der Tiefe des Bildes von den Reflektionen einer möglichen Nacht erzählen. Farben, die diese Nacht verändern, täuschen, erheben, beleuchten. Der Film findet genau an dieser Schwelle statt. Zwischen dem Weiß und der Farbe, der Leere und der Fülle, der Unschuld und der Schuld. Die große Liebe hinter einer weißen Wand in der vielleicht offensten erotischen Szene eines Filmemachers, bei dem die Erotik normal zwischen den Bildern stattfindet. In einem Schnitt, in der Imagination. Hier jedoch ein nackter Körper. Er streift an der Wand entlang. Auf der anderen Seite der Wand ein Klopfen, eine Verführung, die Wand bleibt weiß. St. Petersburg ist Paris bei Bresson. Ein Paris bevölkert von einer Jugend, auf die Bresson in seinem Spätwerk so sehr den Fokus legte. Man folgt einem Träumer, dessen Blick auf die Stadt mit den unscharfen Farbtupfern harmoniert, es ist seine Wahrnehmung. Leicht abstrakt, sinnlich, verführend, leer. In Die Sanfte von Dostojewski, ebenfalls brillant verfilmt von Bresson in Une femme douce, beschreibt der Schriftsteller letztlich auch diese Figur, den fatalistischen Träumer Jacques aus Quatre nuits d’un rêveur: „Das ganze Problem ist, dass ich ein Träumer bin. Ich war schon damit zufrieden, dass ich genug Material für meine Träume gesammelt hatte. Was sie betraf, so dachte ich, dass sie warten könne.“ So flaniert die Figur in ihre Liebe, alle scheinen immer in die Liebe zu flanieren bei Bresson. Lieben wie das Warten auf einen Brief, der vielleicht nie ankommt, bei dem aber das Warten schon die Liebe ist.

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Aber was ist das hier für eine Liebe zwischen den Farben am Pont Neuf, den Leos Carax Jahre später nicht nur nachbauen hat lassen, sondern ein einen Exzess der Farben zwischen Ufer und Wasser verwandelte, wobei er dabei durchaus die gleichen Fragen stellte wie Bresson: Wenn es eine Illusion ist, lässt du dich dann trotzdem fallen? Statt des Sturms bei Carax gibt es bei Bresson das Flüstern auf der Brücke. Carax zeigt das Fallen, Bresson nicht. Er erzählt von einer Romantik, die nicht aufgeht. Durchaus mit Humor für das Fatale. Ein Streben nach Idealen, nach Illusionen, nach Blicken. Jacques verfolgt Frauen mit Blicken wie der Mann in Dans la ville de Sylvia von José Luis Guerín. Lange Blicke, dann senkt sich die Kamera wie so oft bei Bresson auf die Schritte, dann wieder ein Blick. Blicke und Schritte. Schon öfter beschlich mich das Gefühl, vor allem bei L‘argent, dass Bresson-Filme eigentlich Verfolgungsjagden sind, zumindest sollte man sie so betrachten. Alle folgen sich, die Kamera folgt ihnen, man folgt und blickt. Jacques geht nicht auf die Frauen zu, obwohl sie seine Blicke erwidern. Er ist einer dieser magnetischen Modelle von Bresson, nicht zuletzt wegen seiner, typisch für Bresson, beinahe zusammengewachsenen Augenbrauen. Seine Augen saugen Farben auf.

Sie dagegen heißt Marthe. Sie ist suizidaler als Maria Schell bei Visconti. Sie hängt an einem Moment der unschuldigen Schuld für die Ewigkeit. Nackt im Zimmer mit dem Untermieter, ihre Mutter schreit ihren Namen, sie bewegt sich nicht, die Tür ist abgeschlossen. Ein Versprechen, eine Schuld, ein Gefängnis und ja, ein Verschwinden. In ihr und ihrem Zimmer finden sich die weißen Spuren einer Unschuld, die Bresson faszinieren. Bresson reflektiert das durchaus im Film. Ein älterer Filmemacher und seine Faszination mit der Jungfräulichkeit, man denkt dabei an Manoel de Oliveira. Früher wird Marthe mit ihrer Mutter zu einer Kinopremiere eingeladen. Sie sehen etwas, dass auffällige Ähnlichkeit zu Tarantinos Reservoir Dogs hat. Voller künstlicher Farben, vor allem Rot. Marthe sagt ihrer Mutter, dass sie in eine Falle geraten seien und die beiden verlassen das Kino.

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In den vier Nächten, an denen Marthe und Jacques sich auf der Brücke treffen, tauchen sie in ein Lichtermeer. Vor allem die bateaux mouches, denen sie sich kaum entziehen können, erzeugen diffuse, fast blendende Lichter und Farben, begleitet von Musikern auf dem Boot, eine Nacht für Träumer und Geträumte. In diesen Bildern findet sich die Hysterie von Dostojewski kondensiert. Eine Hysterie, die Bresson sonst in das Reich der Suggestion schiebt und darüber auf eine Unsicherheit verweist, eine Unsicherheit gegenüber der Ernsthaftigkeit der Gefühle. Sie sind forciert wie der Blick auf den Mond am Ende, als Jacques Marthes Kopf packt und ihn gegen den Mond richtet, weil sie nicht mit ihm in diesem Moment ist oder weil sie nicht dem Bild entspricht, das er zeichnen kann. Sie sind diffus und unklar wie die Farben des Films, die meist in der Unschärfe tanzen und wenn sie kräftig aufleuchten, wie beim Schal den Jacques Marthe umbindet, dann sind sie vergänglich. Eine Hysterie, die sich nicht zeigt und die man genau deshalb spürt.

Die Erzählstimme verlagert Bresson mit wenigen Ausnahmen trotz seines großen Gespürs für Voice Over aus der ersten Person (man denke an Journal d‘un curé de campagne oder Pickpocket) fast im Stile Chris Markers auf einen Tape Recorder. Was Jacques darin sagt, erinnert mehr an Duras als Dostojewski. Hier ist ein Fieber, eine Hingabe, Liebe, aber es ist zeitlich verschoben, sie wird entfremdet wiedergegeben. Jacques hört es sich an. Mal liegt er dabei auf dem Bett und träumt, mal hört er es während er malt, womöglich als Inspiration und einmal spielt er es heimlich in einem Bus ab und irritiert damit zwei ältere Fahrgäste. Es gibt eine merkwürdige Distanz zu dieser Hysterie, ein Spiel, eine Arroganz, eine Hilflosigkeit.

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Es gibt diese Tendenz, den Film zu verteidigen, in dem man sagt, dass er weitaus subtiler und vielschichtiger mit Romantik umgeht (oft fällt hier das Wort Humor), als man zunächst glaubt. Quatre nuits d’un rêveur setzt diesen Humor aber nicht auf. Er ist einfach Teil der Hilflosigkeit und der romantischen Hingabe. Es ist so, dass diese Welt samt ihrer Farben und Nicht-Farben der Erfahrungswelt der Figuren entspricht. Wie so oft bei Bresson ist es nicht nur ein Film auf der Suche, sondern auch ein Film über eine Suche. Sie mündet hier in eine Enttäuschung, die es vielleicht genauso wenig gab wie die Hoffnung. Am Ende gibt es immer noch ein Weiß. Aber nur bei Jacques. Es ist gleichermaßen seine Leere als auch seine Unschuld. Marthe dagegen verschwindet in den farbigen Lichtern der Großstadt mit einem roten Schal.