Les rêveurs du Pont Neuf: Quatre nuits d’un rêveur von Robert Bresson

Es gibt Farben in Quatre nuits d’un rêveur von Robert Bresson, solche die berühren, solche die verletzen, solche die verzerren.

Das Schaffen von Bresson wird gern getrennt zwischen dem Schwarz/Weißen und dem Farbigen. Warum wird klar, wenn man sieht, wie sehr er wirklich mit Farben arbeitet. Neben Antonioni und Godard gehört Bresson zu den wenigen Filmemachern, bei denen der Wechsel zur Farbe immer eine Entscheidung ist. Heute hat sich das irgendwie natürlich gedreht und es gibt wenn dann Filmemacher, bei denen schwarz/weiß eine Entscheidung ist. Wohl sei aber bemerkt, dass Godard über Bressons Au hasard Balthazar sagte: Ein Film in den Farben schwarz und weiß.

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Sie klingen ähnlich wie die ersten Töne von Chaplin, diese Farben bei Bresson. Vor allem Rot ist es in Quatre nuits d’un rêveur, man sieht es ständig. Es ist ein Film über die Liebe, warum also nicht diese Farbe, möchte man fragen. Wie unter anderem Luchino Viscontis Le notti bianchi basiert der Film auf Dostojewskis Novelle Weiße Nächte. Weiß, weil es in der Zeit um die Sonnwende nicht richtig dunkel wird in St. Petersburg. Bei Visconti hat dieses Weiß eine Übersetzung in künstlichen Schneefall bekommen. Ein Film im Studio, der ähnlich mit der Frage der Fiktionalität einer Romantik umgeht wie zuletzt Die Geträumten von Ruth Beckermann. Statt der Illusion der Worte ist es bei Visconti jene der ganzen Welt, der Umgebung, der Zeitlichkeit, des Wartens zusammen, des Tanzes, des Schneefalls. Auch wenn man das Gefühl hat, dass die Figur von Mastroianni den ganzen Film über weiß, dass das eigentlich nichts werden kann, vielleicht. Die Geschichte ist letztlich trotz vieler Anpassungen die gleiche bei allen drei Künstlern. Ein Mann trifft eine Frau, die auf ihre Liebe wartet und daran verzweifelt. Der Mann verliebt sich in die Frau und gerade als sie beginnt darauf einzugehen, kommt der andere Mann doch und die Frau verschwindet mit ihm.

Bei Bresson ist Weiß etwas anderes. Es ist das Papier bevor es bemalt wird, der Urzustand, die Unschuld. Liebe macht Schuld, befleckt, aber auch: Kreiert ein Gemälde. Farbtupfer, abstrakte Farben, die in der Unschärfe in der Tiefe des Bildes von den Reflektionen einer möglichen Nacht erzählen. Farben, die diese Nacht verändern, täuschen, erheben, beleuchten. Der Film findet genau an dieser Schwelle statt. Zwischen dem Weiß und der Farbe, der Leere und der Fülle, der Unschuld und der Schuld. Die große Liebe hinter einer weißen Wand in der vielleicht offensten erotischen Szene eines Filmemachers, bei dem die Erotik normal zwischen den Bildern stattfindet. In einem Schnitt, in der Imagination. Hier jedoch ein nackter Körper. Er streift an der Wand entlang. Auf der anderen Seite der Wand ein Klopfen, eine Verführung, die Wand bleibt weiß. St. Petersburg ist Paris bei Bresson. Ein Paris bevölkert von einer Jugend, auf die Bresson in seinem Spätwerk so sehr den Fokus legte. Man folgt einem Träumer, dessen Blick auf die Stadt mit den unscharfen Farbtupfern harmoniert, es ist seine Wahrnehmung. Leicht abstrakt, sinnlich, verführend, leer. In Die Sanfte von Dostojewski, ebenfalls brillant verfilmt von Bresson in Une femme douce, beschreibt der Schriftsteller letztlich auch diese Figur, den fatalistischen Träumer Jacques aus Quatre nuits d’un rêveur: „Das ganze Problem ist, dass ich ein Träumer bin. Ich war schon damit zufrieden, dass ich genug Material für meine Träume gesammelt hatte. Was sie betraf, so dachte ich, dass sie warten könne.“ So flaniert die Figur in ihre Liebe, alle scheinen immer in die Liebe zu flanieren bei Bresson. Lieben wie das Warten auf einen Brief, der vielleicht nie ankommt, bei dem aber das Warten schon die Liebe ist.

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Aber was ist das hier für eine Liebe zwischen den Farben am Pont Neuf, den Leos Carax Jahre später nicht nur nachbauen hat lassen, sondern ein einen Exzess der Farben zwischen Ufer und Wasser verwandelte, wobei er dabei durchaus die gleichen Fragen stellte wie Bresson: Wenn es eine Illusion ist, lässt du dich dann trotzdem fallen? Statt des Sturms bei Carax gibt es bei Bresson das Flüstern auf der Brücke. Carax zeigt das Fallen, Bresson nicht. Er erzählt von einer Romantik, die nicht aufgeht. Durchaus mit Humor für das Fatale. Ein Streben nach Idealen, nach Illusionen, nach Blicken. Jacques verfolgt Frauen mit Blicken wie der Mann in Dans la ville de Sylvia von José Luis Guerín. Lange Blicke, dann senkt sich die Kamera wie so oft bei Bresson auf die Schritte, dann wieder ein Blick. Blicke und Schritte. Schon öfter beschlich mich das Gefühl, vor allem bei L‘argent, dass Bresson-Filme eigentlich Verfolgungsjagden sind, zumindest sollte man sie so betrachten. Alle folgen sich, die Kamera folgt ihnen, man folgt und blickt. Jacques geht nicht auf die Frauen zu, obwohl sie seine Blicke erwidern. Er ist einer dieser magnetischen Modelle von Bresson, nicht zuletzt wegen seiner, typisch für Bresson, beinahe zusammengewachsenen Augenbrauen. Seine Augen saugen Farben auf.

Sie dagegen heißt Marthe. Sie ist suizidaler als Maria Schell bei Visconti. Sie hängt an einem Moment der unschuldigen Schuld für die Ewigkeit. Nackt im Zimmer mit dem Untermieter, ihre Mutter schreit ihren Namen, sie bewegt sich nicht, die Tür ist abgeschlossen. Ein Versprechen, eine Schuld, ein Gefängnis und ja, ein Verschwinden. In ihr und ihrem Zimmer finden sich die weißen Spuren einer Unschuld, die Bresson faszinieren. Bresson reflektiert das durchaus im Film. Ein älterer Filmemacher und seine Faszination mit der Jungfräulichkeit, man denkt dabei an Manoel de Oliveira. Früher wird Marthe mit ihrer Mutter zu einer Kinopremiere eingeladen. Sie sehen etwas, dass auffällige Ähnlichkeit zu Tarantinos Reservoir Dogs hat. Voller künstlicher Farben, vor allem Rot. Marthe sagt ihrer Mutter, dass sie in eine Falle geraten seien und die beiden verlassen das Kino.

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In den vier Nächten, an denen Marthe und Jacques sich auf der Brücke treffen, tauchen sie in ein Lichtermeer. Vor allem die bateaux mouches, denen sie sich kaum entziehen können, erzeugen diffuse, fast blendende Lichter und Farben, begleitet von Musikern auf dem Boot, eine Nacht für Träumer und Geträumte. In diesen Bildern findet sich die Hysterie von Dostojewski kondensiert. Eine Hysterie, die Bresson sonst in das Reich der Suggestion schiebt und darüber auf eine Unsicherheit verweist, eine Unsicherheit gegenüber der Ernsthaftigkeit der Gefühle. Sie sind forciert wie der Blick auf den Mond am Ende, als Jacques Marthes Kopf packt und ihn gegen den Mond richtet, weil sie nicht mit ihm in diesem Moment ist oder weil sie nicht dem Bild entspricht, das er zeichnen kann. Sie sind diffus und unklar wie die Farben des Films, die meist in der Unschärfe tanzen und wenn sie kräftig aufleuchten, wie beim Schal den Jacques Marthe umbindet, dann sind sie vergänglich. Eine Hysterie, die sich nicht zeigt und die man genau deshalb spürt.

Die Erzählstimme verlagert Bresson mit wenigen Ausnahmen trotz seines großen Gespürs für Voice Over aus der ersten Person (man denke an Journal d‘un curé de campagne oder Pickpocket) fast im Stile Chris Markers auf einen Tape Recorder. Was Jacques darin sagt, erinnert mehr an Duras als Dostojewski. Hier ist ein Fieber, eine Hingabe, Liebe, aber es ist zeitlich verschoben, sie wird entfremdet wiedergegeben. Jacques hört es sich an. Mal liegt er dabei auf dem Bett und träumt, mal hört er es während er malt, womöglich als Inspiration und einmal spielt er es heimlich in einem Bus ab und irritiert damit zwei ältere Fahrgäste. Es gibt eine merkwürdige Distanz zu dieser Hysterie, ein Spiel, eine Arroganz, eine Hilflosigkeit.

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Es gibt diese Tendenz, den Film zu verteidigen, in dem man sagt, dass er weitaus subtiler und vielschichtiger mit Romantik umgeht (oft fällt hier das Wort Humor), als man zunächst glaubt. Quatre nuits d’un rêveur setzt diesen Humor aber nicht auf. Er ist einfach Teil der Hilflosigkeit und der romantischen Hingabe. Es ist so, dass diese Welt samt ihrer Farben und Nicht-Farben der Erfahrungswelt der Figuren entspricht. Wie so oft bei Bresson ist es nicht nur ein Film auf der Suche, sondern auch ein Film über eine Suche. Sie mündet hier in eine Enttäuschung, die es vielleicht genauso wenig gab wie die Hoffnung. Am Ende gibt es immer noch ein Weiß. Aber nur bei Jacques. Es ist gleichermaßen seine Leere als auch seine Unschuld. Marthe dagegen verschwindet in den farbigen Lichtern der Großstadt mit einem roten Schal.

Susan Sontag Revisited 2: Durasiert

Ioana und Patrick unterhalten sich weiter über ihre Eindrücke von Susan Sontags Filmen. Es geht uns nicht darum, irgendwelche allgemeingültigen Aussagen oder Analysen ihres Werkes abzugeben, sondern eher einen Gedankenstrom wiederzugeben, der uns beim Treffen mit ihren Filmen heimsuchte.

Teil 1

Ioana:

◊ Trauerabend mit unversöhnten Menschen, verschwundenen Liebe und der verschwindenden Stadt

◊ Meine Verwirrung mit den Dialogen, die ich vielleicht zu stark betont habe, löst sich mit La déchirure – Promised Lands und Giro turistico senza guida (der mir bislang ihr vielleicht vollendester Film zu sein scheint) auf.

La déchirure – Promised Lands – Zeigt man trauernde Menschen in Nahaufnahmen?

◊ Der erschütterndste Moment, den ich bislang mit den Filmen von Sontag verbracht habe, ist der Blick in die Kamera-Partner PoV in Giro turistico senza guida. Dort ist nichts mehr. In Bröder Carl macht sie auch Gutes, vielleicht Mehrdeutigeres (nein, eigentlich nicht, es ist nur die Direktheit) mit  PoV, aber irgendwie tat dieser Moment mehr weh.

◊ Nein, man kann Duras nicht erreichen

◊ Du hast Recht mit den Ton-Sachen in La déchirure – Promised Lands.

◊ Ich mag den Screen Test von Warhol mit Sontag mit den Grimassen. Ich habe irgendwann viele Screen Tests von Warhol gesehen, ich glaube es war in einer Nacht in einem Jazz Garten in Bukarest und es gab eine wunderbar bizzare musikalische Begleitung und ich mochte es. Von Peter Kubelka hatte ich noch nie gehört.

PARIS - MARGUERITE DURAS

Susan Sontag

Patrick:

◊ Nein, man kann Duras nicht erreichen. Was bei mir vor allem verschwindet in diesen Filmen ist: Susan Sontag. Ich kann sie nicht spüren, ich spüre nur, was sie mag. Am besten hat mir deshalb vielleicht am Ende von Bröder Carl gefallen, als es darum ging, dass sie diese Wiedergeburt von Dreyer (von nirgends anders ist sie) nicht erreichen kann.

La déchirure – Promised Lands scheint mir in dieser Hinsicht ein ehrlicherer, ein dringlicherer Film zu sein. Da wollte sie einfach mit der Kamera an einem Ort, in einer Situation, in einem Thema sein.

◊ Der Anfang des Films mit dieser Tonmontage ist ziemlich beeindruckend. Allgemein sind diese Ton-Sachen in La déchirure – Promised Lands das einzige, was mir bleiben könnte aus den Filmen. Glocken, die sich in einem Orchester verdichten.

◊ Aber was war das für eine furchtbare Kopie? Irgendeine digitale Sache bei beiden Filmen.

◊ Zeigt man trauernde Menschen in Nahaufnahmen? Wie zeigt man Trauer? Ich finde diese Frage sehr interessant bei einem Film, der unter anderem an der Klagemauer spielt. Man wendet sich an eine Mauer. Das Gesicht wendet sich ab oder wendet sich zu? Ist Trauer wirklich im Gesicht? Es gibt Denker, die sagen, dass das ganze Leben Trauerarbeit ist. Ist dann überhaupt eine Nahaufnahme erlaubt. Ich glaube, dass eine Nahaufnahme von Trauernden erlaubt sein muss, weil die nötige Distanz in diesem Fall keine Frage der Kamera, sondern der Montage ist. Denn nur die Trauer in einem Gesicht ist kein Verbrechen. Das Ausnutzen ihrer Emotionalität wäre es. Also zu zeigen: Hier trauert jemand, jetzt musst du auch weinen. Das finde ich nicht ok.

◊ Der Screen Test war tatsächlich wunderbar. Ich würde gerne einmal alle Screen Tests von Warhol sehen ein Jahr lang.

Giro turistico senza guida zeigt, dass Duras einen öffnet für Sehen und Schreiben und Sontag beherrscht diese beiden Dinge. Deshalb ist das ein guter Film. Auch wenn ich kein Fieber bekommen habe. Nur einen Tanz, manchmal einen Blick und ganz viel Untergang. (ich habe Mahler gehört, Visconti besitzt diese Stadt).

Cut the grass off the surface: La Nuit du carrefour von Jean Renoir

Ein Film wie der weinende Nebel einer unwirklichen Nacht, Godard nannte ihn den mysteriösesten von Renoir, eine Simenon-Verfilmung am Abgrund einer Dunkelheit; die Zugehörigkeit zum Krimigenre vergisst sich hier einmal mehr selbst und verliert sich im Schwarz einer traurigen Erotik zwischen Schatten, die von Taschenlampen beleuchtet werden und der zerbrechlichen Blässe von Winna Winfried. Als es im Österreichischen Filmmuseum am Abend der Vorführung zu einer unfreiwilligen Unterbrechung kommt und die Filmrolle neu eingelegt werden muss, glaubt man fast, dass dies ein Teil des Zaubers ist. Georges Simenon wollte, dass Renoir diese erste Maigret-Verfilmung auf die Leinwand bringt und wirkte am Drehbuch mit. Irgendwo an einer dieser verlassenen Kreuzungen und Tankstellen (man denkt an Only Angels Have Wings von Howard Hawks oder Ossessione von Luchino Visconti) geschieht ein Mord in einer Garage, allerhand vage Gesichter tummeln sich in einer endlosen Nacht, die auch am Tag ständig wie ein Schatten über die Aufklärung des Falls herfällt. Ein fremdenfeindliches Versteckspiel in einer verbotenen Ländlichkeit, die Renoir mal unschuldig, mal satirisch (P’tit Quinquin is watching) beleuchtet. Es gibt eine Autowerkstatt, einen Dänen mit seiner angeblichen Schwester und es gibt die Eifersucht, die wie ein wütendes Feuer unter dem Nebel brennt. Der Film entstand im Winter des Jahres 1932 außerhalb von Paris, der Nebel ist – wie so oft bei Renoir – keine Erfindung, er ist eine Dokumentation. Als Maigret beobachten wir Pierre Renoir (den Bruder von Jean, der hier viele Freunde besetzte/besetzen musste), irgendwie genauso undurchdringbar wie alles andere in diesem Film. Eine Gewöhnlichkeit und Beiläufigkeit prägt sein Spiel und kleine Bewegungen lassen ihn jederzeit vor uns entstehen.

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La Nuit du carrefour interessiert sich für das, was wir gerade noch so erkennen können, der seidene Faden des Lichts. In einer famosen Verfolgungsjagd durch die Nacht taucht das verfolgte Auto nur im aufbrausenden Licht der abgefeuerten Schusswaffen auf. Die Fetzen Licht und die Dunkelheit tanzen hier zwischen einer sozialen und natürlichen Ordnung, der Organisation und der Leidenschaft. Das eine versteckt immerzu das andere und so sehen wir selten und hören noch seltener, was eigentlich los ist. Mit seinen verschleierten Augen ist La Nuit du carrefour auch eine Poesie des Fremden, das sich in einem Surrealismus offenbart, der oft mehr mit Man Ray (man denke an den Fund Maigrets hinter dem Bild oder den Akzent von Else, die mit Bier vergiftet wurde) als mit einem französischem Kriminalfilm zu tun hat. Die zärtliche Rauheit der ersten Tonfilme von Renoir ist hier wie in La Chienne oder Boudu Sauvé des Eaux jederzeit spürbar, sie ist allerdings noch ein wenig wilder, unkontrollierter, zerfallener. Immer wieder brechen Schnitte die Handlung auf. Füße und Zeitungen in den Pfützen vor einem Zeitungsstand oder eine Aufnahme der gefährlichen Nacht während wir in den spärlichen beleuchteten Zimmern zu langsam vorwärtskommen.

Es ist ein Film mehr über die Stimmung und physische Realität dieser Ermittlungsarbeit, als über die Narration eines Kriminalfalls. Renoir filmt die obskure Präsenz einer Welt, in der man, wie er selbst sagt, den Dreck an den Stiefel spürt und den Nebel, der einem die Sicht verdeckt. In diesem Film flirrt eine traurige Erotik in der zerfließenden Vergänglichkeit der Figur von Else, verkörpert von der dänischen Tänzerin Winna Winfried, die wie eine geisterhafte Narbe aus einem Dreyer-Film in einer ewigen Verführung gefangen ist und auf ihre Befreiung wartet bis ihre Handgelenke in einer unvergesslichen Szene Kontakt mit kalten Handschellen machen. Es spricht für Renoir, dass er das improvisierte Ende (zwei Rollen gingen verloren) mit ihrer Befreiung findet, in jener Tiefenschärfe, die er so maßgeblich geprägt hat und die ihm und uns immerzu gerade noch so erlebt, etwas zu erkennen, eine Gleichzeitigkeit, einen Gegensatz, ein Licht.

Cinemañana: 13 travel tips for the summer

1. Travel to Italy. Find this creature and eat it.

Plein Soleil

2. Go to Alphaville and destroy Alpha 60

Alphaville: une étrange aventure de Lemmy Caution von Jean-Luc Godard

3. Find the waterfall in Loong Boonmee raleuk chat. Dress like a princess. Get raped by a fish.

Loong Boonmee raleuk chat von Apichatpong Weerasethakul

4. Or travel to Twentynine Palms.

Twentynine Palms von Bruno Dumont

5. Try to find Jauja.

Jauja von Lisandro Alonso

6. Climb Stromboli pregnant. While it erupts.

Stromboli von Roberto Rossellini

7. Visit Anatolia, drop your apple and let it roll down a hill, into the creek bed.

Bir Zamanlar Anadolu’da von Nuri Bilge Ceylan

8.  Go to Căpâlniţa. Pick up some American soldiers while an Elvis impersonator sings “Love me tender”

California Dreamin' (nesfârșit) von Cristian Nemescu

9.  After seeing Sylvania:

Duck Soup von Leo McCarey

10. Find out how green my valley was.

How green was my valley von John Ford

11. Go sailing on the Caspian Sea. Join the „Lights of the Communism” kolkhoz and fall in love with Masha.

У самого синего моря von Бори́с Ба́рнет

12. Go to the seaside. Burn that tent and exercise.

Les Vacances de M. Hulot  von Jacques Tati

Les Vacances de M. Hulot  von Jacques Tati

13. Return to Italy. Go to Venice and die

Morte a Venezia von Luchino Visconti,

Woher kommt Musik? Kreatives Schaffen in Mahler auf der Couch

Die klassische Symphonie ist ein Orchesterstück in vier Sätzen: schnell, langsam, mittelschnelles Menuett oder schnelles Scherzo und ein Finale. Ein relativ einfaches Schema, nach dem sich sehr schnell eine Komposition anfertigen lässt. Joseph Haydn hat 104 Symphonien komponiert, Wolfgang Amadeus Mozart in seinem kurzen Leben über 50. Anfang des 19. Jahrhunderts änderte sich mit dem Schaffen Ludwig van Beethovens (insbesondere ab der 3. Symphonie Eroica) die Erwartungshaltung des Publikums an ein solches Werk. Es waren keine Stücke mehr gefragt, die streng den althergebrachten Schemata folgen, jedes Stück musste individuell und besonders sein. Diese Veränderung ist programmatisch für unsere heutige Wahrnehmung von klassischer Musik und klassischen Musikern.

Was ist ein Musikstück? Was ist ein Komponist und welche Bedeutung schreiben wir ihm zu? Gibt es so etwas wie ein Genie? Wie kommt es, dass neben der Musik plötzlich der Komponist als Individuum von solcher Bedeutung für uns ist?

Plötzlich kommen Fragen nach dem Prozess des Komponierens auf: Was muss in einem Menschen vorgehen, um Musik komponieren zu können? Ist es Eingebung? Sind es psychologische Prozesse? Und plötzlich kommt der Begriff des Genies auf; plötzlich kommt es auf der einen Seite zu einer Verklärung des Künstlers. Auf der anderen Seite jedoch entwickeln sich Theorien, welche die inneren emotionalen und kognitiven Prozesse eines Menschen untersuchen und mit der Zeit die Bilder von angeborener Standeszugehörigkeit oder Kriminalität verdrängen. Wie steht es mit angeborenem Talent?

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Viele Fragen und wenige Antworten darauf, deshalb scheint es gar nicht verwunderlich, dass es auch heute noch von relevant sein kann, einen Komponisten zum Psychologen zu schicken (und sei es nur fiktiv). Genau das machen Percy und Felix Adlon im Film Mahler auf der Couch: Nach einem Seitensprung seiner Ehefrau Alma sucht der Komponist Gustav Mahler Rat bei Sigmund Freud. Bei dieser Personenkonstellation scheint die Gefahr groß, in eben jene verklärenden Sphären abzuschweifen, wie es so viele kommerzielle Biopics tun. Allerdings gelingt es den Regisseuren, dieser Falle größtenteils zu entgehen.

Vielmehr beginnt der Film zwar im Stile eines historischen Films, doch scheint er sich nach und nach diesen Ansprüchen immer weiter zu entziehen. Die abgebildete Wiener Gesellschaft, die eigentlich mehr einem Konglomerat aus Künstlern und Mäzenen verschiedenster Altersklassen und Berufsfelder gleicht, scheint sich einer zeitlichen Einordnung zu entziehen. Zwar sprechen die Interieurs der Häuser und die Kleidung der Personen eine eindeutige Sprache, doch werden sie durch den Stil des Films, in dem Szenen immer wieder durch Einschübe von Interviews (inklusive Bauchbinden), plötzlichen Jump-Cuts und Verwendung von unnatürlicher Beleuchtung aufgebrochen werden, konterkariert. Diese gewagte Kombination funktioniert nicht immer und oft scheint sich der Film gewaltig im Ton zu vergreifen, doch ermöglicht sie uns eine Wahrnehmung des Gustav Mahler als menschliches Individuum einerseits und als Sinnbild für den künstlerisch-kreativen Menschen andererseits.

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Es wird also zwei Fragen nachgegangen, die sich schlussendlich doch als eine erweisen: Was für ein Mensch war Gustav Mahler? Wie ist kreatives Schaffen möglich? Dass dabei auch das Bild eines Genies und das Bild des Genies im Allgemeinen kritisch hinterfragt wird, ist unausweichlich. Es ist schade, dass es Mahler auf der Couch am Ende nicht völlig gelingt, sich von einer verkitscht-idealisierten Darstellung des Künstlers zu entfernen. Dennoch bleibt die Fragestellung interessant. Wir erleben Mahler in Zeiten des Leids und (sehr wenigen) Zeiten des Glücks, wobei es dem Film vor allem im Zweitgenannten gelingt, eine emotionale Tiefe zu erreichen, die für kurze Momente die Antworten auf obengenannte Fragen in greifbare Nähe rücken lässt. Als Mahler seiner Frau den Beginn des Adagietto aus seiner fünften Symphonie überreicht und beim Lesen der Partitur in Almas Kopf die Musik dazu entsteht, können wir als Zuschauer nur mit ihr antworten: „Himmlisch, Gustav.“. In diesem Moment wird der Musik Mahlers jener Platz eingeräumt, den sie braucht, um sich entfalten zu können, das Schauspiel von Johannes Silberscheider und Barbara Romaner trägt sein Übriges dazu bei. Leider erreicht Mahler auf der Couch nur selten eine solche Tiefe. Es hätte dem Film vermutlich gut getan, der Musik etwas mehr Möglichkeiten zu ihrer Entfaltung zu geben, wie es zum Beispiel Luchino Visconti in Morte a Venezia macht. Ich sage das nicht, weil ich so gerne Mahlers Musik höre, sondern weil solche Momente uns etwas zu verstehen geben, was man nicht in Worte fassen kann. Es wird für uns greifbar, was Musik ist, was es bedeutet, Musik zu hören und vielleicht sogar, woher Musik kommt.

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Natürlich kann man versuchen – und das wird in Mahler auf der Couch auch getan – über Psychologie solchen Fragen auf den Grund zu gehen, doch wird dieser Weg zu keinem Ergebnis führen. Das Zusammenleben von Alma und Gustav Mahler wirkt wie ein einziger kreativer Schaffensprozess; es ist das Betrachten des Anderen, das uns wieder in die Selbstreflexion zurückwirft, aus der wir schließlich unsere kreative Kraft schöpfen können. Dass der psychoanalytische Prozess des Sigmund Freud der Katalysator zum Auslösen einer tiefen Selbstreflexion wird, ist ein guter Einfall, doch begehen Percy und Felix Adlon den Fehler, alle Fragen, die Mahler an sich selbst stellt, mit einer einzigen Antwort aufzulösen. Alle Motivation des Handelns eines Menschen auf einen Punkt zurückzuführen wirkt nicht nur absurd, sondern leistet dem Rest des Filmes (trotz seiner Makel) keine Genüge.

So hinterlässt Mahler auf der Couch am Ende einen fahlen Beigeschmack. Zwar bringt er uns einige interessante Fragestellungen nahe, doch schafft er es nicht, sich völlig darauf zu fokussierten und begnügt sich leider auch nicht damit, Fragen unbeantwortet zu lassen.

Lose Räder: Zur Frage des Realismus in Ladri di biciclette

Eines vorab: Die Stellung der Fahrraddiebe als Zentralmassiv im Pantheon der Filmgeschichte ist mir bewusst – es wurde schon so vieles über diesen Film gesagt und geschrieben; Cinephile, Filmemacher, Kritiker und Künstler, Zeitgenossen und Nachgeborene haben ihn mit Lob überhäuft, akribisch analysiert und unwiderruflich dem Kanon überantwortet. Diese Heiligsprechung hat vielleicht sogar den Blick auf das übrige Schaffen seiner Urheber verstellt, insbesondere jenes Vittorio De Sicas, der oft darauf reduziert wird, mit diesem Film dem Neorealismus die Krone aufgesetzt zu haben, obwohl sein Oeuvre als Schauspieler und Regisseur eine weitaus größere Bandbreite an Genres, Stilen und Stimmungen bereithält. Und es wäre doch wohl die Aufgabe einer engagierten Cinephilie, mit solchen Gemeinplätzen aufzuräumen, eine Gegenhistorie zu proponieren, ein Schlaglicht auf vernachlässigte Facetten ikonischer Figuren und Strömungen zu werfen, um das eindimensionale, harmonische Filmgeschichts-Bild, das unser Kollektivbewusstsein besetzt hält, aufzubrechen und auszuweiten. Im Übrigen ist es müßig, sich weiter mit Ladri di biciclette zu beschäftigen.

Sprechen wir also über Ladri di biciclette.

Man stelle sich vor, man erkundigt sich als ahnungsloser Außenstehender bei einem Kinokenner, was es denn nun eigentlich mit diesem „Neorealismus“ auf sich habe, und er zeigt einem als Antwort diesen Film. Welche Schlüsse könnte man daraus ziehen, was würde einem auffallen im Vergleich zu gewohntem Gegenwartskino, was steckt hinter den Floskeln von den „echten Menschen“, die man „draußen auf den Straßen“ gefilmt hat, was ist damit gemeint?

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Tatsächlich zeigt die erste Einstellung des Films eine Straße, genauer gesagt einen Linienbus, der langsam ein leichtes Gefälle heruntertuckert und an einer Haltestelle abbremst. Die Passagiere steigen aus, einer von ihnen wird von einer größeren Gruppe Umstehender bedrängt, ein Pulk entsteht und setzt sich in Richtung eines noch unbestimmten Ziels in Bewegung. Die Kamera bleibt in der Totale, schwenkt erst mit dem Bus mit und folgt dann der Menschenmenge, alldieweil läuft der Vorspann unbekümmert über das Geschehen. Es ist eine Szene, wie sie gewöhnlicher nicht sein könnte, aufgenommen aus der Perspektive eines teilnahmslosen Beobachters, der etwas abseits seine Zeit vertrödelt. Noch deutet abgesehen vom wehmütigen Soundtrack Alessandro Cicogninis nichts auf eine Inszenierung hin, so oder so ähnlich könnten sich vergleichbare Non-Ereignisse auch vor unseren eigenen halb-interessierten Augen abspielen, wären wir vor Ort zugegen. Und es ist ein richtiger Ort, der auch ohne Film einer wäre: Im Hintergrund weisen Häuserblöcke in die Tiefe, aus manchen Fenstern lugen Laken und flattern im Wind, das Mauerwerk wirkt alt und mitgenommen. Das relativ tiefenscharfe Bild wird von peripher aufgepflanzten Figuren punktiert, vereinzelte Passanten laufen umher. Überdies ist nicht nur an den Schatten klar erkennbar, dass die Sonne für Beleuchtung sorgt und nicht etwa ein Scheinwerfer. Für eine derart unscheinbare Aufnahme wäre dies ein enorm aufwändiges Studio-Set. Man ist bereits in dieser ersten Minute geneigt, von einer „realistischen“ Atmosphäre zu sprechen, und zwar in dem Sinne, dass hier gewisse Dinge vor der Linse existieren und passieren, die sich nicht um selbige scheren, sich in ihrem Wesen und in ihrer Erscheinung nicht erst für das Kino herausbilden – oder zumindest den Eindruck erwecken, als ob es so wäre, indem sie besagten Dingen ähneln, die im Regelfall keiner Aufmerksamkeit für würdig erachtet werden, da sie zu trivial anmuten: Ansichten und Vorgänge, die gerade ihre Alltäglichkeit, ihre Verankerung in einer geteilten und vermeintlich vertrauten Realität einer Wahrnehmungs-Inflation unterwirft.

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Oberflächlich verbleibt Ladri di biciclette seine gesamte Spielzeit über in diesem dokumentarischen Modus. Oberflächlich, weil es um die Oberflächen geht: Die Straßen (die zwar einen zentralen, aber keineswegs den exklusiven Schauplatz des Films bilden), die Gebäude, die Interieurs, das Mobiliar, die Kleidung, die Körper, die Gesichter, und bis zu einem gewissen Grad auch die Situationen sind darauf geeicht, den genannten Realitätseffekt zu erzeugen. Es geht nicht nur um die Anhäufung von Details, sondern wesentlich auch um deren Beschaffenheit. Sie sind so geartet, dass man sie als Zuschauer (vorausgesetzt, man wäre 1948 in Rom ansässig gewesen) wiedererkennt: So oder so ähnlich hat man diese Dinge auch schon außerhalb des Kinos gesehen und erlebt, im Alltag, und diese Verwandtschaft ist ein entscheidendes Wahrheitsattest der Bilder. Das zweite, nicht minder bedeutende ist der Umstand, dass man sie oft auch auf diese Weise gesehen hat: Im Hintergrund, im Vorbeilaufen, aus dem Augenwinkel. Wenn die von Lamberto Maggiorani gespielte Hauptfigur Antonio mit Freund und Sohn im Schlepptau durch einen Fahrradmarkt schlendert, um sein gestohlenes Gefährt ausfindig zu machen, schweift die Kamera im Gegenschuss die Läden entlang wie ein suchender, flüchtiger Blick, und was wir sehen, ist viel zu überbordend, um es auf einmal zu erfassen und verarbeiten, auch weil uns niemand sagt, was davon wichtig ist. Sind es die Menschentrauben im Vordergrund, die Handwerker weiter hinten, die aufgehängten Reifen und Felgen, oder doch die kulissenhaften Säulenreihen, die sich über die Szenerie recken? Die Fülle, ihre Unbewältigbarkeit durch Film und Betrachter kündet von der Wirklichkeit des Blicks.

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Interessant ist aber, dass diese Wirklichkeit der Überfülle, die einen Großteil der Einstellungen von Ladri di biciclette im Wortsinne belebt, oftmals hochgradig künstlich ist. Die Rede vom Einlass unerheblicher Nebensächlichkeiten in hermetische Kinokonstruktionen gehört zu den Schibboleths neorealistischer Historiografie. Mark Cousins etwa kommentiert in seinem Bildungs-TV-Monumentalwerk „The Story of Film“ die Szene, in welcher der kleine Bruno gegen Ende des Films seinem komatös durch die Straßen hatschenden Vater hinterherhechelt und dabei beinahe von zwei Autos überfahren wird, folgendermaßen:

„In a Hollywood film the dad would have seen this and grabbed the boy and scolded him or comforted him, but also realized how much he loved him. But in Italian neorealism such moments just happened, without cause or effect. It was a loose end. It didn’t play back into the plot.”

Dies ist eine bestenfalls blauäugige Behauptung. Es gibt in den Filmen, die landläufig dem Neorealismus zugerechnet werden – ebenso wie anderswo – zweifellos Beispiele für das, was Cousins hier beschreibt, aber sein Exempel hält der Erhebung zum Zufallshund oder „losen Ende“ nicht stand. Das der Augenblick offenkundig inszeniert ist (nicht einmal der extremste Neorealist würde ein Kind für seine Kunst solcher Gefahr aussetzen), sollte einem schon Aufschluss darüber geben, dass er eine verhältnismäßig klare Funktion erfüllt, die sich durchaus über den Plot definiert: Er vermittelt beispielsweise die totale Hoffnungslosigkeit Antonios, der von der Erkenntnis der Fruchtlosigkeit seiner beschwerlichen Suche in einen kummervollen Trance-Zustand versetzt worden ist und darob kurzzeitig sogar seinen Sohn vergisst, um dessentwillen er sich die ganze Zeit über abgemüht hat; oder den Mangel an Solidarität und Barmherzigkeit, der den Film durchdringt und hier in den rücksichtslos am Jungen vorbeirasenden PKWs ein unaufdringliches Sinnbild findet. Zwar wahrt De Sica Distanz mit der Kamera und schlachtet die Szene, die das sprechende Ereignis auch fokussieren und akzentuieren hätte können, emotional nicht aus (das erledigt in diesem Fall ohnehin die Musik), aber es ist immer noch alles andere als ein beiläufiges, ephemeres Blätterrascheln ohne poetischen Sinn und Zweck. Der sprichwörtliche Einbruch der Realität muss also anderswo von statten gehen.

Vielleicht würde eine Marginalie aus De Sicas I bambini ci guardano ein besseres Beispiel abgeben: Die Kernfamilie des Films posiert für ein idyllisches Strandporträt, das Oberhaupt betätigt den Selbstauslöser seiner Kamera; ein frecher Bengel nutzt die Chance für eine Fotobombe und mischt sich unbemerkt ins Bild. Auf den ersten Blick ist dieser anekdotische Einschub nichts weiter als ein unbedarfter Ulk, dessen Albernheit sich mit der doch eher melancholischen Grundstimmung des Films schneidet und diese temporär für die Möglichkeiten anderer Timbres und Texturen öffnet, der also nichts anderes im Sinn hat als die Ausstellung der widersprüchlichen, disharmonischen Parallelität disperser Existenzen und Atmosphären, die einen das Dasein immerzu spüren lässt. Doch die Inszenierung gestaltet sich hier noch augenfälliger als in Cousins‘ Exempel – jenes war ein Rechtsschwenk aus der Totale, hier haben wir eine mehrstufige Auflösung – was wiederum die Vermutung nahelegt, der Moment habe narrativen Gehalt; und tatsächlich kommt man nicht umhin, ihn als ironischen Kommentar auf das Selbstbild der Familie zu lesen, die ein einträchtiges Außen kultiviert, während das innere Gefüge kurz vor dem Zusammenbruch steht.

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Zurück zu den Fahrraddieben: Dort gibt es eine Randnotiz, die Cousins‘ Ansprüchen schon eher gerecht wird. Bruno und Antonio stellen sich circa auf halber Strecke ihrer Odyssee wegen strömenden Schauern bei einer Häuserfront unter (eingequetscht zwischen frappierten österreichischen Ordensbrüdern, die sich gut hörbar und vergleichsweise glaubhaft auf Deutsch über „den Salzburger Schnürlregen“ unterhalten – noch so ein lustvoll überflüssiger Realitäts-Marker). Als der Niederschlag versiegt, erspäht Antonio den Dieb schräg gegenüber und nimmt die Beine in die Hand, sein überraschter Sohn folgt ihm auf dem Fuße. Am rechten Rand des Kaders – wieder handelt es sich um eine Totale – passiert zugleich etwas völlig Nebensächliches: Ein alter Händler kippt im Sitzen seinen kleinen Stand, um das angesammelte Regenwasser abfließen zu lassen. Das ist nun wirklich ein loses Ende – solch eine verhaltene Feinheit dient ausschließlich dem Realismus und nichts anderem. Die Handlung des Mannes drängt sich dem Zuschauer nicht auf, sie steht für sich und ist in sich geschlossen, die Erzählung wird nicht davon affiziert, ob man sie zur Kenntnis nimmt oder nicht. Aber wie bereits beschrieben erzeugt sie, gerade weil sie jeglicher Notwendigkeit entbehrt, ein Gefühl von Wirklichkeitsnähe. Denn Wirklichkeit ist paradoxerweise nicht das, was passieren muss, es ist das, was passieren könnte. Das Kino selbst bezieht seine eigentümliche Kraft schon seit seiner Geburt aus dem Spannungsverhältnis zwischen Kontrolle und Kontingenz, die ihm von Natur aus innewohnt; daraus nämlich, dass jede noch so luftdichte Mise en Scène von so etwas wie Zufall, und sei es nur das unwillkürliche Zucken im Gesicht eines Schauspielers, infiltriert werden kann. Kino bleibt immer verwundbar.

Doch auch das eben gebrachte Beispiel erweist sich wenig überraschend als kalkulierte Kontingenz, zumal der Regenguss ein falscher war, den De Sica angeblich mit Hilfe der örtlichen Feuerwehr arrangierte. Je näher man sich mit Ladri di biciclette auseinandersetzt, desto augenscheinlicher wird, dass sein Realismus eine sorgfältige, fast schon pedantische Konstruktion darstellt. Sehen wir dem Film, der mit Großaufnahmen nicht geizt, ins Gesicht:

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Sind das die Gesichter „echter“ Menschen? Ich weiß es nicht; Menschen sind es auf alle Fälle, und Starvisagen sehen anders aus. Aber banal und ausdruckslos kann man diese Antlitze auch nicht nennen, im Gegenteil: Ihnen eignet allen eine bemerkenswerte Expressivität, die zwischen dem Typenhaften und dem Natürlichen oszilliert. Sie sind markant und zeigen alle etwas an, das über das bloße Mensch-sein hinausgeht, ohne restlos in diesen Ideen aufzugehen: brüchige Würde, schwindende Unschuld, ruppige Wut. Jeden dieser Laiendarsteller könnte man sich in einer Paralleldimension als character actor denken. Sie wurden mit Bedacht für ihre Rollen ausgewählt, womöglich auch, weil ihre Physiognomien eine imaginierte Quersumme der Gesichter bestimmter italieneischer Milieus ihrer Zeit bilden (Milieus, die im Grunde erst durch solche Imaginationen generiert werden), aber definitiv nicht, weil sie so „echt“ sind, dass sie im Alltag niemals jemandem auffallen würden. Ihr Alleinstellungsmerkmal ist nicht die Abwesenheit von Besonderheiten, sondern die Deutlichkeit ihrer Authentizität, die widersprüchliche Selbstverständlichkeit, mit der man bei ihrem Anblick sagen würde: „Das ist ein Mensch, das ist eine/r von uns.“ Wo bleibt nun der wahre Zufall, das Ver-Sehen, das sich dem Zugriff des Regisseurs entzieht? Möglicherweise findet es sich nur im grellen Licht, das in den Außenaufnahmen auf den Gesichtern flirrt und das Pflaster küsst.

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Oder kann man Neorealismus narrativ verstehen, über die im entsprechenden Diskurs vielbeschworene Schonungslosigkeit, mit der die Zeitgeschichte in diesen Filmen porträtiert wird? Es lässt sich nicht leugnen, dass Ladri di biciclette, namentlich Cesare Zavattinis Drehbuch, sein Augenmerk auf gesellschaftliche Gegebenheiten legt, deren Bewusstsein nicht angenehm ist, und auch davon absieht, diesen ihren Stachel zu stutzen. Es ist ein Wirklichkeitsverständnis, das äußerst flapsig formuliert wie folgt funktioniert: „Ihr glaubt vielleicht, bei uns ist alles eitel Wonne, aber im Leben gibt’s für viele oft kein Happy End. In Wirklichkeit vertschüssen sich die Probleme unserer Mitmenschen nicht wie von Zauberhand – Probleme, an denen ihr alle einen Anteil und womöglich sogar Mitschuld habt – und das Erzählkino darf die Augen nicht vor diesen Missständen verschließen!“ Der Realitätsbegriff wird hierbei in Differenz zum Bild des Kinos als blendender Lustmaschine ausgeprägt. Doch der Gegenentwurf ist der eines Kinos als (unmöglicher) Unlustmaschine, die ebenso weit entfernt ist von jeder gelebten Wirklichkeit. „Realität“ bedeutet in diesem Kontext schlichtweg den berechtigten Widerstand gegen die Realität der Mehrheit. Dieser Gestus der Gegenwehr tritt im Manifestcharakter der letzten Einstellung von Ladri di biciclette unmissverständlich zutage. Eigentlich ist es kein „schlechter“ Ausgang, nur ein offener, der die Protagonisten an einer ungünstigen Stelle verlässt. Aber die Art, wie sie mit der Masse verschmelzen, zwei Schicksale unter Tausenden, schreit das Publikum förmlich an: Ihr habt dieses Ende zu verantworten! Wollt ihr wirklich damit leben?

Eines sollte wohl jedem klar sein: Alle bisher genannten Methoden, Ansätze und Eigenschaften finden sich hier weder zum ersten noch zum letzten Mal in der Geschichte des Kinos, nicht einmal in jener des italienischen. Es gibt unzählige Vorläufer, Vordenker, Vorarbeiter, und bestimmt auch den einen oder anderen Solitär, der schon viel früher wesentlich radikalere Visionen vergleichbarer Stoßrichtung verwirklicht hat – denn diese gibt es immer, selbst wenn man es nicht für möglich hält. Und das führt uns wieder zur Frage des Kanons.

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Es darf wohl ohne weiteres behauptet werden, dass Ladri di biciclette außerhalb von cinephilen Kreisen als das Vorzeigewerk des Neorealismus gilt. Aber warum gerade dieser Film, wenn wir doch soeben gezeigt haben, dass es bei all seinen unleugbaren Qualitäten bestimmt bessere Beispiele für die rückhaltlose Hingabe an eine Wirklichkeit gibt, die also in höherem Maße zugelassen haben, dass diese sich selbst inszeniert – etwa die Arbeiten des kaum weniger renommierten Roberto Rossellini oder Luchino Viscontis La terra trema. Eine mögliche Antwort liegt in seiner Rundheit. Damit ist kein Mangel an Komplexität gemeint, sondern eine Ganzheit und Vollständigkeit selbst innerhalb dieser Komplexität – der Eindruck, dass alles „passt“, jede künstlerische Entscheidung mit jeder anderen verknüpft ist und sich alle miteinander gegenseitig bedingen, so dass selbst die Elemente, die wirklich dem Zufall entsprungen sind, absichtsvoll erscheinen. Beim überwiegenden Teil des Kanons (der zugegebenermaßen immer schon eine außerordentlich diffuse Konzeption war und sukzessive schwieriger zu fassen wird – als mustergültige Spitze des Eisbergs fungieren oft die Top 10 der berühmten Sight-&-Sound-Bestenliste) handelt es sich um Filme, die eben keine „losen Enden“ haben, sondern wirken wie aus einem Guss: Buchstäbliche Geniestreiche, virtuos und auf eine Pointe hin ausgeführt, die mit aller Kraft ins Schwarze trifft. Man kann sich darauf einigen, weil es innerhalb ihres jeweiligen künstlerischen Gefüges nichts gibt, was prinzipiell Wohlgesonnene entzweien könnte. Es geht um Einheit, Einheitlichkeit und die Einsichtigkeit von Ursache und Wirkung, aber auch um inhaltliche Universalität, um allgemein Menschliches trotz aller Spezifizität im Detail. So ist auch die Geschichte um Bruno und Antonio ungeachtet der essentiellen Funktion ihrer historischen Verortung und ihres Lokalkolorits ein stromlinienförmiges Gebilde mit straffem Spannungsbogen, das auch unter veränderten Vorzeichen nichts von seiner emotionalen Wucht verlieren würde, eine in ihren Kernaspekten klassische Heldenreise mit Figuren, deren Aktionen man durchwegs nachvollziehen kann, auch wenn man nicht mit ihnen einverstanden ist. Darauf fußt zu einem nicht unbeträchtlichen Teil auch der Erfolg von Gegenwartsrealisten wie den Dardenne-Brüdern, deren jüngere Arbeiten eher an De Sica anschließen als an Rossellini. Der Motor ist hier wie dort jene humanistischen Kapitalweisheit, aus der ein anderer kanonischer Film ein prägnantes Zitat geschnitzt hat: „You see, in this world there is one awful thing, and that is that everyone has his reasons.“ Aber was ist mit den Filmen, deren Gründe unergründlich sind?