33 Jahre später: Berlin 10/90 und Dear Doc von Robert Kramer

»My father sat there in the browns and beiges and the television was one of his few pleasures.«1

Ich sitze in der Kinemathek und schaue auf den Potsdamer Platz. Es ist nur ein kleiner Fußweg zu den Orten, an denen Robert Kramer gefilmt hat, um seinen Film, die Plan-séquence Berlin 10/90, zu realisieren: der Gropiusbau, die Topographie des Terrors, das Brandenburger Tor. Der gut einstündige Beitrag für den französischen Fernsehsender La Sept endet mit einer Geste, bei der die Hand Kramers Wasser aus der Badewanne schöpft. Man hört, wie er sich wäscht, vielleicht das Gesicht. Eine Geste des Aufwachens.

Berlin 25 Octobre 1990 15h15-16h15 Plan-séquence

Berlin 10/90 durchschreitet einen Trancezustand, einen Traum. Über eine Stunde entfaltet sich ein Gefühl, das sich langsam mit Kramers gedämpftem Monolog einschleicht. Dieses Gefühl haftet an den Worten, aber die Worte sind nicht in der Lage, es zu benennen. Es ist nicht sicher, ob die persönlichen Details – die Geschichten über seinen Vater und seine Mutter, die Linien, die er durch seine Erinnerungen zieht, die Beschreibungen, die er mit seiner Gestik untermalt – tatsächliche Erinnerungen sind oder vage Verbindungen zwischen einzelnen Fragmenten. Etwas Nebeliges umgibt seine Schilderungen.

Berlin, 1930. Kramers Vater lebt in Berlin. Berlin Alexanderplatz. Drei Jahre später kehrt er nach New York zurück. Seine Mutter flieht ebenfalls nach New York. Sie war Studentin am Bauhaus. Sie heiraten.

Das sind die Fakten, die wir haben. Robert Kramer weiß auch nicht mehr. Es ist, als ob er sich eines Berlins erinnern möchte – ein Berlin, das durch die Erinnerungen seines Vaters durchschimmert. Erinnerungen, die er nie erzählt bekommen hat. Als ob man durch Nebel blick. Das Opake des Nebels erlaubt Schemen zu erkennen, deren Umrisse Kramer mit eigenen Wünschen füllt. Bilder von Berlin, wie sein Vater es wohl durchschritt, durchwoben von Geschichte, nach dem Fall der Mauer. Wie in Trance vermischen sich Bilder von Erinnerung und Gegenwart. Es tropft der Wasserhahn.

»J’embrasse les fantômes même sur la bouche. Je nage dedans. Ma manière d’avancer est le zoom. Le zoom avant. Je voyage dans la matière, dans un détail, vers un fond d’ambiguïté solide comme mes mains.«2

Der Zoom ist die Geste einer Fortbewegung. Die spärlichen Spuren, wreckage, kaum handfeste Orientierungspunkte der Erinnerung, machen die extreme Konzentration notwendig, die der Zoom gewährt. Eine Bewegung, um im Nebel mehr zu sehen als Schemen. Das Gefühl der Klaustrophobie und gleichzeitigen Verlorenheit, das sich in dieser Verdichtung manifestiert, ist bilder- und wörterlos, es ist so ephemer wie die Geister, die Phantome, die Kramer versucht zu berühren. Die Einschusslöcher, die er in Berlin filmt, auf die er zoomt, an den Fassaden der Gebäude – sind es die unsichtbaren Einschusslöcher in Kramers Körper? Wundkanal: eine Schussverletzung, wenn die Kugel durch den Körper einen Durchgang hinterlässt. Eine Wunde, ein wunder Punkt, ein Kanal, ein Fernsehkanal, ein Medium, ein Durchgang, durch dem mach sich der Wunde gewahr wird, der selber eine Wunde ist, durch den man zur Verletzung gelangt.

»There is a kind of sadness. It has to do with subdued light, thick, expensive textures, fabrics in shades of browns and beige, drapes for the windows and rugs covering out to the walls. Everything turned inward, away from the harsh world outside, a secret space. […] There was something suffocating, something unsaid, something almost murderous, and there was comforting, there was this … couple.«3

Der Zoom ist ein Medium. Der Zoom macht sichtbar, wie Kramer sich den Erinnerungen nähert, durch die Distanz hinweg, er ist Durchgang und Mittel zugleich. Bilder im Fernsehbildschirm, der auf den Fliesen steht. Es ist ein Gerät, das den Vater heraufbeschwört. Die Figur des Vaters, der vor dem Fernseher sitzt, so wie Kramer vor seinem Fernseher »almost ›channelling‹ his father«4. Die suchende Bewegung der Kamera. Sie bewegt sich stets, entzieht sich schnell dem Gezeigten. Flüchtige Bilder, die man im Fernseher sieht, und flüchtige Bilder, die den Fernseher zeigen. Die Rastlosigkeit ist Schutz, der Nebel auch Barriere, der Fernseher eine Distanzierung.

»That I liked these acrobatics, these adjustments of distance, and trying to find the right way to see it, the right distance, the right angle, was very helpful, for in the next period we were going to be dragged out of the familiar waters and taken to places were there were no charts to navigate with. You were going to have to find your own way.«5

Der Weg, die lange Reise. Von Europa nach Amerika, von Amerika zurück nach Europa. Es gibt keine eindeutige Richtung mehr, in die man geht, in die man blickt. »I thought I would use this as sort of a locus, a focus, a center, another crossroads like Berlin for my plan-séquence.«6 Kramer beschreibt sein Vorgehen. Er nimmt die Bilder, die man im Fernseher sieht, als Angelpunkt, als Ausgangspunkt, als einen Ort, den er nutzt, um in verschiedene Richtungen zu blicken. Die Bilder im Fernseher gleichen einem »memory tape«, es zeigt die Bilder, wie Kramer sie sieht – zufällig, assoziativ, fragmentiert.


Seine Subjektivität ist das Unerkennbare beim Blicken, die Linse, durch die er auf die Dinge blickt. Sein Körper, seine Erinnerungen, seine Worte – er selbst ist bereits Medium, und zugleich blickt er auf ein Medium: auf die Überlagerung der verschiedenen Bildebenen, die Verschiebung der Erinnerungen, das Sichtbarwerden des Filmens. Kramer setzt sich vor die Fliesen in seinem Badezimmer. Auf engstem Raum, mit dem Rücken zur Wand, wird hier an diesem Ort in einer Stunde konzentriert, kanalisiert, verdichtet, heran gezoomt, wodurch die Überlagerungen seiner Perspektiven sichtbar werden. Zusammengedrückte Augenlider, um durch den Nebel hindurch zu erkennen. Und zugleich drängt Kramers Bedürfnis nach Distanz zur Vergangenheit gegen das Erinnern. Ich spüre ebenfalls meinen Widerstand gegen die Bilder. Es ist mir unangenehm den Ausschnitt seiner Frau Erica zu sehen, in den er reinzoomt. Es ist mir unangenehm, seinen monotonen, assoziativen Monologen zu lauschen, in denen er sich verliert. Einem Albtraum gleich, dem ich mich verwehren möchte. Das Tropfen geht weiter.

Dear Doc – ein Post-Scriptum oder eine Dokumentation der Post-Produktion?

Dear Doc hat im Französischen den Titel Lettre à Paul. Ist es ein Brief für Paul oder Doc? Wer ist Doc? Kramer ist sich nicht sicher. Doc ist eine Figur – wieder eine Kreuzung: »Doc is a synthesis, one expression of our generation and of the creative tension between two very different people.«7 Doc ist die Figur, die mit Kramer in seinen Filmen auf Reisen geht, eine Figur, die von Paul McIsaac verkörpert wird. In Lettre à Paul ist ein Timecode sichtbar im Bild, eine ständige Erinnerung, dass wir auf einen Bildschirm blicken. Die Unmöglichkeit einer genauen Zuordnung, das ist das Thema dieses Films. Zu Beginn zoomt die Kamera – ein Fernsehbild, da für das Fernsehen produziert – in das Bild des Fernsehers im Tonstudio. Was ist Fernsehbild erster Ordnung? Was ist Fernsehbild zweiter Ordnung? Robert und Paul, ich kann sie nicht auseinanderhalten. Ihre wettergegerbten und der Zeit gestandenen Gesichter, ihre weichen, tiefen und an die Ostküste erinnernden Stimmen. Im Treiben der Musik und der Bilder verlieren sich die Grenzen.

»It is difficult to distinguish between the way one is formed by the life around one, and the form one gives to things just by thinking about them with the specific means one has at ones disposal.«8

Fernseher, Paul und Doc, sie gewähren Distanz, um zu sehen: »Always looking. Sometimes just looking away.«9 Wie Perseus den Spiegel nimmt, um das Unanschaubare zu betrachten, so bewegen sich Kramers Bilder zwischen Schauen und Wegschauen. Er filmt nicht direkt, er befindet sich in ständiger Bewegung, in endlosem Suchen der richtigen Perspektive. Vielleicht ist es Angst, die ihn, wie auch die mythologische Figur, davon abhält ins Direkte zu schauen. Vielleicht ist diese Form des Schauens die Manifestation der Unmöglichkeit einer direkten Konfrontation, die Personifikation der Unmöglichkeit anhand von Doc. Die Rastlosigkeit, die Kramer beschreibt, ist die Bewegung des Wegschauens. Das Exil, die Reise: »He has some disease… a virus, alcohol, isolation?«10 Es gibt viele Gründe für die Distanz, viele Mittel, um sie herzustellen. Sie beschreiben die Schwierigkeit, die Unmöglichkeit des Bleibens, des direkten Schauens.

Kramer meidet das Wort filming, looking muss als Ersatz herhalten.11 Doc ist die Möglichkeit, Paul die Verkörperung. »Movies are the means by which one packs one’s bag and walks away from everything that the room and habit and society and family represent.«12 Es überlagern sich Paul, Kramer und Doc, Bilder und Bildschirme mit weiteren Bildern von Bildschirmen auf meinem Bildschirm.

»Making movies is about moving towards and moving away, about arriving and departing. Or about the very distance necessary to make them.«13 Das Filmemachen ist für Kramer eine Form des Rückzugs, oder es bedarf der Distanz einer Beobachterposition, wie Kramer sie einnimmt – auch in Wundkanal und Notre Nazi.14 Kramer zeigt uns auch die Rückseite des Fernsehers. Das Making of, das Postscriptum, die Hintergründe, die sichtbar gemacht werden können aus dieser Perspektive. Die Vorderseite ist der Bildschirm, auf dem die Bilder sind. Und doch umkreist die Kamera den Fernseher, entzieht sich den Bildern, die er zeigt. Der Fernseher und seine Umkreisung, die Annäherung über die Rückseite ist ebenfalls die Annäherung durch das Spiegelbild.

Traumhaft sind die Bilder, die Kramer kreiert. Durch sie wird eine Barriere erkennbar, die er fühlt und denkt, er findet keinen Zugang zu ihnen und so ist das Filmemachen ein Heraustreten aus der eigenen Position und die Hoffnung eines Zugangs, eines Kanals in das Wesentliche. In Dear Doc will Doc einen kurzen Nap halten, es folgen Bilder aus einem Krematorium. Flammen und ein Sarg. Ich will mich mit meinen Worten nicht dem Albtraum weiter nähern, auf den Kramer mit diesen Bildern verweist, ohne ihn anzusprechen. Ich spüre wieder die Beklemmung, den Widerstand.

Zwischen die Aufnahmen von Route One sind Einstellungen aus dem Studio geschnitten, Bilder der Vertonung von Route One. Dort steht ein Fernseher auf einem Podest. Alle sehen ihn und improvisieren die Musik zu den Bildern. Der Fernseher führt Familien zusammen, und hier im Studio ist sie eine, die nicht, wie Kramer sagt, durch den Zufall zusammengeführt wurde. Das Filmemachen stiftet Familie, sie sammelt sich vor dem Bildschirm. Im Gespräch mit Paul, oder dem Doc, sagt Kramer, es gehe ihm nicht darum, dass er eine Familie habe. Es gehe ihm um die Verbindung. Vielleicht auch deshalb endet Dear Doc mit Bildern von seiner Tochter Keja und Erica, so wie er begonnen hat: Der Editing Room ist ein Zuhause. Man glaubt beinahe, im Studio sitze der Vater schemenhaft in seinem Sessel stumm vor dem Fernseher. Die Familie versammelt sich, ordnet, vertont und betrachtet die Bilder, die man darin sieht. Der Fernseher als fixer Punkt, ein Objekt, ein Lokus, zu dem man sich in ständiger Bewegung, in konstanter Aushandlung befindet. Zu dem, was gezeigt wird, zu jenen, die er versammelt, zu den Bildern, die überlagert werden, denen man sich verweigert, die man im Fernseher sieht.

scavage

Die Fragmente und Reste, die ich aufhebe und betrachte. Die Bewegung der Distanzierung und das Zusammensetzen der Trümmer, der Erinnerungen, die einem wortlos hinterlassen werden, in den 1950ern und 1960ern in Amerika, in Kramers Kindheit und Jugend. Eine Fluchtbewegung, die eigentlich keine Flucht ist, sondern eine Ablehnungshaltung, eine Abstandsgestus, die aber immer wieder zurückführt in die Erinnerungen der Kindheit und der Trauer des Vergangenen, die nicht wieder herstellbar sind. Man muss weiterziehen, versuchen mit den Resten, Sinn zu stiften.

1975 in Cannes spricht Kramer in einem Interview von »reclaim«, vom reclaiming der eigenen Geschichte und jener Amerikas. Das, wovon er sich in seiner politischen Arbeit distanziert hatte, der persönlichen Geschichte, einer Familiengeschichte, einer Geschichte der Migration. Kramer spricht in dem Interview von einer Frau, einer Immigrantin, deren Geschichte im Film erzählt wird und die weder fiktiv noch dokumentarisch sei. Bilder aus ihrem Leben passen nicht zu den Anekdoten und ihrer Person. Es ist ein Prozess des scavaging, reclaiming. Im Interview spricht Kramer von einem Ordner, der abtrünnige, nebensächliche und spontane Ideen versammelt, um daraus einen Film zu machen. Diese Ideen sind noch kleiner, noch fragmentarischer, noch disparater als Identitäten.15 Die Bilder im Fernseher sind nicht einer Person oder Perspektive zugeschrieben, die Bilder formen die Möglichkeit einer Perspektive.

»It’s like one of the characteristics of how we end up defining filmmaking for ourselves, which is that the scope of the film is the scope of our concerns. It’s not like a product. We mine what we’re living through.«16

1990 – das Ende der Hoffnung für Kramer auf eine Zukunft, eine Möglichkeit, für die er sich eingesetzt hatte. Es ist das Jahr, in dem die beiden Filme Berlin 10/90 und Dear Doc entstehen. Noch eine Kreuzung. Vielleicht ein Zeitpunkt, an dem die beiden Filme in Erinnerungen eine Möglichkeit suchen, einen Moment der Retrospektive bilden.

Es ist nicht einfach nachzuvollziehen, was Kramer in Berlin 10/90 und Dear Doc macht. Seine Filme sind in ständiger Bewegung, die Stimmen in ihnen schwer voneinander zu trennen, die Bilder in mehrfacher Überlagerung, die Ideen und Gegenstände in höchster Konzentration, und doch so verschwommen, unerkenntlich und entfernt. Diese extremen Mittel – die Fragmentierung, das assoziative Sprechen, die Überlagerung der Bilder – sie ermöglichen ihm das Finden neuer Perspektiven, aber es sind auch genau diese Mittel, die es so schwer machen, diesen Spuren zu folgen und die mich wieder in das Weite stoßen. Ich blicke auf den Potsdamer Platz, in die Leere einer endlosen Baustelle. Kramers Filme gleichen nicht der Konkretion der neuen Gebäude, die dort heute stehen. Diese Bewegung des Suchens, des Scavagings, des Reclaimings, der Wiederanordung funktionieren in Berlin 10/90 und Dear Doc rein auf der zweiten Ebene. Er filmt das Filmen, den Ort zweiter Ordnung, das Schauen zweiter Ordnung, das Fernsehbild als Perspektive unendlicher Möglichkeiten oder Assoziationen. Der Fernseher ist der Ort, das Objekt, an dem all das zusammenkommen kann und durch den es erlebbar wird.

Die Fragmente der Erinnerungen sind nicht notwendigerweise Kramers, vielleicht sind sie erdacht, erträumt, wie das Berlin der 1930er, vielleicht sind sie Kompilationen, Überlagerungen verschiedener Personen, vielleicht sind sie in Annäherung, von hinten, über die Schulter erschlichen. Das Filmen schafft eine Vielzahl an möglichen Erzählungen, Sichtweisen, Gemeinschaften.

Paul McIsaac schreibt vor Kramers Tod von einer möglichen Fortführung, einer Wiederbelebung der Figur Docs: »How would we do that? We’d walk and talk. Robert would write, we’d talk some more, he’d rewrite. We’d share books, films and audio tapes and tales and secrets from the past. We open to each other’s paranoia and dreams. We’d drink, get high, share long meals. Doc and his relationship to certain ideas and places would begin to emerge. The process of discovering could begin again.«17

Diese Form und Methode der Arbeit, der endlosen Möglichkeiten neuer Perspektivierungen, gewähren eine immer fortwährende Suche nach Fragmenten, nach Mitteln und nach der richtigen Verortung, für die Kramer und McIsaac offenbleiben. Sie finden eine Art der Arbeit, die sich immer wieder aktualisieren lassen und weitergeführt werden kann. Es stellt sich mir aber auch die Frage, ob eine Fortführung, ein Anhang nach Anhang nach Anhang, vonnöten wäre. Es gibt sicherlich viele dieser Figuren in Filmen: Männer, die nach dem Sinn des Lebens suchen, rastlos, gequält, mit denen sich andere identifizieren dürfen. Genau so wie die Familien, die Gemeinschaften, die sich um den Fernseher versammeln, nicht frei von hierarchischen und patriarchalen Strukturen sind, so suchen, finden und reproduzieren Kramer und McIsaac vor allem Perspektiven, die den beiden Männern am nächsten sind. Der Fernseher und der Vater sind der Lokus, der Ausgangspunkt, aber die sich wiederholende Rückkehr und Rückbesinnung auf die familiäre Ordnung der Gemeinschaft eröffnet nicht neue Sichtweisen, sondern scheint allein Faszination zu bleiben. Das Utopische in dieser Arbeitsform begeistert mich, aber mit der Zeit wächst ein Unbehagen, mich diesen Worten und Einstellungen auszusetzen, und ich möchte nun aufhören und wieder aufwachen.

1 Robert Kramer: »Snap Shots«, in: Vincent Vatrican und Cédric Venail (Hg.): trajets à travers le cinéma de Robert Kramer. Aix-en-Provence 2001, S. 7–23.

2 Robert Kramer.: »Prologue d’une guerre«, in: id., Cyril Beghin und Cécile Wajsbrot (Hg.): Notes de la forteresse (1967-1999). Paris 2019, S. 253–255, hier S. 253. Übersetzung: »Ich küsse die Geister sogar auf den Mund. Ich schwimme in ihnen. Meine Art, mich fortzubewegen, ist der Zoom. Der Zoom-in. Ich reise in die Materie, in ein Detail, zu einem Grund der Zweideutigkeit, der so fest ist wie meine Hände.«

3 Kramer: »Snap Shots«.

4 Hironobu Baba: »Robert Kramer and the Jewish- German Question«, in: rouge 9 (2006).

5 Kramer: »Snap Shots«.

6 Berlin 10/90 (Robert Kramer, FR 1991), 63 min.

7 Paul McIsaac: »Creating Doc«, in: http://www.windwalk.net/writing/rk_mci.htm 1998.

8 Kramer: »Snap Shots«.

9 Dear Doc (Robert Kramer, FR/US 1990), 35 min.

10 McIsaac: »Creating Doc«.

11 Dear Doc.

12 Kramer: »Snap Shots«.

13 Dear Doc.

14 Der Film Notre Nazi (BRD/FR 1984) von Robert Kramer wurde parallel zu von Wundkanal (BRD/FR 1984) von Thomas Harlan gedreht und beleuchtet die Dreharbeiten und Harlans Arbeit während des Drehs.

15 Robert Kramer und John Douglas: »Reclaiming our past, reclaiming our beginning«, in: Jump Cut 10-11 (1976), S. 6–8.

16 Kramer und Douglas: »Reclaiming our past, reclaiming our beginning«, S. 6.

17 McIsaac: »Creating Doc«.

“In other words, this morning, I went to church alone”

Forum Expanded Gruppenausstellung: An Atypical Orbit

von Florian Weigl

Der Eingang ist ein Abstieg. Ich scanne mein Ticket und gehe im sanften Gefälle einen Schacht hinunter, der mich tiefer unter die Erde des ehemaligen Krematoriums im silent green trägt. Der Tod ist hier längst Event geworden, nahtlos eingefädelt in die Pragmatik eines Kulturquartiers. So wie das silent green mit seiner Kuppelhalle seit seiner Einweihung in 2013 ein fester Spielort des Forum Expanded ist, ist auch die Betonhalle — ein unterirdischer Hallenkomplex unter dem silent green — seit ihrer Fertigstellung in 2019 fester Ort für die Gruppenausstellung. Das Forum Expanded hat sich mit seiner Gründung 2006 vor allem den Spielweisen des Films verschrieben, die dessen Zwischenräume ausloten. Dies meinte immer auch Installationen, Videoarbeiten und eine allgemeine Nähe zu den Galerien als Orte, die sich mit dem Kino überschneiden. Dieses Jahr steht die Ausstellung unter dem Titel An Atypical Orbit und beschäftigt sich mit „künstlerische Positionen, die sich mit zeitlichen und räumlichen Gräben konfrontiert sehen, die überbrückt oder ausgehalten werden müssen.“

Die erste Installation ist am Ende des Schachts über den Eingang zu der Halle projiziert. Man sieht ein mittelaltes vietnamesischen Paar, auf einer Matratze träumen. Es sind langsame, schlafsichere Bilder, die einen beruhigen, aber in der Weite des Gangs etwas verloren gehen. (Es handelt sich wie ich auf dem Rückweg herausfinde um Dreams – der ersten von fünf Arbeiten Tenzin Phuntsongs.) Etwas versteckt in der Ecke und nicht offiziell Teil des Programms wartet zuerst eine Installation von Michael Snow, Puccini Conservato, die als eine posthume Würdigung für den kürzlich verstorbenen Filmemacher und Künstler ausgestellt ist. Das Werk wird hier tonlos auf einem alten 4:3 Röhrenfernseher gezeigt. In dem Film spielt Snow etwas Puccini auf einem PANASONIC-CD-Spieler und versucht, den Rhythmus der Musik mit seiner handgeführten Kamera nachzuahmen, ehe er Versatzstücke von Naturaufnahmen zwischenschneidet: eine Blumenwiese, Brennholz im Kamin. Nimmt man diesem Konzept jedoch die Musik, bleibt nur eine schnelle Abnutzung von Oberflächen, die sich nur begrenzt von selbst poetisieren.

Im Foyer mit seiner verlassenen Bar ist ein Tribut für den 2022 verstorbenen Takahiko Iimuras aufgebaut. Eine Sechs-Kanal-Videoinstallation versucht, das erste vom Arsenal aufgeführte Programm seiner Werke zu rekonstruieren. Iimura war einer der Pioniere der Videotechnik, das Arsenal aber damals noch nicht in der Lage, diese auf eine Leinwand zu projizieren. So wurden kurzerhand sechs Röhrenfernseher angeschafft und miteinander verbunden, um die Werke zeigen zu können. Eine Anordnung, die auch im silent green reproduziert wird. Gezeigt werden vier Arbeiten – A Chair, Blinking, Time Tunnel und I Am (Not) Takahiko Iimura, I Am (Not) Akiko Iimura – von denen ich Blinking, einen zweiminütigen Flickerfilm, der die üblichen Fernsehtestbilder in seine Frequenz einarbeitet, am besten finde. I Am / I Am (Not) ist die Art von struktureller Arbeit, die in der Formstrenge ihrer Konzeption ihre Schönheit und Schwäche hat. Die Kamera rotiert um Takahiko und Akiko Iimura, während jede Einstellung mit einem Sprechakt gleichgesetzt wird, der die Identität entweder negiert, auffängt, spiegelt, oder auf den Zuschauer abschiebt. Der Witz ist, dass es keine lineare Korrelation zwischen der Einstellung und der Einschreibung gibt, sondern jede Perspektive einmal durchgespielt wird, was das Endergebnis aber auch wortwörtlich um sich selbst kreisen lässt. Time Tunnel, der mit 32 Minuten längste Film im Programm, verfolgt einen ähnlichen strukturellen Ansatz. Als Zeitreisefilm mit Licht und Countdown, entfaltet er schnell einen hypnotischen Sog. Es sind die Verstolperer, die Ungereimtheiten in denen sich der Rhythmus zurücksetzt und neu formatiert, die mich einnehmen. Menschen kommen, setzen sich, gehen wieder. Erst nach etwa zwanzig Minuten löse ich mich, gehe weiter in den Hauptraum und bin überfordert.

Time Tunnel: Takahiko Iimura at Kino Arsenal, 18. April 1973

Der Ton ist ein Zusammenprall aller Werke. Er schwimmt von einer Installation zur anderen, mischt sich ein, zieht dann auch wieder ab, nur um an anderen Orten erneut überraschend aufzutauchen. Es ist diese Gleichzeitigkeit an Gefühlen und Eindrücken, die es auszuhalten und einzuordnen gilt. Die Werke sind jeweils auf einer der drei Wände verlagert. Links Eduardo Williams A Very Long Gif, mittig Wali Raads Comrade leader, comrade leader, how nice to see you und rechts die verbleibenden Arbeiten von Tenzin Phuntsong; eine Zwei-Kanal-Videoinstallation namens Father Mother und drei Einzelkanalinstallationen (Summer Grass, Dancing Boy und Achala). Williams Werk ist mit Abstand das bekannteste der drei Künstler und mit 72 Minuten auch das längste Werk der Ausstellung. Es ist entgegen des Titels kein .gif, sondern eine Videoinstallation mit drei teilweise changierenden Kreisen. Der größte, mittlere Kreis zeigt Aufnahmen einer pillenförmigen Kamera, die Williams geschluckt hat und die ihren Weg durch seinen Verdauungstrakt macht. Die beiden kleineren Kreise sind Loops von Alltagsszenen, aufgenommen mit einem Teleobjektiv. Ein Wechselspiel der Intimitäten. Die Aufnahmen haben einen Grad der Abstraktheit, der die Verortung unmöglich macht, ohne komplett die Körperlichkeit aufzugeben. Hier wird das Bild im wörtlichsten Sinne produziert.

A Very Long Gif

Die Arbeit wurde wegen der abstrakten Qualität der Körperaufnahmen mit Lucien Castaing-Taylors und Véréna Paravels De Humani Corporis Fabrica verglichen, findet im Kontext der Ausstellung aber seine natürliche Spannung im Dialog mit Phuntsongs Einzelinstallationen, zu denen ich nach einer Weile hinüberwandere. Braucht Williams für seinen Intimitätsentwurf die Größe der Galerie, bleibt Phuntsong bei den Smartphones. Durch das einjährige Verbot von WeChat in den USA, das die Kommunikation zwischen Phuntsong und seiner Familie abschnitt, wird das Alltägliche hier zum Schatz erhoben und die Kästen teilweise mit Jade verziert. Die Aufnahmen haben eine Unmittelbarkeit, die seinen Videoarbeiten durch ihre Bildgröße schlicht fehlt. Meine liebste dieser Aufnahmen ist Summer Grass. Man sieht Eindrücke aus der Mongolei, das Weideland, die Schafe, die Herdenhunde, die Arbeit. Einmal gibt es einen Cut und wir sehen eine handgehaltene Einstellung, während die Kamera auf dem Pferd mitreitet. Das Kernproblem in der Rezeption ethnographischer Arbeiten ist oft, dass man tendenziell mehr in den Bildern lesen will, als was sie eigentlich zeigen wollen oder können. Ich lächle und schaue zurück zu A Very Long Gif, wo der Körper nun dem Ozean gewichen ist, in einer noch größeren Bewegung aufgeht. Die beiden äußeren Kreise wechseln Positionen, entfernen sich langsam aus dem Frame, doch die Wellen bleiben beständig. Dann wird der Bildschirm schwarz. Der Film startet von vorne. Ich sehe einen Raum in einem Krankenhaus, Williams und seinen Partner, ein Doktor. Die pillenförmige Kamera wird dem Filmemacher gereicht, ein kurzes Lächeln, dann ist sie geschluckt und die Körperwelten beginnen von vorne. Ich frage mich, wo die Grenzen dieses „Aushaltens“ sind, wo die Arbeiten sich erlauben zusammenzubrechen und nicht mehr von vorne beginnen, aber finde keine Antworten.

Zwischen den Arbeiten Williams und Phuntsong, spielt Wali Raads Comrade leader, comrade leader, how nice to see you ein einminütiger Zwei-Kanal Loop. Raad projiziert Wasserfälle an die Wand, die von der Decke zum Boden fließen und wegen ihrer Größe bereits aus der Vorhalle erkennbar sind. Nähert man sich ihnen, erkennt man kleine Pappstatuen ehemaliger Anführer, die am Boden positioniert sind und von der Wassermenge erschlagen wirken. Die Tafel auf der Seite erklärt, dass die zahlreichen Milizen, die sich während den libanesischen Kriegen formten, die Wasserfälle nach den politischen Anführern der Länder benannten, die sie unterstützen. Als sich die Allianzen änderten, wurden die Wasserfälle schlicht umbenannt. Wieder und wieder und wieder. Heute sind die Wasserfälle im Lebanon als „Fickle Falls“ bekannt. Raad versucht bewusst nicht Bedeutungshoheit zurückzugewinnen, sondern die Ironie dieses Unterfangens aufzuzeigen. Eine kleine, große Arbeit.

Comrade leader, comrade leader, how nice to see you

Etwas abgeschirmt am Ende des Rundgangs wird Tamer El Saids Borrowing A Family Album gezeigt. El Said arbeitet dabei mit Erinnerungsformationen, versucht das Persönliche im Familienarchiv einer griechischen Familie zu finden. El Said hatte eine Schwester, Eman, die, als sie vier oder fünf Jahre alt war, verschwand. Spielzeug, Bilder, Name. El Said war sich ihrer Existenz deswegen lange Zeit unsicher, erfand neue Erinnerungen und Projektionsflächen, um sie am Leben zu halten. Als er 14 wird, erwähnt ein Verwandter versehentlich ihren Tod. Borrowing A Family Album spielt mit diesen Ersatzerinnerungen, in denen die eigene Geschichte in den Dokumenten anderer fortgeschrieben wird.

Die Installation selbst ist raumgreifend und komplex. Es ist eine Sechs-Kanal-Videoinstallation von Super8-Aufnahmen des Familienarchivs. (Ein Kind lernt laufen. Der Vater lächelt breit und führt es an den Händen.) Ein Fototisch mit Aufnahmen aus dem Familienalbum und zwei kleinere Loops. Darauf ebenfalls zwei Fotoalben mit Abzügen aus dem Familienalbum und die Bitte an die Besucher, ihre Assoziationen zu den Bildern zu teilen. Die Fotoalben sind fast bis zum Ende hin gefüllt. In Chinesisch, Koreanisch, Deutsch, Spanisch, Italienisch und mehr oder weniger festem Englisch. Manche beschreiben nur die Bilder, andere schreiben aus der Perspektive der griechischen Familie, viele werden persönlich. Ich will diesen Beitrag, darum auch mit fremden Worten schließen. Sie gehören einem roten Buntstift, der circa fünf Einträge in dem Fotobuch hinterlassen hat. In Chinesisch und Englisch. Manchmal sogar in Ergänzung oder als Kommentar zu fremden Einträgen. Die Perspektive ist hier grammatikalisch nie so klar: es wird sowohl fantasiert als auch projiziert. Erzählt und erfunden. Der Eintrag und dessen Schlusszeile, die auch den Titel dieses Beitrags ausmacht, ist zu einem der bemerkenswertesten Bilder geschrieben worden. Ein Kind balanciert auf der Stange einer Brücke. Der Schritt ist gelangweilt, die Hände sacht an den Seiten gehalten. So selbstverständlich, als könnte es nie stolpern oder fallen. Der Text erzählt romantisch von der Freiheit und der Einsamkeit, beschreibt sie als allumfassend und uns strukturierend. “I find breath, I catch air. I see myself fully. Each silent moment. – ”

Borrowing A Family Album