Das Kino als Fundstätte des Virtuellen

Laut einem in der letzten Ausgabe einer renommierten französischen Filmzeitschrift veröffentlichten Text, der mithilfe (ungeschickt) versteckter Zitate von Maurice Merleau-Ponty philosophisch zu erscheinen versucht, habe Steven Spielberg mit Ready Player One entdeckt, dass das Virtuelle eigentlich reell ist. Ungeheuer beeindruckend.

Ich gestehe, dass ich mir Spielbergs letzten Film trotz aller Begeisterungsstürme der Geeks noch nicht angeschaut habe. Es ist wohl zum Teil reiner Snobismus meinerseits; mehr liegt es aber daran, dass der sogenannte Avantgardismus Spielbergs, der angeblich das klassizistische Erbe eines John Ford weiterführt, mir fast bei jedem seiner Filme als altbackene, billige Empfindelei vorgekommen ist. Eine Empfindelei, die ich satt habe. Und die nicht nur langweilig ist, da sie anhand einer kitschigen, betäubenden Musik (von John Williams) und einer groben Verzerrung der Fakten (insbesondere in seinen „historischen“ Filmen) den Zuschauer dazu zwingt, sich vor der grandiosen, strengen aber zugleich großzügigen Kraft der Helden Amerikas zu beugen. Nicht nur das: Ich kann den Eindruck nicht loswerden, dass Spielberg, sobald er das Feld des Entertainments verlässt, um sich dem ernsthaften Politischen zu widmen, das Kino vergisst indem er seine Kunst unter einem Haufen erschöpfter Tricks begräbt.

Ich ahne den Vorwurf: John Ford hat selten den Anspruch gehabt, Kunstwerke zu machen. Das mag wohl wahr sein. Nur weil man keine besondere Absicht als Künstler hat, bedeutet es jedoch nicht, dass man sich der Mittel seiner Kunst nicht bewusst ist. Dafür ein einziges Beispiel: Am Ende von Drums along the Mohawk, wenn die Fahne Amerikas an der Spitze des Forts gehisst wird, um als Symbolbild eines vereinigenden Patriotismus zu fungieren, dann wird dieser nationalistische Moment nicht als ein festes, historisch bewiesenes Faktum gezeigt, sondern er ist auch – vor allem dank des minutiösen Schnitts, der emotional eine Kette von „frischen“ amerikanischen Bürgern bildet – als ein mythisches Urbild der Geburt eines Landes, welches zweifellos auch etwas Erfundenes an sich hat, zu betrachten. Wobei Ford keinen historischen Diskurs herstellt, sondern einen unvergesslichen Kino-Moment, der seinem Film eine zeitlose Aktualität garantiert.

Drums Along the Mohawk von John Ford

Spielbergs Begriff des historisch-politischen Kinos hingegen versteht die großen Figuren und Ereignisse der Vergangenheit ausschließlich als steife Denkmale eines imaginären Museums, das es nie gegeben hat, und dessen Sammlungsstücke dem Künstler zur Verfügung stehen. Das Fragwürdigste daran ist weniger, dass der Filmemacher sich einbildet, dass er die Geschichte nach seinen Wünschen umschreiben kann, sondern dass dieses Umschreiben sich auf den Umfang eines Kinderzimmers beschränkt. Was ist denn Spielbergs Lincoln mehr als ein zweieinhalb Stunden langes Herumsitzen, in dem ein onkelhafter Abraham Lincoln den ihn umgebenden Figuren seine tiefsinnigen Parabeln erzählt, als wären sie alle seine Kinder, die Kinder Amerikas. Kein Zweifel, dass sich Spielberg dabei durch seinen Helden selbst darstellt: Die Zuschauer, die schülerhaft Onkel Spielbergs Lehre empfangen sind auch seine Kinder. Hilflos und von der Erhabenheit der Sache erschrocken, müssen sie durch die dunklen, staubigen Gänge der modernen Geschichte an der Hand geführt werden.

Lincoln von Steven SpielbergLincoln von Steven Spielberg

Spielbergs jüngster „politischer“ Film, The Post, setzt das auf eine ganz deutliche Weise fort. Der Film, der wahrscheinlich als eine Hommage an den Hollywood-Journalismus-Thriller der siebziger Jahre gemeint war, der diesem Genre-Muster in Zeiten des Trump-Wahnsinns aber zusätzliche Resonanz abgewinnen möchte, ist nichts mehr als ein erbaulicher Sonntagsspaziergang durch die Geheimnisse der Nixon-Regierung. Durch den Charakter der Erbin und Verlegerin Kay Graham, gespielt von Meryl Streep, möchte Spielberg eine feministische Kritik an der patriarchalischen Gesellschaft äußern, wobei er tatsächlich einen harmlosen, väterlichen Feminismus zur Schau stellt. Sein Glaube an die Stärke kleiner Details in der Inszenierung ist in dieser Hinsicht besonders lächerlich: Kurz nach Beginn des Films, nachdem sie sich mit einem Berater über die Lage der Zeitung, die sie geerbt hat, unterhalten hat, wird Kay Graham von einem Telefonanruf überrascht. Bevor sie das Telefon ihrem Ohr annähert, entfernt sie ihren Ohrring und legt ihn auf den Bürotisch. Dies ist kein unerhebliches Detail, denn Spielberg wechselt den Standpunkt (Kay wurde bisher aus der Distanz beobachtet), um eine nähere Aufnahme des Rings zu machen. Hinter dem Schreibtisch ist ihr Sohn Donald zu sehen, der leicht beängstigt der Diskussion lauscht. Der Ring erfüllt hier die Rolle des Symbols einer Unterdrückung, denn Spielberg betont damit, dass Kay gerade von ihrer Weiblichkeit in Verlegenheit versetzt wird (ein auffallendes Kennzeichen der Figur ist übrigens, dass Kay im ersten Teil der Erzählung sehr schüchtern und ungeschickt wirkt), da sie in einer Welt lebt, die von Männern beherrscht wird. Mit diesem Ohrring kündigt der Filmemacher eine weitere Szene an, die kurz darauf folgt und ein Meeting über wirtschaftliche Maßnahmen zeigt. In dieser Meetingszene versucht Kay vergebens das Wort zu ergreifen, wird aber ständig von den männlichen Protagonisten unterbrochen und absichtlich überhört. Das Erstaunliche daran: Dass Spielberg denkt, dass er im Jahr 2017 das Weibliche durch einen Ohrring darstellen kann. Hätte der Ohrring eine dramaturgische Bedeutung, würde er etwas Intimes über den Charakter Kays erzählen. Das ist leider nicht der Fall: Der Ohrring ist hier ein gleichgültiger Gegenstand, der die Essenz der Weiblichkeit verkörpern soll. Ein Ohrring, ein Beispiel unter vielen für den seltsamen Spielberg‘schen Begriff des Möglichen oder des Potentiellen. Die Wendungen der Geschichte mögen in der Tat von einem Ohrring abhängen, vom Symbol einer ewigen menschlichen Essenz aber gewiss nicht.

Nein, ich habe mir also Spielbergs letzten Film noch nicht angeschaut – so gelungen der auch sein mag, weiß ich aber schon, mit einer hundertprozentigen Gewissheit, dass nicht Spielberg entdeckt hat, dass das Virtuelle im Realen liegt. Dafür reichen mir die Werke Aristoteles genauso wie sie dem Rest der Menschheit seit der Antike gereicht haben. Dass aber die französische Filmkritik es heute schafft, diese uralte Wahrheit – nämlich, dass die Virtualität schon immer ein Teil der Realität ist – als eine außerordentliche Entdeckung des Filmemachers gelten zu lassen, ist ein Beweis dessen, dass die Kunst der Faktenverzerrung, welche Spielberg am deutlichsten in seinen sich auf ein politisches Bewusstsein berufenden Filmen entwickelt hat, schon längst das Schreiben über sie angesteckt hat. Was mich betrifft, träume ich lieber weiter von einem Kino, das dem wahrhaften Potentiellen noch einen Platz schafft, als dass ich mich von einem verzaubern lasse, das die Potentialitäten der Menschengeschichte durch die Willkür seiner altmodischen Weltanschauung endgültig verriegelt.

Viennale 2014: Young Mr. Lincoln von John Ford

Young Mr.Lincoln

Mit der Retrospektive für John Ford im Österreichischen Filmmuseum und der Peter Handke geht ins Kino-Schau im Metrokino hat die Viennale 2014 einige Tage vor ihrem offiziellen Beginn am 23.Oktober bereits Fahrt aufgenommen.

Schon in den ersten Bewegungen von Young Mr. Lincoln bemerkt man das verspielte Gewicht mit dem Ford seine weltbekannte Figur heroisiert. Eine Fiktion ist das, die von einer coolen Zärtlichkeit durchdrungen wird, von einer entdramatisierten Narration, die den absolut vorhandenen Pathos in einer Art versteckt, die man wohl selten gesehen hat. Vergleicht man den Film-und das bietet sich ja durchaus an-mit Steven Spielbergs Lincoln so bemerkt man recht schnell welch außerordentlicher Regisseur Ford und welch beschränkter Filmemacher Spielberg ist. Beginnen könnte man bei den Darstellungen und Darstellern von Abraham Lincoln. Gibt der außerordentliche Daniel Day-Lewis jene ikonische Figur bei Spielberg wie ein Theaterdarsteller, als Alleinunterhalter für die, mit seiner Kraft überforderte Kamera so verhält es sich bei Henry Fonda und Ford so, dass die Darstellung immer im Verhältnis zur Kamera entsteht. Als würde ein unsichtbares Gewissen die Bewegungen und moralischen Sätze des jüngeren Lincolns lenken, als würde uns jederzeit klar, dass wir einen bestimmten politischen und persönlichen Blick auf diesen Mann erkennen. Der Abstand zur Kamera oder das prominente Framing des markanten Hutes des späteren Präsidenten in der Bildmitte im Gerichtssaal deuten auf dieses Vorgehen hin. Ford mystifiziert seinen Blick derart und lädt ihn so auf, dass wir uns nie sicher sein können, ob es sich lediglich um eine nostalgische Glorifizierung oder doch um eine ironische Liebeserklärung handelt. Außer in der letzten Szene kommen diese Momente nie mit großen Gesten, sie sind einfach Teil der anekdotischen Vorgehensweise (Drehbuch: Lamar Trotti) des Films. Bei Spielberg werfen die großen Schatten an den Wänden, das überbetonte Kerzenlicht und das strahlende Weiß, das durch die Fenster und Türen dringt (ganz zu schweigen vom Blau, in den der Film getunkt ist) immer schon mit einer Schwere um sich, die einen so lange ob der Bedeutung des Ganzen anschreit, dass man schlicht sein Interesse verliert. Ford benutzt Film hier als Sprache mit der er-der Filmemacher-aus einer bestimmten Perspektive von etwas erzählt während Spielberg technische Mittel benutzt, um etwas aus einer amerikanischen oder gar universellen Perspektive zu vermitteln. Der Effekt ist spiegelverkehrt. In Spielbergs Film hat man das Gefühl, dass er aus einer anderen Zeit stammt und nur im Kontext einer bestimmten Kultur funktioniert, während Ford mit seinem Understatement ein Gewicht und eine Bedeutung ermöglicht, die entweder ehrlich ist oder als politische Propaganda bestens funktioniert. Natürlich bedient er sich sämtlicher Stilmittel, die Spielberg in seiner Betrachtung des Mannes benutzt, aber bei Ford ist man sich immer einer zurückhaltenden Bewunderung bewusst während Spielberg so tut als wäre sein Ansatz die Wahrheit selbst. In beiden Filmen wird viel über Logik und Moral gesprochen, aber während Spielberg nicht anders kann als den Stoff durch einen merkwürdigen Filter zu neutralisieren, lädt ihn Ford mit einem subjektiven Gefühl auf. Spielberg legt in einen äußerst komplexen historischen Vorgang ein äußerst emotionalisiertes und vereinfachtes Drama während Ford in einen einfachen Fall eine äußerst komplexe Wahrnehmung einflößt. Vielleicht ist der Vergleich ein wenig unfair, weil Ford-man sieht es als er am Ende nicht widerstehen kann, Lincoln in ein Gewitter spazieren zu lassen-in diesem Ausschnitt des Lebens noch nicht das Gewicht der Geschichte finden kann wie Spielberg, bei dem es um die amerikanische Frage schlechthin geht.

Young Mr. Lincoln von John Ford

In Young Mr. Lincoln wird einmal beschrieben, dass Lincoln einen Fluss genauso betrachtet wie eine Frau, die er liebt. Genau das gleiche gilt für den Blick von Ford, diese Romantik, diese Einsamkeit. Lincoln ist eine eigene Form des Loners, den beispielsweise John Wayne im selben Jahr für ihn in Stagecoach gab. Zunächst betrachten wir ihn als jungen Mann am Scheideweg, ein Denker, ein Bücherwurm, eine verlorene Seele. Er widmet sich dem Recht und nach einem ungeklärten Mordfall am Rande eines grandios gefilmten Festes mit Holzstammteilungen und Tauziehen schlägt die große Stunde von Lincoln, der die Angeklagten, zwei Brüder von denen nicht klar ist, wer den Mann ermordet haben soll, verteidigt. Ein Mann des Volkes, der mit seiner unbestechlichen Moral und Logik und mit einer gesunden Prise Humor die Leute begeistert. Dieser Humor ist ein entscheidendes Element im Film, weil er eine Distanz schafft, die den Pathos bricht. Außerdem existiert eine Art Traumlogik in den Bildern, dieser romantische Touch mit Sehnsuchtsbildern aufgeladen, die einem immerzu sagen, dass diese Ikone das Kino ist und nichts anderes. Dabei agiert die kinematographische Verklärung aber selbst nie verklärend, sondern macht sich immer als solche bemerkbar. Vielleicht ist der Unterschied zwischen Ford und Spielberg, dass Ford einen romantisch-politischen Film über Geschichte gemacht hat und Spielberg eine romantisch-politische Geschichte mit Film.

Im Gericht trifft in der Figur der Mutter der zwei mutmaßlichen Mörder die juristische Wahrheit auf die emotionale Wahrheit. Genau in diesem Spannungsfeld bewegt sich der Film und vieles in der amerikanischen Geschichte mit dem Lincoln konfrontiert war. Die Mutter verweigert ihre Aussage, weil sie niemals einen ihrer Söhne belasten könnte. Hier vereinen sich das Drama von Film und das Theater des Gerichts. Nur Ford bemüht sich keineswegs um dieses Drama. Ihn interessiert das Verständnis, das Lincoln für diese Frau hat. Die Kamera isoliert die Frau kaum sondern setzt sie immer ins Bild mit dem jungen Lincoln, der aus ihr lernt und damit bekommt der Raum des Gerichtssaals bei Ford eine filmische Komponente, die ihn über jenen Spielraum für ein theatrales Schuss/Gegenschuss Dispositiv hebt. Bei Ford ist das Gericht ein Film: Raum mit Tiefe (man beachte den Richter im Hintergrund), Off-Screen (man bemerke das betrunkene Aufstoßen eines der Jurymitglieder) und mit einem Staging im Raum.

Young Mr.Lincoln mit Henry Fonda

Ein letztes Beispiel für die Regiekraft von John Ford. Nach dem ersten Verhandlungstag befinden wir uns plötzlich in einer trauten Familiensituation der Angeklagten. Kerzenlicht, ein Holztisch. Ford filmt die traurigen und sich liebenden Gesichter kommentarlos. Es ist ein Moment poetischer Schönheit und es ist nicht ganz klar wie es dazu kommen konnte, da es gerade nicht besonders gut aussah für die beiden Brüder vor Gericht. Die Kamera und Montage gewähren uns erst nach einiger Zeit einen Blick auf das Ganze und wir bemerken, dass sich diese Szene hinter Gittern abspielt. Eine Illusion, die gebrochen wurde und dadurch zur vollen Schönheit gelangt.