Fuck Her Gently: Love von Gaspar Noé

Love von Gaspar Noé

Entgegen einem ersten Reflex beginnt diese Besprechung nicht mit einer Verteidigung, sondern einer Feststellung: Love hat keinen Apologeten nötig, der zu seiner Rettung auftritt. Diese Feststellung lässt sich meines Erachtens auf mehreren Ebenen rechtfertigen. Zunächst ist Love eine logische Weiterentwicklung des filmischen Werks von Gaspar Noé. Der Argentinier ist dafür bekannt seine Filme durch Referenzen miteinander zu verbinden. So taucht die Hauptfigur aus Seul Contre Tous am Beginn von Irréversible vor, das Love Hotel aus Enter the Void taucht wiederum als Modell in Murphys Wohnung in Love auf. Das sind bloß oberflächliche Verbindungen, aber ohne Zweifel lassen sich darüber Kontinuitäten in den Filmen Noés feststellen. Vor allem im Vergleich zu seinem letzten Film Enter the Void lässt sich eine Entwicklung seiner Filmsprache nachvollziehen – es ist raffinierter und subtiler geworden, so ungewöhnlich diese Attribute im Zusammenhang mit Noé klingen mögen.

Love von Gaspar Noé

Das Kino Gaspar Noés ist ein Kino der Körperlichkeit. Durch seinen Protagonisten Murphy, der in mancher Hinsicht das Alter Ego des Filmemachers darstellt, beschreibt er es als ein Kino „of blood, sweat and sperm“. Nun waren alle diese drei Komponenten in Enter the Void nicht gerade unterrepräsentiert, jedoch erfahren wir sie dort anhand der Figur des Oscar, der bereits nach kurzer Zeit verstirbt, woraufhin die Kamera die Position seines Geists einnimmt, der losgelöst von irdischen Kategorien durch Tokio gleitet. Wir sehen dann Blut, Schweiß und Sperma, aber es berührt uns (als Geist, als Kamera, als Publikum) nicht, da wir gar nicht mehr Teil dieser physischen Welt sind. In Love verhält es sich anders: Zwar folgen wir auch hier einer einzelnen Figur, dem amerikanischen Filmstudenten Murphy, doch Blut, Schweiß und vor allem Sperma sind sein eigenes. Wir gleiten nicht mehr oberflächlich und entkörpert durch die Welt, sondern verfolgen Murphy als physisches Subjekt durch einen vage definierten temporalen Raum. Auf ontologischer Ebene ist dieser Raum nicht sehr viel konkreter als die Geisterwelt aus Enter the Void, doch die Anwesenheit Murphys gibt ihr Taktilität, lässt sie uns durch ihn körperlich erfahren, anstatt sie uns nur zu zeigen. Es ist ein neuer Versuch eine ähnliche Geschichte mit ähnlich platten Dialogen und kaum ausgereiften Figuren zu erzählen, aber das ist gar nicht entscheidend, denn Murphy ist nur eine Art Platzhalter, durch die Noés künstlerische Vision vermittelt wird. Diese Vision ist eng an eine Ziehharmonika-artige Welt- und Filmerfahrung geknüpft. Noés Kino ist ein Kino der totalen Immersion und der totalen Verfremdung. Sein Reich aus Blut, Schweiß und Sperma lockt uns an, nur um uns im nächsten Moment abzustoßen. Noé wird gern reduziert auf seine extrovertierte Stilistik, die sich durch überbordenden Gebrauch von Farb- und Toneffekten und markant akzentuierte Schnitte auszeichnet, doch diese Filmsprache ist kein Manierismus, sondern soll entfremden, den Bann brechen, uns aus der illusorischen Versenkung holen. In Love hat er nun eine größere Raffinesse auf diese Vorgehensweise angewandt. Die explosiven Neonfeuerwerke mussten einem kontemplativeren Farbenspiel weichen, das weniger eindeutige Ideen vermittelt, als die halluzinogenen Drogenräusche, die in Enter the Void visualisiert wurden; Cuts werden nicht durch akustische Signale überdeterminiert, sondern erfüllen ihren Zweck auch als unaufgeregte Schwarzblenden; die bisher doch immer recht dominante musikalische Ebene, ordnet sich weitaus harmonischer in das Gesamtkonzept ein. Es ist paradoxerweise diese Harmonie, die dem filmischen Extremisten Noé Reife gibt, die seine Werke bisher vermissen ließen. Da lässt sich sein Riesenego, dass sich unübersehbar in den Film eingebrannt hat leichter als ironisches Augenzwinkern verstehen, der 3D-Cumshot direkt in unser Gesicht, leichter als Parodie auf den Einsatz dieser Technik in kommerzielleren Unterhaltungsformen ausmachen. Love ist zweifellos ein Stück Selbstdarstellung (das sind alle seine Filme), aber im Gegenzug gibt Noé eine Menge von sich selbst preis. Er exponiert sich und geht ein Risiko ein. Das führt zum einen dazu, dass die Masse Selbstreferenz den Film zu sprengen droht, aber im Umkehrschluss auch dazu, dass der Film an Persönlichkeit und Verletzlichkeit gewinnt.

Love von Gaspar Noé

Was Noé mit 3D-Technik anzufangen weiß ist darüber hinaus eine Erörterung wert. Gemeinhin verfehlt 3D seine Wirkung, indem es die Leinwand, die wir auch ohne diese ulkigen Brillen als räumliche Tiefe wahrnehmen, als hintereinander gestaffelte Flächen erscheinen lässt. Wir haben es dann mit einer Sukzession flächiger Raumebenen zu tun. Noé wendet das 3D hingegen in die Horizontale an. Unmögliche Proportionen entstehen so an den Bildrändern, die meist von oben fotografierten Sexszenen werden an ihrer Peripherie grotesk verformt, Körper und Gliedmaßen zu perversen Monstrositäten. In anderen Szenen nutzt Noé den oben beschriebenen Effekt, um bewusst flächige Raumebenen zu schaffen. Figuren heben sich dann von ihrer Umwelt ab, wie zum Beispiel in der Tanzszene im Club als Murphy und Elektra die junge Omi verführen, die zunächst noch im Hintergrund tanzt, und schließlich in die Raumebene des Paares eintritt. Noé interessiert sich für diese technischen Möglichkeiten des Films, aber nicht um ihrer selbst willen, wie man zuweilen meinen könnte, sondern um Ideen von Zeit und Raum, von Wirklichkeit und Illusion, von Menschlichkeit und Gefühl, von Körperlichkeit und Liebe zu verhandeln. Deshalb ist es irrelevant, wie farblos der Protagonist wirkt und wie prätentiös seine Kopfstimme dahinlabert, für Noé ist er bloß ein Instrument, mit dem er an der Zerstückelung der kinematographischen Wahrnehmung arbeitet. Es sind Strategien der Bewusstmachung filmischer Mittel und der Zersetzung herkömmlicher Raum- und Zeitstrukturen, die Noés Werk auszeichnen, und in dieser Hinsicht ist Love ein bisheriger Höhepunkt seines Schaffens.

Filmfest Hamburg 2014: The Tribe von Myroslav Slaboshpytskiy

The Tribe von Myroslav Slaboshpytskiy ist einer jener Filme nach denen man nur schwer zu Wort kommen kann. Das ist insbesondere deshalb bemerkenswert, weil der Film selbst komplett ohne Worte auskommt und ohne Untertitel, Voice-Over oder sonstige Hilfsmittel in Zeichensprache erzählt wird. Es geht darin um den Taubstummen Sergey der neu auf ein heruntergekommenes Internat für Taubstumme gelangt. Schnell kann er sich in der brutalen Welt dort durchsetzen und steigt in einem illegalen Ring von Geldeintreibung, Raubüberfallen und vor allem Prostitution ein, der vom Internat ausgeht. Gleichzeitig verliebt er sich in rauer Weise in eine der taubstummen Prostituierten. Was folgt ist ein Portrait einer gerade durch ihre Stille erdrückenden Gewaltspirale, die einem schonungslos in den Magen schlägt. Der Sieger der Semaine de la Critique in Cannes ist im Gegensatz zum Sieger der Un Certain regard Sektion ein Film über den man reden muss und reden wird.

Dabei vertraut der Ukrainer Slaboshpytskiy auf lange Plansequenzen, die sich oft gleich einer Musical-Choreografie in fließenden und körperlichen Bewegungen entfaltet. So begleitet die Kamera eine Gruppe der Jugendlichen in einem seitlichen Travelling. Sie sammeln sich, sie begrüßen sich und laufen formiert los. Ein durchkomponierter und fesselnder Rhythmus entsteht, der ob der fehlenden Worte den Blick herausfordert und damit die Kapazitäten und in gewisser Weise auch das Wesen des Kinos entblößt. Die Schlägereien, Raubüberfälle und Sexszenen sind eigentlich Tanzszenen. Der schonungslose Sozialrealismus bricht jegliche Ästhetik auf, aber im Kern bewegt dieser musikalische Motor den Film. Natürlich ist The Tribe kein Stummfilm. Immer wieder kommen flüsternde Geräusche aus den Mündern der Protagonisten und ständig hört man die Umgebung. Es ist dennoch gut, dass Slaboshpytskiy außer in wenigen Beispielen auf ein überstrapaziertes Sound-Design verzichtet. Denn die Möglichkeiten einer plötzlichen Lautstärke sind verlockend. Einmal muss sich eine Figur lautstark übergeben und dieses von ihrem Körper ausgehende Geräusch ist ein kleiner Schock. Vielmehr gibt sich der Regisseur das ein oder andere Mal unnötigerweise der Schwäche hin sehr deutlich zu zeigen, dass diese Figuren nichts hören und damit auch nicht wahrnehmen, was für uns äußerst grausam ist. Manchmal gibt sich der Film diesem Effekt zu sehr hin.

The Tribe 2014

Oft steht die Kamera auch lange an einem Ort und erstickt damit den Zuseher, dem die Kehle zugeschnürt wird, ob der unfassbaren Brutalität, die sich auf dieser Insel unter dem Radar dessen, was wir öffentliche Wahrnehmung nennen, hinrichtet. Nur einmal gibt es ein Verhör bei der Polizei. Dieses scheint aber keine Konsequenzen zu haben. Zumindest keine einschneidenden. Die Zeichensprache selbst ist für jene, die sie nicht beherrschen ein faszinierendes Rätsel. Immer wieder glaubt man, dass man verschiedene Zeichen erkennt, es ist eine Freude sie zu lesen wie ein Bild, wie das Kino. Statt Mitleid für seine wirklich taubstummen Darsteller zu evozieren, nimmt der Film eine Perspektive ein, die keine Perspektive kennt. Hier geht es nicht um den Blick auf ein Taubstummeninternat, hier geht es um die schrecklichen Dynamiken aus dem Inneren dieser Welt. Dabei erinnert der Film in der Mischung aus formaler Konsequenz und inhaltlicher Brutalität an Irréversible von Gaspar Noé und 4 luni, 3 săptămâni și 2 zile von Cristian Mungiu. Mit letzterem eint ihn die Brutalität einer Abtreibung. Aber dort wo Mungiu die Grausamkeit dadurch entfaltet, dass er uns aus dem Zimmer ausschließt, liegt sie für Slaboshpytskiy im unerträglichen Draufhalten. Am Ende trifft er einen so hart, dass man kaum mehr hinsehen kann und endet dann im exakt hoffnungslosesten Moment.

Neben der Gewalt spielt auch die Sexualität eine maßgebliche Rolle. Sergey bezahlt seine Angebetete, damit sie mit ihm schläft und kommt ihr dann doch immer wieder nahe. Dies sind die einzigen Momente des Glücks im Film, die in ihrer Länge unheimlich zärtlich und intensiv dargestellt werden. Später jedoch wird sich die Gewalt mit der Sexualität verbinden bei Sergey. Gruppendynamiken in dieser Hölle erinnern an Picco von Philip Koch. Nur gibt es dort Erklärungen, Ausreden und verbalen Terror während wir in The Tribe gar keine Chancen bekommen, zu verstehen. Vielmehr müssen wir ertragen und versuchen, aus unseren Beobachtungen alleine zu schließen. Irgendwann fällt der Abstand der Kamera auf. Es gibt nur marginale Naheinstellungen, alles findet in der Entfernung statt. Eine Welt ist dazwischen. So entsteht ähnlich wie im nebeligen Letter von Corbitt Howard und Sergei Loznitsa eine Entfremdung aus einer anderen(???) Welt, die einen tief berührt und nicht mehr loslassen will.