Il Cinema Ritrovato 2018: Spring in a Small Town von Fei Mu

Spring in a Small Town von Fei Mu

Andrey Arnold: Wie findest du dein Festival bis jetzt?

Sebastian Bobik: Es fällt mir schwer so früh schon wirklich Bilanz zu ziehen, aber alles in allem denke ich es war bisher ziemlich gut. Ich habe vieles gesehen, bin überrascht, enttäuscht und auch überwältigt worden von verschiedenen Filmen. Bei dir?

AA: So weit, so gut. Gestern haben wir einen Film gesehen, von dem du besonders begeistert warst. Willst du ein bisschen was dazu sagen?

SB: Definitiv! Gestern haben wir Spring in a Small Town von Fei Mu gesehen. Ein chinesischer Film aus dem Jahr 1948, also kurz nach dem Krieg. Der Film erzählt unter anderem über das Trauma des Krieges, aber tut es in einer Art Kammerspiel. Auf einem Grundstück und innerhalb einiger Tage werden die verschiedensten Emotionen von fünf Figuren durchlebt, die durch eine Wolke aus Sehnsucht und Entfremdung driften. Besonders stark fand ich die Kraft dieses unterdrückten Begehrens, aber auch die Ehrlichkeit, mit der schon damals Emotionen rund um einen möglichen Ehebruch dargestellt werden. Es wird nie platt moralisiert, wer Recht oder Unrecht hat, und die Tatsache, dass sich diese Figuren eigentlich alle sehr sympathisch sind und keiner dem anderen wehtun will macht das ganze ebenso schöner, wie auch schmerzvoller.

AA: Außergewöhnlich für einen Film dieser Zeit fand ich vor allem die Atmosphäre. Er spielt in einer völlig eigenen Welt. Eine Welt, die zugleich konkret und abstrakt ist und völlig aus der Zeit gefallen scheint (soweit ich mich erinnern kann, verzichtet der Film auf eine explizite historische Zeitangabe). Schauplatz ist ein Dorf oder Städtchen, das vom Krieg verwüstet wurde. Manche Häuser stehen noch, aber der Gesamteindruck ist der einer Ruinenlandschaft. Und zwar einer, die sich noch nicht entschieden hat, ob sie völlig in der Versenkung verschwinden (an den Mauern rankt sich schon der Efeu) oder doch eine Wiedergeburt wagen will (in den Außenaufnahmen spürt man die Frische des Frühlings). Hier lebt die Hauptfigur, eine unglücklich verheiratete Frau, in einem sonderbaren Schwebezustand, der sich auch in ihrem Habitus äußert. Ihre Bewegungen sind anmutig, aber auch müde und von einer somnambulen Langsamkeit. Man hat beinahe den Eindruck, ihre Wirklichkeit stünde unter Wasser. Hast du das ähnlich empfunden?

SB: Absolut! Ich glaube, was diese Atmosphäre unterstützt, ist, dass es nicht nur keinerlei zeitliche Angabe gibt, sondern auch, dass dieses „Dorf“ eigentlich kaum eines ist. Man sieht nie irgendwelche anderen Figuren, nicht einmal im Hintergrund, während unsere Hauptfiguren spazieren gehen. Es stimmt auch, dass jegliche Gesten und die Handlung allgemein sich beinahe in Zeitlupe bewegen. Auch das ab und zu auftretende Voice-Over, welches zwar von Yuwen (der Hauptfigur) gesprochen wird, aber auch von Dingen berichtet, die sie nicht wissen kann, trägt zu dieser absolut eigenen Atmosphäre bei. Der Film ist ungewöhnlich still. Man konnte in bestimmten Szenen jede Regung im Kinosaal vernehmen. Manchmal wurden Geräusche wie eine sich schließende Tür völlig ausgelassen.

Doch obwohl der Film eindrücklich und ehrlich von einer großen Einsamkeit erzählt, lebt er ja eigentlich von den Figurenkonstellationen. Oft werden ganze Szenen in langen weiten Einstellungen gezeigt (die Kamera bewegt sich trotzdem leicht mit, wird nie ganz statisch, sondern ist immer „flüssig“). Was dann besonders auffällt, ist der Raum zwischen Figuren. Zwar wird geredet und gesungen, doch man spürt vor allem die Blicke, die kurzen Berührungen von Händen, die zugleich wieder beschämt aufgehoben werden, und wie oft Figuren das Verhalten anderer sehnsüchtig beobachten. Es gibt eine wundervolle Szene im Film, wo die Figuren einen Ruderausflug machen. In mehreren Großaufnahmen sehen wir ihre glücklichen Gesichter. Doch unser heimliches Paar bekommt eine gemeinsame Einstellung. Eine Großaufnahme von ihr folgt ihrem Blick und endet in einer Großaufnahme von ihm. Innerhalb einer Einstellung werden zwei Figuren verbunden – fantastisch. Überhaupt ist es schön zu sehen, dass ein Film, der eigentlich eher in geschlossenen Räumen spielt und viele Dialoge beinhaltet, seine eigene filmische Sprache entwickelt, die nicht aufgedrückt „filmisch“ ist, indem sie sich über Montage hervorhebt, aber auch nicht mit völlig statischen Einstellungen arbeitet. Ist dir in der Hinsicht noch etwas aufgefallen?

AA: Der Film fließt ja generell eher, als dass er schneidet. Wir haben gestern kurz über Ozus Early Spring gesprochen – noch so ein trauriger Ehekrisen-Frühlingsfilm, der hier läuft. Unter anderem auch darüber, wie Ozu das Gefühl auf den Punkt bringt, wie ein neuer Morgen existenzielle Nöte wie von Zauberhand vergessen macht (oder verdrängen lässt). Er zeigt seine Figuren am tiefsten Punkt, in schmerzlicher, trostloser Verlorenheit. Einen Schnitt später ist die Nacht vergangen, die Vögel zwitschern, die Sonne lacht, und dieselben Menschen, die eben kurz davor waren, alles hinzuschmeißen, machen sich auf den Weg zur Arbeit. In Spring in a Small Town gibt es solche Schnitte nicht. Alles fließt unaufhörlich ineinander, Gefühle und Stimmungen, Innen und Außen(räume). Der Film wirkt wie eine einzige, unaufhörliche Überblendung, die sich erst ganz am Ende darauf festlegt, wohin sie eigentlich überblenden will.

Regisseur Fei Mu findet unterschiedliche Lösungen, um dieses Fließen zu vermitteln. Eine sind natürlich buchstäbliche Überblendungen, zum Teil erstaunlicherweise sogar innerhalb einer Szene, einer Bewegung. Eine andere ist die langsame, hin- und herwandernde Kamerabewegungen innerhalb einer Einstellung, die du beschrieben hast. Besonders eingeprägt hat sich mir diesbezüglich eine Szene am Anfang des Films. Der alte Freund des (seelen-)kranken Gatten der Hauptfigur, ein junger Arzt, ist bei den Eheleuten zu Gast. Einst waren er und die Frau Geliebte, was noch niemand außer ihnen weiß. Die kleine Schwester des Gatten, die einzige richtige Frohnatur im Ensemble der Eingeschlossenen, hat ein Auge auf ihn geworfen und singt ein Lied, um ihm zu imponieren, während die Frau im Vordergrund Hausarbeiten erledigt, Sachen hin- und herträgt. Die Kamera lässt sich indessen von Blicken leiten, von widersprüchlichen Aufmerksamkeiten und Begehrensvektoren, schwankt ruhig zwischen den Positionen, ohne Schnitt. Ich musste an Hou Hsiao-hsien denken. Generell dürfte der Film ziemlich einflussreich gewesen sein im chinesischsprachigen Raum. Im Katalog steht, dass Jia Zhang-ke ihm in I Wish I Knew Tribut gezollt hat. Du meintest gestern, er hätte bei dir Assoziationen zu In the Mood For Love geweckt. Könntest du das näher ausführen?

Spring in a Small Town von Fei Mu

SB: Die Assoziation ist wahrscheinlich die simpelste, aber auch die schnellste für mich gewesen. Ich rede dabei gar nicht so sehr von der Form und dem Stil des Filmes (obwohl beide Filme natürlich auf unterschiedliche Art und Weise die Zeit und einzelne Momente der Sehnsucht in absolut zerreißende Länge ziehen), aber einfach auf der Basis der Handlung und wie der Film damit umgeht. In beiden Filmen geht es um eine verbotene Liebe, ein Thema das oftmals in Melodramen behandelt wird. Doch die beiden Filme stechen eben dadurch heraus, dass diesem Begehren, diesen Gelüsten niemals nachgegeben wird. Die Figuren sind erstarrt in einem Widerspruch zwischen der Art und Weise, wie sie sich benehmen sollten, und dem, was sie eigentlich tun wollen. Es gibt in beiden Filmen keine Sexszenen, nicht einmal einen Kuss, glaube ich. Stattdessen erbebt das Universum des Filmes jedes Mal, wenn sich die Hände der Begehrenden kurz berühren, oder sie sich durch den Raum Blicke zuwerfen.

Was ich aber sehr spannend fand, ist das Fei Mus Film fast ehrlicher damit umgeht als Wongs. Bei In the Mood For Love spüren wir immer die Sehnsucht und Zärtlichkeit, aber er wird nie wirklich erotisch. Spring in a Small Town hingegen hat für mich in einigen Szenen eine wahnsinnig erotische Spannung aufgebaut. In den Momenten in denen die beiden sich nicht in Gesellschaft anderer befinden, flirten sie beinahe. Jede Bewegung, jeder Hüftschwung wird dabei so klar gesetzt, dass ich eine wahnsinnige Spannung zwischen den Beiden verspürt habe, die sich nicht davor geschämt hat auch das einfache sexuelle Begehren zu thematisieren. Ebenfalls mit großer Ehrlichkeit wird sogar der Gedanke in den Raum geworfen, dass es am einfachsten wäre, wenn der Ehemann einfach verschwinden würde. Ein Gedanke, den Yuwen, sobald sie ihn ausspricht, auch wieder bereut. Es sind solche Momente in denen der Film sehr modern wirkt und ehrlicher mit solchen Themen umgeht als die meisten Filme, die zu diesem Thema gemacht werden. Ich musste ebenso wie du oft an Hou denken. Der Film hat mich extrem beeindruckt, und mittlerweile habe ich das Gefühl, er hat sich auch in deinem Kopf festgesetzt. Trotzdem möchte ich dich fragen: Hat sich deine Meinung zum Film seit gestern verändert? Anfangs war ich definitiv begeisterter als du.

AA: Stimmt, aber das lag weniger am Film selbst als an der festivaltypischen Kollision unterschiedlicher Zeitlichkeiten. Ich war zum gegebenen Zeitpunkt einfach nicht eingestellt auf die, ohne das wertend zu meinen, Trägheit und Trübseligkeit des Films, und hatte daher stellenweise Schwierigkeiten, mich auf sie einzulassen. Aber Spring in a Small Town scheint mir ohnehin ein Sicker-Film zu sein, der seine Kraft nicht zuletzt im Weiterwirken entfaltet. Er hat fraglos Eindruck bei mir hinterlassen, wie ich auch jetzt in der Diskussion merke. Man könnte noch lange über ihn diskutieren. Interessant wäre etwa die Frage nach seiner Politik: Schließlich geht es auch um den Widerstreit zwischen Altem und Neuem, darum, wie das Alte (repräsentiert durch den wohlwollenden, aber buchstäblich introvertierten, depressiven Ehemann) dem Neuen oder der Möglichkeit des Neuen im Weg steht, wie schwer es auch moralisch ist, sich aus dem Sumpf der Nachwehen eines schweren (Kriegs-)Traumas herauszuziehen. Oder den gegebenen Verhältnissen zu entfliehen.

Eigentlich fast wie bei Ozu, um den Vergleich wieder aufzugreifen – Early Spring und Spring in a Small Town teilen sich, wenn ich mich nicht irre, sogar ähnliche Schlussbilder. Nur hat man bei Ozu ein Gefühl der Fruchtlosigkeit jeglichen Emanzipationsbestrebens, weil alles so hart und unerbittlich ist (das Schicksal, die Schnitte, die Architektur), und hier die mögliche Veränderlichkeit des Seins auch in der Form durchzuschimmern scheint. Oder wäre gerade die Härte weniger besänftigend? Spannend finde ich auch, wie der Film jemanden wie Antonioni vorzuzeichnen scheint, nur in weniger urbanem Kontext: Verfallende Mauerreste und zerschossene Anwesen als Psychogeografie einer orientierungslosen Bürgerlichkeit. Eine etwas abschüssigere Assoziation: Mario Bavas nebelversunkene Gruselschlösser, die gleichfalls von schwerlastender Vergangenheit in Abgründe gezogen werden. Hervorzuheben wäre auch der bereits von dir erwähnte, eigenartige Einsatz des Off-Kommentars, ein scheinbar allwissender innerer Monologs der Hauptfigur, bei dem ich mir nie sicher war, ob er überflüssig oder absolut essenziell für den Film ist. Schade nur, dass Spring in a Small Town (wie die meisten chinesischen Arbeiten hier) nicht auf Film gezeigt wurde: Passagenweise wirkte das Digitalisat doch recht klobig auf mich.

Il Cinema Ritrovato 2018: Čhapaev von Sergej und Georgij Vasilyev

Čhapaev von Sergej und Georgij Vasilyev

Das Il Cinema Ritrovato beginnt für mich mit Ohrensausen. Im Sala Scorsese der Cineteca di Bologna dröhnt und scheppert es von der Leinwand, als gäb’s kein Morgen mehr, das Trommelfell schlackert im Schallwellenbad. Meine Sitznachbarinnen sind im Begriff, sich notgedrungen Ohropax aus Papiertaschentüchern zurechtzupfen, als die Saalregie sich erbarmt und den Pegel runterschraubt. Vielleicht hätte sie ihn aber lassen sollen, wo er war. Vielleicht muss es laut sein, wenn Čhapaev kommt.

Čhapaev ist die Hauptfigur von Čhapaev, einem Film über den sowjetischen Bürgerkriegshelden Čhapaev. Der Ton und seine Kraft liegen ihm (dem Film) am Herzen. Denn Čhapaev entstammt der „Goldenen Ära des sowjetischen Tonfilms“: So heißt auch die Festivalprogrammschiene, in der er läuft. Und die widmet sich, um genau zu sein, dem Jahr 1934: Einem besonders fruchtbaren Kapitel in den Annalen der Sowjet-Filmgeschichte, wie Kurator Peter Bagrov in seiner Einführung betont – mythologisch in etwa Hollywoods annus mirabilis 1939 zu vergleichen.

Und Čhapaev ist selbst in diesem Kontext nicht irgendein Film, sondern der Film schlechthin. Sprich: Größer als die Beatles und Jesus zusammengenommen, legendär bis heute und darüber hinaus. Jeder Russe hat von ihm gehört, so gut wie jeder hat ihn gesehen. Dialogzeilen entwickelten sich zu geflügelten Worten, seine Protagonisten zu Archetypen, über die man ganz vortrefflich Witze reißen kann. Er bietet Action & Humor, Musik & Melodramatik, tolle Bilder und coole Sprüche: Ein White Sun of the Desert seiner Zeit.

Das alles nimmt kaum Wunder. Was an Čhapaev besonders erstaunt, ist seine Klarheit. Klar sind die Gesten und Dialoge: Jeder Satz will gehört werden, jede Bewegung greift mit Nachdruck Raum und gebietet Respektabstand, muss sich erst setzen, bis die nächste auf die Bühne darf. Klar sind die Figurentypen, klar auch Montage und Kameraführung, klar der Himmel über den kargen, strahlenden Landschaftskulissen. Der Film spielt an der Wolga, im Ural. Ob er auch dort gedreht wurde? Ich weiß nicht, aber ich kaufe es ihm ab.

Nur Čhapaev selbst ist nicht so klar, wie man vermuten könnte. Er ist zwar ein Volksheld vor dem Herrn, aber kein propagandistischer Pappkamerad – denn im Grunde schließt das eine das andere aus. Gespielt wird er vom Theaterschauspieler Boris Babočhkin, davor auf Schurkenrollen abonniert (und privat ein glühender Verächter des Sowjet-Regimes). Sein Red-Army-Kommandeur ist ein aufbrausender, roher Bursche, der keine Widerrede duldet. Aber auch ein gefühlvoller, zuweilen sogar g’schamiger Mann, der zu singen beginnt, wenn das Gemüt ihn drückt. Er macht Fehler und lernt aus ihnen, hat Humor und Heimweh, kurzum: ist ein Mensch.

Auf eindrucksvolle Weise vereinen sich in ihm die Ikonizität des überlebensgroßen Idols mit Nahbarkeit und Bodenständigkeit. Auf seinem treuen Rappen sitzend, den Feldherrenblick aufs Schlachtfeld gerichtet, wirkt er am Gipfel einer malerischen Totale wie ein russischer Napoleon; mit diesem vergleicht ihn auch sein junger Adjutant Pet’ka (die Diminutivform von Petja, d.h. Peter). Dabei erscheint sein gerühmtes strategisches Talent als eine Art Bauernschläue: Wie man sich als Anführer einer Armee-Division zu verhalten hat, erklärt er einem Untergebenen mithilfe von Kartoffeln und Zigaretten, weil diese gerade zur Hand sind – und mit einer Pfeife, die er dem aus Moskau angereisten Kommissar behände aus dem Mund zieht, nur um sie ihm kurz darauf mit resoluter Anmut wieder zwischen die Lippen zu stecken, als wäre nichts gewesen. Und von Alexander dem Großen hat der tapfere Krieger, zu seiner nicht unbeträchtlichen Verlegenheit, noch nie etwas gehört.

Auch besagter Kommissar hat die dramaturgische Funktion, Čhapaev zu vermenschlichen: Er repräsentiert sein Gewissen, fungiert als Stimme der Vernunft (sprich: der Partei), die den stolzen, übermütigen und ungebärdigen Lausebengel im Zaum halten soll. Dank ihm nimmt man Čhapaev nicht nur als Autorität wahr, sondern als jemanden, der selbst Objekt einer (höheren) Autorität ist. An einer Stelle kommt es zum ausgestellten Konflikt zwischen den Janusköpfen des Helden: Ein Offizier wird wegen Plünderei unter Arrest gestellt. Als Čhapaev das erfährt, wähnt er seine Befehlsgewalt unterminiert und regt sich auf. Doch dann stehen plötzlich Dorfbewohner vor der Tür, um sich für die Rückgabe des Diebesguts zu bedanken, und er sieht seine Vermessenheit ein.

Die Sequenz ist mit großer Sorgfalt geschnitten, jongliert virtuos mit Gesichtern (das Regieduo der Vasilyev-Brüder, in realitas gar keine Brüder, waren vor ihrem Durchbruch mit Čhapaev berühmt für ihre nahtlosen Zensurmontagen ausländischer Kinoproduktionen). Als Čhapaev das Licht der Erkenntnis aufgeht, lugt der böse Offizier, ganz personifiziertes Id, hoffnungsvoll durch einen Spalt in seiner Kerkertür. Doch sein Chef schickt ihn mit dem zerknirschten Blick eines auf frischer Missetat ertappten Lümmels zurück in die Dunkelheit. Der Zwist zwischen Altersweisheit und jugendlichem Übermut scheint aufgelöst. Auch äußerlich vereint Čhapaev beides: Die Jugend in seiner kantigen Statur und dem energischen Habitus (um seine Entschlossenheit zu demonstrieren, pflanzt er sich mit Vorliebe breitbeinig auf), das Alter im Schnurrbart und der gerunzelten Stirn.

Er war der Held, auf den die sowjetischen Kinozuschauer gewartet hatten. Buchstäblich: Seit 1931 war die Einfuhr ausländischer Filme vom Zentralkomitee drastisch eingeschränkt worden. Gleichzeitig geriet auch die heimische Laufbildproduktion zunehmend in die Kritik: Wegen Formalismus auf der einen und antirevolutionärem Unterhaltungsanspruch auf der anderen Seite. Gezeigt wurde hauptsächlich Agit-Prop über die Erfolge der Kollektivierung. Die Folge waren leere Kinosäle und -kassen (Quelle: Einführung und Katalogtext, beide von Peter Bagrov).

Čhapaev muss dieses Vakuum zur Implosion gebracht haben wie die Stecknadel einen Ballon. Der Film strotzt nur so vor Kinokraft, beherrscht alle Spielarten von Leinwandpathos aus dem Effeff, und ist zugleich mit allen Wassern der Montagetheorie gewaschen (eine von Bagrovs Einführungs-Anekdoten besagt, Eisenstein solle auf Kritik an seiner Theorieversessenheit gemeint haben, er sitze nur so viel am Schreibtisch, damit Filme wie Čhapaev das Licht der Welt erblicken können).

Čhapaev von Sergej und Georgij Vasilyev

Eine besondere Stärke des Films sind Abschiedsszenen, von denen er gleich zwei Prachtexemplare bereithält. In einer trennt sich Pet’ka von seiner Angebeteten Ko-Soldatin Anka, bevor er zu den Weißgardisten spähen geht. Noch sind die beiden keine Geliebten. Stolz und zugleich verschämt druckst Pet’ka rum, gibt Anka die Hand, während sein Blick schon zur Tür wandert, und verlässt dann ruckartig die Heimstatt Richtung Front. Sie besinnt sich, läuft ihm nach, doch er ist schon am Horizont, umflort vom Glanz der Abenddämmerung. Ankas zwischen Wohlwollen und Besorgnis oszillierender Gesichtsausdruck, die schummrig strahlende, überraschend natürliche Lichtstimmung, all das schafft den perfekten Spagat zwischen Kitsch und Poesie. Später spiegelt sich das Motiv in einer Trennung zweier Männer: Čhapaevs Abschied vom liebgewonnenen Kommissar, der nach Moskau zurückbeordert wurde, gerät nicht minder intensiv.

Diese Momente gehen fast wortlos vonstatten, die Stummfilmzeit liegt noch in greifbarer Nähe. Auch die womöglich stärkste Bilderfolge des ganzen Films bedarf keiner verbalen Erläuterungen – bloß der musikalischen Untermalung. Sie spielt in den Gemächern des weißen Erzgegners Oberst Borozdin (verkörpert von Illarion Pevtsov, dem einstigen Schauspiellehrer des Hauptdarstellers Babočhkin), einem für diese Art Film ungewöhnlich undämonsichen, besonnenen Bösewicht. Er sitzt am Klavier, die Melancholie von Beethovens Mondscheinsonate erfüllt den Raum. Im Hintergrund schunkelt sein alternder Diener und Offiziersbursche Potapov, eine treudoofe, traurige, in ihrer dumpfen Stämmigkeit fast schon Frankenstein-hafte Erscheinung, tranceartig hin und her, wie hypnotisiert von Musik, Kultur und der hochwohlgeborenen Aura seines Herrn und Meisters (sowie dessen gleißender Glatze). Ein paar Schnitte später erkennt man, dass Potapovs Tanz kein Tanz ist, sondern die rhythmischen Wischbewegungen einer Putzkraft. Da fällt sein Blick auf die Verurteilung zum Spießrutenlauf, die seinem geliebten Bruder das Leben kostete und dessen Ausführung Borozdin hätte verhindern können. Der Bann scheint für einen kurzen Moment gebrochen – und der Besenstiel stürzt mit lautem Knall zu Boden. Viel markiger kann man Kritik an der Klassengesellschaft filmisch nicht auf den Punkt bringen.

Musik spielt in Čhapaev eine bedeutende Rolle. Gesang blüht periodisch auf. Natürlich ging es hier nicht zuletzt um die Zurschau-(eher::Zurhör-)stellung der Vorzüge des Tonfilms, der sich in Russland etwas später durchsetzte als anderswo. Doch erst in den Liedern, die die Hauptfiguren an entscheidenden Stellen anstimmen, wird Čhapaev vollends zum Volkshelden, verschmilzt im Duett mit Pet’ka und im Chor der einfachen Soldaten mit der sprichwörtlichen „russischen Seele“. Meist handeln diese Lieder vom möglichen, wenn nicht schon drohenden Tod, sind eher wehmütig als heroisch.

Eine Wehmut, die sich im Übrigen problemlos mit gnadenloser Härte gegen jede Schwäche in den eigenen Reihen vereinbaren lässt. Natürlich ist Čhapaev ein Film, dessen Kultstatus auch bedenklich stimmt – auch und gerade weil er so gut ist in dem, was es tut. In einer der befremdlichsten Szenen, die nicht nur aus historisierender Außenperspektive selbstentlarvend wirkt, erschießt Čhapaev kaltblütig einen Soldaten, der zur Fahnenflucht aufruft. Kurz darauf melden sich zwei weitere. Was denn wäre, fragt der Kommandeur. Sie wollten nur bekanntgeben, antworten die beiden, dass da noch so ein Deserteur war, doch sie haben sich schon um ihn gekümmert. Schnitt auf die Leiche. Čhapaev nickt bloß zur Bestätigung. Fast meint man, Erstaunen in seinem Gesicht zu lesen ob der Schnelligkeit, mit der sich seine grausame Doktrin verselbständigt hat.

Später geht er dann mit gutem Beispiel voran in den Heldentod. Im Schutze der Nacht blasen die Weißen zum Angriff und überrumpeln die Roten im seligen Schlaf der Gerechten. „Say hello to my little friend“, brüllt Čhapaev und rammt das MG durchs Dachbodenfenster. Vergebens! Die Rache des Märtyrers folgt auf dem Fuße. Nicht zu knapp, sondern ganz alttestamentarisch, siebzigmal siebenmal. Borozdin wird von einem Säbelhieb aus dem Heu-Hinterhalt niedergestreckt, dann werden große Geschütze aufgefahren. Der Feind hat sich auf einer Klippe konzentriert, will gerade zurü-BUMM! Ende Gelände. Fun Fact: Stalin war ein großer Fan des Films, angeblich hat er ihn im Laufe eines einzigen Jahres 38 Mal gesehen. Und auch Putin brauchte, in einem Interview nach seinem Lieblingsfilm gefragt, nicht lange für seine Replik: „Čhapaev, natürlich“.