mala parte

Liliana Cavani im Österreichischen Filmmuseum, Jänner/Februar 2024

Text: Sandro Huber

Es gibt nicht viele Orte. Die Westbahnhofhalle ist manchmal einer, das Filmmuseum ist ein anderer. Als Kino ist es unsichtbar, deshalb kann man darin sehen. Zum Beispiel bei der Werkschau von Liliana Cavani in diesem milden Februar, der zum Flanieren einlädt. Wien hält sich gern für die Riviera, die Luft fehlt ihm nicht, es hat Maria am Gestade, die Kärnterstraße geht nach Süden. Die Italienerinnen kommen gern, auch ins Filmmuseum, nicht ganz so viele wie letztes Jahr zu Pasolini. Untertitel gibt es oft nur auf Englisch, das ist nicht schlimm.

Im Filmmuseum gibt es genug zu tun, die Preise dafür bleiben leistbar, auch zweimal für denselben Film. So kann man etwas lernen. Drei Stockwerke darüber in der Albertina kostet es das Doppelte, den Leihgaben gelangweilter Milliardäre dabei zuzusehen, wie sie dadurch an Wert gewinnen, oder in den erzherzoglichen Prunkräumen sich ein wenig zu dehnen, bitte eigene Matte mitzunehmen, sofern nicht gerade geschlossene Gesellschaften stattfinden. Dank privater Gelder gehört das Künstlerhaus nun auch dazu. Die Zeichen stehen wieder auf Repräsentation. Bald wird man in Mailand sein, so es nicht schon zu spät ist wie 1968. Was sich durchsetzt, sind nicht die Cannibali, laut Soundtrack as happy and wild and free as a man was meant to be[1], sondern alte und neue Paläste, Strukturen, zu deren Errichtung Organisationen nötig sind, deren Größe allein den Einzelnen verneint. Bauten, die ohne Staat oder Schlimmeres nicht gehen. Es überrascht nicht, diese Straßen mit Toten gepflastert zu sehen. Dazu bräuchte es keinen niedergeschlagenen Aufstand, kein Verbot der Regierung sie zu begraben, der Verkehr allein würde reichen. Der Ruß an den Fassaden von Ämtern und Banken zeigt außen an, was innen Tödliches am Werk ist. Im Innenhof eines Gebäudes mit Freitreppe, Wachposten und Eisengitter, das sich auf Befehl im Boden versenkt, steht eine Augustus-Büste, ein Kopf allein so groß wie ein ganzer Mensch. Staatsoberhaupt, Bauherr, Pontifex Maximus. In Rom waren Religion und Staat eins, noch bis 1870. Ein Jahrhundert später scheint in Mailand, Residenzstadt seit Diokletian, die Trennung verkraftet: Das Fresko in der Kirche zeigt Gepanzerte, der Legat mit roten Schuhen geht segnend der Straßenreinigung voran. Die Leichen bleiben liegen. Sie können nicht mehr widersprechen. Es würde sie auch niemand verstehen, denn sie hätten nichts zu befehlen. Death to all who touch the rebels‘ bodies steht an den Wänden. Man versteht die Anordnung. Abbassatevi sagt das Kind in der Offiziersjacke in der Sauna, und die Nackten gehorchen. „Die Grundeinheit der Sprache – die Aussage – ist der Befehl oder das Kennwort, die Parole. Anstatt den gesunden Menschenverstand zu definieren, also das Vermögen, das die Informationen zentralisiert, sollte man eher jene scheußliche Fähigkeit definieren, die darin besteht, Befehle auszugeben, zu empfangen und zu übermitteln. Die Sprache ist nicht einmal dazu da, um geglaubt zu werden, sondern um zu gehorchen und Gehorsam zu verschaffen. […] Das wird recht deutlich an Verlautbarungen der Polizei oder der Regierung, in denen man sich nur wenig um Wahrscheinlichkeit oder Wahrhaftigkeit bemüht, sondern deutlich sagt, was man zu beachten hat und was man sich merken soll. Die Gleichgültigkeit dieser Erklärungen gegenüber jeder Glaubwürdigkeit grenzt oft an Provokation.“[2] Rebels = Garbage wird später an den Wänden stehen, als die nicht begrabenen Körper beginnen zu verwesen. Wahr ist, was wahr gemacht wird. Rebels. Make. You. Vomit. Auch das stimmt. Die Bürger sitzen im Park, halten sich Taschentücher vor die Nase, lesen Bücher. Die Ordnung ist wiederhergestellt. Die öffentliche Sicherheit beruht auf der Mitarbeit aller demokratischen Kräfte heißt es im Fernsehen. Widerspruch ist zwecklos, erkennt Antigone schon bei Sophokles Die Erde, mit der sie dem ausgesprochenen Verbot zuwiderhandelnd ihren Bruder bedeckt, um dem Recht der stummen Toten Genüge zu tun, besteht nicht aus Worten, und sie tut es außerhalb der Stadt, abseits der Bühne, auf die nur Berichte über ihre stumme Geste dringen. Doch Rede und Widerrede sind die Bedingung der Tragödie wie der Demokratie, das Wortlose muss eingeholt werden für die Polis. Den Chor gilt es zu überzeugen, sein Seitenwechsel beschließt das Schicksal des Tyrannen. Film ist weniger redselig. 1968 gibt Antigone im Verhör Nonsense-Antworten, zeichnet Fische, einmal singt sie. Sie wird sich entschuldigen müssen, sie ist ohne sich zu verabschieden aus dem Haus gegangen, sagt ihre Mutter bei Likör und Kuchen zur Militärpolizei. Wo ist Ihr Sohn jetzt? – Oh, er hatte kein Glück. Man kann sich denken, was das heißt, ähnlich wie die Angebote der netten Herren in Anzügen und Sonnenbrillen, die ihrer Gefangenen Champagner anbieten: Haben Sie Slogans? Wie kommunizieren Sie mit der Masse? Wir werden zu einem Dialog finden, da mache ich mir keine Sorgen. Dialog ist eine Drohung, das fürstliche Renaissance-Zimmer keine Dekoration. Verhältnisse bestehen fort, wie Gebäude, Vorgaben, die jedes Jahrhundert neu erfüllt. Wie viel Zwangsarbeit es dafür braucht, Sklaverei. Die Verachtung des „kältesten aller kalten Ungeheuer“ (Nietzsche)[3] für seine Bürger, Bewohner, Untertanen, Insassen, Probanden steckt schon in den Wänden. Was sollen solche betonierten Hallen anderes enthalten als Kasernen oder Institute, die Menschenversuche machen? Zement: noch so eine römische Erfindung. Imperien sind Bauunternehmen. Ihre Verlassenschaften deformieren die Hinterbliebenen, so sie sich nicht daraus befreien. Ohne Hilfe von außen wird das nicht gehen. Antigones partner in crime, mit dem sie kein Wort spricht, scheint ein solcher rettender Gesandter. Die denunziationslüsternen Passanten wispern, er spreche Ostgotisch oder Vandalisch. Jedenfalls kein Römer. Gemeinsam tragen die beiden Tote in eine Höhle, geben ihnen Trauben und Quellwasser mit auf die Reise. Keine gebaute Umwelt, dafür menschliche Rituale, nicht aus der Vorgeschichte, wie Pasolini sie sich dachte, sondern aus noch anderen Räumen, Anti-Geschichte, An-Organisches, An-Architektur, bedeutet Organisation doch immer Herrschaft. Im selben Jahr schickt auch Pasolini in Teorema einen wortkargen Fremden nach Mailand, quasi Jesus als Sexbombe, der eine verknöcherte Industriellenfamilie, geschichtlich am Ende, zur Explosion bringt. Bei Cavani, weniger reich an Illusionen, lässt die Bourgeoisie sich auf solche Spiele nicht ein: Antigone, die Rebellin aus dem Inneren, und der Fremde ohne Herkunft werden ohne Prozess liquidiert. Doch nach der Erschießung folgen andere in Bluejeans ihrem Beispiel. Schwer vorstellbar. Beim Verlassen des Kinosaals, selbst ein Hohlraum in einer ehemaligen Bastei, das heißt Stadtmauer, Belagerung, Kanonen, wirkt die Stadt näher an die Wirklichkeit gerückt. Taxis fahren an der ehemaligen Hofpfarrkirche vorbei, die immer noch aus Stein besteht, der weiß renovierten Nationalbibliothek am Josefplatz, wo sich die Cäsaren aufgeklärt geben. Joseph II. grüßt vom Pferd herab, wenigstens er noch mit ehrlicher Patina. Wenigstens an ihm klebt noch das Blut. Neuer Putz wird daran nichts ändern, das bisschen Lichtspiel wird den Michaelertrakt mit seinen Brunnen, Österreichs Macht zur Lande und zur See, nicht in eine Lustspielkulisse verwandeln. „Beklemmende Städte, deren Boulevards kotzige Sphinx- und Medusenhäupter, antik-heidnische Götzinnen schmücken, gekettete weibliche und männliche Sklaven, voll hervorquellender Euter und Muskeln, voller unter Lappen und Gewinden versteckter, wartender Geschlechter niedergezwungener Titanen einer anderen Zeitrechnung, daß diese Städte heute als die kulturträchtigen Europas gelten und gerade angesichts dieser versteint gebannten Versklavung Frauen und Männer so diskutieren, als wäre diese Massivarchitektur bloße Pappe. Diese Prachtboulevards europäischer Städte feiern mit ihrem Lichterglanz, ihren magischen Nächten die Unterwerfung, den Sieg der modernen Welt über die alte, aus der Figuren wie Kundry herüberweisen und stumm machen. Die unseligen Häupter heben sich zum: Dienen … Dienen!, das im hereinbrechenden Morgen leise verebbt.“[4] Wen wirft die Austria mit steinernem Gesicht rechterhand in den Staub, linkerhand ins Wasser? Der Trakt wird 1889 mit industriellen Techniken der Gründerzeit erbaut nach einem Plan Fischer von Erlachs von 1726. Neobarock. Verwerfungen, die anhalten.

Eine Woche später, beim nächsten Besuch im Unsichtbaren Kino, aber auch acht Jahre später und zehn Jahre früher, vor ungefähr fünfundsechzig Jahren im Wien der Fünfziger, in Il portiere di notte, gibt es keine unschuldigen Höhlen mehr. Die Donau ist nurmehr eine gute Stelle, um missliebige Zeugen zu ertränken. Als die beiden Liebenden ihren Schutz verlassen, um sie zu überqueren, werden sie auf der alten Reichsbrücke mit den stählernen Streben erschossen, während die kupfernen Kirchenglocken läuten. „Schutz“, meint eine verbarrikadierte Junggesellenwohnung im Karl-Marx-Hof, den vor neunzig Jahren das Militär beschossen hat. Klerikale Reaktion und schwere Artillerie gegen das Rote Wien. Diesmal reichen subtilere Mittel, das Verderben ist längst im Inneren angekommen. Rascher noch als ‘34 den Kanonen, ‘38 dem Führer erliegen die Nachbarin, der Greißler, alle Verbündeten den verführerischen Angeboten des SS-Absolventenvereins. Wiedersehen macht Freude. Ich kann dir nicht helfen, weißt du … ich warte ja noch auf meine Kriegspension! verleugnet sich der Freund selbst am Telefon. Der Gemeindebau, die Genossen, die „kommende Welt“, deren Bauvolk sie sein wollten: ein verrotteter Kadaver, eine angegraute Kathedrale, eine Hoffnung, die sich selbst verriet wie die Sozialistin Lucia im Lager zur SS überlief, um nackt verbotene Chansons von der Dietrich vorzusingen, vom eigenen Begehren korrumpiert. Ihr dortiger Liebhaber Max, einst Herr über Leben und Tod, arbeitet jetzt aus Scham, wie er zugibt, als Nachtportier im Hotel zur Oper. Die dämmrige Halle, die dunklen Winkel, das geheime Besprechungszimmer wirken ebenso ausgehöhlt davon, zu vielen anrüchigen Angeboten nachgegeben zu haben, durchzogen von Schiebereien und Spitzeleien eines Polizeistaat, der nicht mit Fürst Metternich begann und nicht mit Reichsstatthalter Schirach unterging, wie die ganze Stadt. Gespenstische Stille. Affären im Hintergrund. Gelegentliches Flüstern. Die Kirche scheint abwesend, doch das Problem ist nicht erledigt, es steckt in den Räumen: ihren menschenfremden Dimensionen, dem Hallen der Schritte, dem zeremoniösen Gehabe der Messinglampen, den geheimniskrämerischen Betonungen selbst des Staubabwischens. Natürlich ist der alte Zimmerkellner eingeweiht. Eine Stadt für Jesuiten, Diplomaten, Spionage, Geheimjustiz, Hinterzimmerpolitik, den Kaiser und den Schwarzmarkt. Widerstandlos scheinen die Nazis sich durch Archive zu bewegen, um belastende Akten zu vernichten. Alte Seilschaften bewähren sich auch ohne schriftliche Verträge. Gut halten sich auch die Brillanten, in der Oper an den Hälsen und Orden eines Publikums, das ebenso unbewegt wie die Zauberflöte den Untergang mehrerer Imperien betrachtet hat, von den Verheerungen unberührt, nur ein wenig älter geworden seitdem, und im Hotel an den Ohren der alten Gräfin, die sich, selbst im Pelz, den Pagen ins Bett kommen lässt. Der kommt schon, aber waschen will er sich nicht mehr dafür. Europa ist nicht gut für den Charakter. Von Wien ist wenig zu sehen, Mozart-Erinnerungsräume, wenig Himmel. Dem stehen die verrußten Museen im Weg, Paläste mit Einschusslöchern, Ministerien, in denen nicht nur der erste Weltkrieg vorbereitet wurde. Kolosse, deren Leichenduft und glitzernde Knochen wie Parfüm und Juwelen der Gräfin, die glänzenden Angebote der SS die Seelen betören. Ein Blick in die Auslagen der Inneren Stadt nach der Vorstellung bestätigt das Fortwirken des Lichterglanzes. Magische Nächte, auch wenn nicht gerade Opernball ist. Ein Schauspieler hat einmal versucht, diesen „Ball der Bälle“ im Führer-Kostüm zu besuchen, die Polizei hat ihn daran gehindert. Warum eigentlich? Die dort ausgeführten Juwelen müssten sich doch noch an ihn erinnern, sie haben ja auch den Kaiser nicht vergessen. Max und Lucia, die ihre Affäre wiederaufnehmen und einander nicht ausliefern wollen, unterscheidet von den anderen nur, dass sie festhalten an der Form der Korruption, der sie einmal verfallen sind, statt sich durch Therapie und Katharsis, wie es das SS-Tribunal als psychoanalytisch inspirierte Selbsthilfegruppe vorlebt, selbst zu entlasten. Keine Unschuld, aber zumindest Scham und Konsequenz, außerdem die Weigerung an weiteren Verbrechen mitzuwirken. Deshalb werden sie liquidiert.

Ein paar Tage später, einige Jahre sind vergangen, geht es weiter mit La Pelle. Neapel 1943. Man nähert sich dem Problem. Diesmal stehen Polizisten im Weg, um einen Ball in der Hofburg vor Unmut zu beschützen. Das ist nicht neu. Die Absperrungen sind aus Metall. Herrschaft besteht aus Erz, auch wenn die zugehörigen Herzöge nicht mehr regieren. Vor der Michaelerkirche, auf deren Windfang der Erzengel balanciert, mit nur einer Fußspitze den niedergeworfenen Leibhaftigen hinab- und sich abstößt, stehen noch einige Poller aus Stein, noch nicht auf Befehl im Boden versenkbar, verbunden mit eisernen Ketten. Sie klirren nicht im Wind, dafür sind sie zu schwer. Handarbeit. Massive Schutzzauber, falls Feuer und Schwert nicht reichen. Doch Neapel wird nicht verteidigt. Zum ersten Mal in tausend Jahren hat die Stadt die fremden Herrscher, diesmal waren es Deutsche, selber entfernt, um die Sieger zu begrüßen, diesmal sind es US-Amerikaner. Doch folgt kein malerisches Panorama, wie sich die Stadt am Golf landenden Armeen darbietet, dem Blick der Sieger unterwirft. Stattdessen Gässchen, Innenhöfe, die in Höhlen übergehen, Gänge, Treppen wie Termitenbauten ins Innere der Paläste getrieben, wo Innen und Außen ununterscheidbar werden, Albträume wie von Piranesi, halb Baustelle halb Ruine. „In solchen Winkeln erkennt man kaum, wo noch fortgebaut wird und wo der Verfall schon eingetreten ist. Denn fertiggemacht und abgeschlossen wird nichts. Porosität begegnet sich nicht allein mit der Indolenz des südlichen Handwerkers, sondern vor allem mit der Leidenschaft für Improvisieren. Dem muß Raum und Gelegenheit auf alle Fälle gewahrt bleiben. Bauten werden als Volksbühne benutzt. Alle teilen sie sich in eine Unzahl simultan belebter Spielflächen. Balkon, Vorplatz, Fenster, Torweg, Treppe, Dach sind Schauplatz und Loge zugleich. Noch die elendste Existenz ist souverän in dem dumpfen Doppelwissen, in aller Verkommenheit mitzuwirken an einem der nie wiederkehrenden Bilder neapolitanischer Straße, in ihrer Armut Muße zu genießen, dem großen Panorama zu folgen. Eine hohe Schule der Regie ist, was auf den Treppen sich abspielt.“[5] Der Mangel an Außenaufnahmen mag dem Dreh geschuldet sein. Natürlich sieht Neapel 1980 nicht mehr aus wie im Krieg, die Kirchen sind wiederaufgebaut, Fassaden instandgesetzt dank staatlicher Gelder, von denen viel im mafiösen Untergrund versickert ist. Es geht nicht um den Anschein, sondern um das, was gleich bleibt. Außerdem ist der Golf vermint. Oben besteht die Stadt aus Vulkanstein, den sie unter sich abbaut, immer wieder stürzen Viertel ein. Es bleiben genug Höhlen für Friedhöfe, Verstecke, für Hehlereien. Wenn die Bosse nicht hier die deutschen Kriegsgefangenen verstecken, um sie gemästet den Siegern per Kilo zu verkaufen, dann woanders, im Bordell oder in Palästen. Es gibt Verbindungen, geheime Tunnel, durch manche passen nur Kinder. Von dem Panzer, den zwei schon korrumpierte GIs ihnen verkaufen wollen, lassen die flinken Hände nichts über als einen Ölfleck. Das waren nur zwei, die anderen werden folgen. Amerikaner sind zwar keine Ostgoten oder Vandalen, aber im Vergleich mit der barocken Raffinesse Neapels doch Barbaren. Die Adelspaläste sind nicht weniger kaputt als die ärmlichsten Behausungen, nicht weniger korrupt. Moralischer Verfall. Neapel zersetzt den soliden amerikanischen Charakter wie einen gestohlenen Panzer. Aus ganz Europa kommen die décadents, die gelernt haben Marx statt Oscar Wilde zu zitieren, um den Armen sexuell zur Seite zu stehen. Es wird getanzt. „Rückstand der letzten und Vorspiel der folgenden Feiertage ist diese Musik. Unwiderstehlich durchdringt der Festtag einen jeden Werktag. Porosität ist das unerschöpflich neu zu entdeckende Gesetz dieses Lebens. Ein Gran vom Sonntag ist in jedem Wochentag versteckt und wieviel Wochentag in diesem Sonntag!“[6] Das gilt auch im Krieg. Bei einer adeligen Privatveranstaltung, halb heidnisches Ritual, halb schwuler Rave, gebiet ein junger Mann eine Figur mit riesigem Phallus. Dresscode: halb nackt, halb Militär. Ein Lustgewinn, nicht abstoßender als die GIs, die dafür bezahlen ihren heterosexuellen Trieben zu erliegen. Neapel macht sich den Krieg zu eigen und verdient daran.

Vom „Glücksarsenal des Kaputten“ neapolitanischer Technik hat Alfred Sohn-Rethel geschrieben, der die Stadt in den Zwanzigern besucht hat, erstaunt von der Findigkeit ihrer Bewohner im Umfunktionieren vorgegebener Mechanismen und dem anarchischen Funktionieren alles dessen, was hier nicht ordnungsgemäß funktioniert. „An wenige ihrer vorgezeichneten Zweckverwendungen nur mehr gebunden, erfährt die Technik hier die sonderbarsten Ablenkungen und geht mit ebenso überraschenden wie überzeugenden Wirksamkeiten in einen ihr völlig fremden Lebensgrund ein. Von der zur erhöhten Glorie der Madonna erstrahlenden Osrambirne war schon die Rede. Als ein weiteres Beispiel mag der Radmotor dienen, der, aus den Zwängen des zerschmetterten Motorrads gelöst, mit seinen um eine leicht exzentrische Achse wirbelnden Drehungen in einer Latteria die Sahne schlägt. Auf solche ungeahnte Weisen leistet die moderne Technik den Übungen dieses mit elektrischer Straßenbahn und Telefon seltsam überlebenden 17. Jahrhunderts die ausgezeichnete Hilfestellung und dient so überall der Freiheit dieses Lebens über sie aufs Unfreiwilligste noch zur Folie. Die Mechanismen können hier das zivilisatorische Kontinuum nicht bilden, zu dem sie ausersehen; Neapel dreht ihnen das Gesicht auf den Rücken.“[7] 1943 zeigen diese Spiele ihr anderes Gesicht. Neapel dreht die naiven GIs auf den Rücken und lässt sie dafür bezahlen. Europa ist Kaputt, wie Malapartes Roman von der Ostfront heißt, moralisch, physisch, und verdient daran, die eigene Haut zu verkaufen. Auch Kinder werden prostituiert, um zu überleben. Von ihren eigenen Müttern. „Es gab nichts mehr in Neapel, nichts mehr in Europa, alles war beim Teufel, alles zerstört. Wohnungen, Kirchen, Krankenhäuser, Mütter, Väter, Söhne, Tanten, Großmütter, Vettern, alles ‚kaputt‘. Ich lachte, es schmerzte mich sogar im Magen, so heftig lachte ich, so bitter lachte ich.“[8] Am Ende bricht der Vesuv aus. Das sind Kräfte, die von innen kommen. Durch den Ascheregen geht die principessa, tritt mit herrscherlicher Selbstverständlichkeit in ein elendes Häuschen. Ist der schüchterne Junge ihr Geliebter oder bloß Untertan, Opfer einer spontanen Eingebung, wie sie Fürsten haben? Unter dem Mantel trägt sie nur ein Dessous, während die Amerikaner im Feuerregen Rettung fliegen. Natürlich gibt sich der Bursch ihr hin. Niemand bleibt unschuldig. Mehr ist vom befreiten Neapel nicht zu lernen.

Während in I Cannibali der Korruption zumindest das stumme Bild einer Unschuld entgegengehalten werden konnte, von Höhlen, frischem Wasser und Trauben, und in Il portiere di notte zumindest ein Grad der eigenen Verheerung gehalten werden konnte als letzte Selbstbehauptung – auch wenn beide Paare am Ende vom Staat respektive einer Organisation mit staatsähnlichen Ambitionen liquidiert werden –, ist in der Stadt aus Höhlen, Kirchen und Palästen nichts mehr heilig. Vesuv ist ein Gott, sagt der Menschenhändlerboss. Ein böser Gott, der es Asche regnen lässt und bitter lacht, gemacht aus dem schlechten Teil, mala parte, aus dem Neapel gebaut ist. Und Neapel ist Europa, auch heute. Vieles bleibt beim Alten. Die rettende Ankunft der Barbaren, wie nach einem Gedicht von Kavafis schon die Römer erwarteten, scheint nicht absehbar, und selbst wenn – beweist Malaparte – würde das Imperium sie nur in seinen Untergang hineinziehen, wie Wien es 1914 mit Europa getan hat. Seitdem ist der Kaiser unbewusst. Auch ein Besuch des Schahs, der wie 1967 in Berlin den Polizeistaat sichtbar werden lässt, scheint nicht zu erwarten. Muss wieder der Vesuv ausbrechen, um zu entsiegeln, was unterm „Basiliskenblick einer saturierten Reaktion“[9] allzu leicht erstarrt erscheint? Schöne Auslagen sind wieder chic, Panzerglas, private Sicherheitsdienste stehen davor. Not all cigars are created equal. Spend your time royally steht am Kohlmarkt mit Blick auf die Hofburg. Seit 1968 sind nicht nur in Paris die Straßen asphaltiert worden, durch die der Geist von Baron Hausmann weht. Dementsprechend wenig Pflastersteine sind zur Hand. Die Toten liegen jetzt woanders. Einstweilen bleibt nur der kalte Wind. Das ist gut, er hält davon ab, sich einzurichten, hält einen in der Wirklichkeit wie die Filme Cavanis. Schlecht ist nur, dass nach der Spätvorstellung nicht nur die Filmbar geschlossen ist und Leuten ohne Obdach keins mehr geben kann – wie gut, dass es Institutionen ohne Wachpersonal gibt! – , sondern auch die Kirchen. Man könnte sonst hinübergehen nach St. Stephan, wo jetzt auch Gottfried Helnwein angekommen ist. Sein Fastentuch vorm Hochaltar soll an das Turiner Grabtuch erinnern, immerhin jahrhundertelang im Besitz der Augusta Dinastia di Savoia, der noch der Große Faschistische Rat bei der Absetzung des Duce Ehrerbietung erwies. 1996 hat er noch die Muttergottes als Eva Braun gemalt, die den Führer gebärt, umstanden von der SS. Da war die Erinnerung an den Sozialismus noch frisch, das ließ Abstand halten. Näher, mein Gott, zu Dir. Auch das ist nicht neu, wie das meiste, Cavanis Filme, die Architekturen, die sie zeigt, darum nicht weniger wirklich. Undine Gruenter sagt von der Architektur in der Stadt, sie bezeuge die „Gleichzeitigkeit vieler Zeiten in der Gegenwart“. Zuweilen muss sie natürlich freigelegt werden, wenn die Toten sonst nicht mehr zu sehen sind, wie die alten Filme. Das ist sehr reale Arbeit, auch am Abend und am Wochenende. Filmemachen, Filmezeigen, Filmesehen. Der Saal war meistens voll, das ist gut. Andere haben frei. Vorm Palais Palffy stehen junge Leute, rauchen, lachen. Rote Samthosen, goldene Blusen, Sonnenbrillen, offene Hemden, Fächer, schwarze Schuhe. Um die Tür bildet sich eine Aura von Geheimnis. Was verbirgt sich? Wer kommt rein? Wer gehört dazu? Das Filmmuseum ist da anders. Das Programm ist bekannt, die Tür steht offen und jeder Platz kostet gleichviel. „Die Ausstellung findet auf der Leinwand statt.“ In der Augustinerstraße 1. Gehen Sie hin, es ist nicht weit.


[1] Ennio Morricone: Cannibal Cantata II.

[2] Gilles Deleuze, Felix Guattari: Kapitalismus und Schizophrenie II in Tausend Plateaus. Merve, S. 106.

[3] „Irgendwo giebt es noch Völker und Heerden, doch nicht bei uns, meine Brüder: da giebt es Staaten. Staat? Was ist das? Wohlan! Jetzt thut mir die Ohren auf, denn jetzt sage ich euch mein Wort vom Tode der Völker. Staat heisst das kälteste aller kalten Ungeheuer. Kalt lügt es auch; und diese Lüge kriecht aus seinem Munde: ‚Ich, der Staat, bin das Volk.‘“ (Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. dtv, S. 63.)

[4] Einar Schleef: Droge Faust Parsifal. Suhrkamp, S. 155.

[5] Walter Benjamin und Asja Lacis: Neapel in Denkbilder.

[6] Ebd.

[7] Alfred Sohn-Rethel: Das Ideal des Kaputten. Wassmann, S. 37f.

[8] Curzio Malaparte: Die Haut. Fischer, S. 131.

[9] Walter Benjamin: Über einige Motive bei Baudelaire. Suhrkamp, S. 539

Die Geister, die ich rief: Tagebuch einer Verlorenen von G.W. Pabst

Tagebuch einer Verlorenen von G.W. Pabst

Geister der Vergangenheit, Phantome der Filmgeschichte. Wenn Filme miteinander in Dialog treten ist das immer eine spannende Sache. Während im Zeughauskino weiter die Autorinnen der 60er das Sagen haben, zeigte das Arsenal Kino Sonntagabend Georg Wilhelm Pabsts Tagebuch einer Verlorenen. Pabst ist natürlich keine Frau, sondern ein Mann, aber Thymian Henning (Louise Brooks in eine ihrer größten Rollen), die titelgebende Verlorene, ist eine Figur, die in vielerlei Hinsicht den Frauenfiguren der Autorinnen rund vierzig Jahre später voranschreitet.

Zunächst scheint Thymians Welt noch von Männern und der patriarchalischen Gesellschaft bestimmt. Sie wird vom Angestellten ihres Vaters vergewaltigt und geschwängert. Dieser will sie nicht heiraten und so schiebt sie der Familienrat ins Reformhaus ab. Ja die Familienehre, die muss um jeden Preis hochgehalten werden. Die naive Thymian wächst in der Erziehungsanstalt zur Heldin heran. Sie will raus aus diesen ungastlichen Mauern, zurück in die Welt, zurück zu ihrem Kind und etwas aus ihrem Leben machen. Der Schlafsaal wird schließlich zum Ort der Rebellion (wie bei Jean Vigo, einem anderen großer Virtuosen des harmonischen, fließenden Lichtspiels). Zusammen mit ihrer Freundin Erika büxt sie aus und landet schließlich im Bordell. Ein paar tragische Todesfälle später und Thymian kehrt als Gräfin an den Schauplatz ihres Erwachens zurück. In einer letzten großen Geste, der endgültige Triumph: Ihre Freundin Erika ist wieder in dieser menschenverachtenden Erziehungsanstalt gelandet. Thymian will die Heuchlerei der adeligen Damen, die sie in ihren Weltverbessererverein aufgenommen haben nicht mitmachen, stellt sich schützend vor Erika und nimmt sie einfach mit, denn „auch ich war einmal, was sie jetzt ist“.

Anders als die Heldinnen der Autorinnenfilme der 60er Jahre, behält Thymian die Oberhand. Obwohl sie zunächst den Männern hilflos ausgeliefert ist, folgt ein umso radikaleres Erwachen, das in Revolte gegen Scheinheiligkeit und Bourgeoisie endet. Thymian ist Klassenkämpferin und Suffragette und nimmt sich schließlich eiskalt was sie braucht, indem sie das Mitleid und die Schuldgefühle des alten Grafen, der sie aufnimmt zu ihrem Vorteil nutzt. Zwar bleibt sie dadurch abhängig von dessen finanziellen Mitteln (auch Thymians Emanzipation ist nicht vollständig), doch ihr Handeln ist kompromisslos. Anders als die Belle Starr aus Lina Wertmüllers Il mio corpo per un poker gibt sie nicht ihren Gefühlen für einen Mann nach. Anders als die Eva in O něčem jiném bleibt sie nicht in der Maschinerie gefangen, die ihr selbst das Leben vermiest hat. Anders als die Antigone in Liliana Cavanis I cannibali, muss sie ihren Aufstand nicht mit dem Leben bezahlen. Und anders als Nelly Kaplans Marie in La fiancée du pirate, muss sie ihre Freiheit nicht mit ihrem Körper erkaufen.

Tagebuch einer Verlorenen von G.W. Pabst

In einem entscheidenden Punkt bleibt Thymian jedoch hinter all jenen späteren Figuren zurück: Sie ist keine Frau, sondern eine Traumgestalt. Selbst in der Tristesse der Beziehungsanstalt behält sie ihr gestyltes Äußeres, nachdem sie die Schwierigkeiten ihres Lebens einmal überwunden hat, fällt ihr alles ganz einfach zu. In Büchse der Pandora ließ er Brooks‘ Figur noch elendiglich zugrunde gehen, nun bleibt sie Siegerin – ist das Inkonsequenz oder passt diese Wendung des Schicksals in das Gesamtbild des Films, dieses märchenhafte Konstrukt? Tagebuch einer Verlorenen ist ein doppelter Schwanengesang: 1929 als die Weltwirtschaftskrise das Ende der Roaring Twenties einläutete und die Filmemacher die (Stumm-) Filmkunst perfektioniert hatten, findet die gleitende, über alle Zweifel erhabene Montagekunst Pabsts ihr Ende. Die Einführung des Tonfilms sorgte für neue Herausforderungen, die zu einem neuen, sehr spannenden Stück Filmgeschichte führen. Auch inhaltlich scheint eine Geschichte wie jene von Thymian in den frühen 30ern undenkbar (ein Schicksal, dass sie mit Harold Lloyd teilt); die Zeit der Märchen war bis auf weiteres vorbei.