Nachdenken über Fluchtweg nach Marseille

Ingemo Engströms und Gerhard Theurings Film ist vielleicht einer dieser Filme, der immer nur einem kleinen vertrauten Kreis Menschen wirklich ein Begriff ist. Sie teilen die Erfahrung, diesen einen Film gemeinsam in der Vergangenheit gesehen zu haben, der sich so sehr mit ihrer damaligen eigenen Gegenwart verknüpft hat, dass er nun nur noch eine Erinnerung darstellt. Irgendwann verblasst diese jedoch, weil sie von neuen prägenden Ereignissen überlagert wird – wie auch dieser Film. So verstauben die Erinnerungen, rücken aus dem Horizont der eigenen Wahrnehmung und werden schließlich zu romantischen Erzählungen, womit ihnen ihr gegenwärtig-aufblitzender Kern verloren geht. Mich beschäftigt nun seit einiger Zeit der Gedanke, was es bedeutet, einen Film wieder zu entdecken und zu restaurieren – sowohl für mich als auch für andere. Es drängt sich bei mir der Eindruck auf, die Suche speise sich aus Märchen der vergangenen Zeit und die Entdeckung sei dann nur doch  Bestätigung, ein Teil dieser fortgeschriebenen Erzählung gewesen zu sein. Die Frage, warum wir danach suchen, wird dabei unbewusst unterdrückt, denn Vergegenwärtigung ist in erster Linie mühsam. Der Film Fluchtweg nach Marseille nimmt sich diesem Gedanken an und macht ihn zu seinem eigenen.

Mit einer brüchigen Stimme referieren Engström und Theuring bei der Präsentation der restaurierten, digitalen Fassung bei der diesjährigen 35. Ausgabe von Il Cinema Ritrovato. Sie lesen vom Blatt in einem Duktus, der in seiner Stringenz und Klarheit, wie aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Während der Restaurator Martin Koerber die Einmaligkeit aufgrund der raren Zeitzeuginnen dieses Dokuments hervorhebt, schmunzeln Engström und Theuring still und verlegen, als würden sie für einen Moment einen Gedanken teilen. Sie sind selbst Zeugin und Zeuge einer vergangenen Zeit, doch anstatt dies herauszustellen, sprechen sie lieber von Anna Seghers und Walter Benjamin. Noch einmal zitiert Theuring die Sätze aus Benjamins letzter Arbeit „Über den Begriff der Geschichte“, die er unvollendet hinterließ, als er sich auf der Flucht vor der Verfolgung durch die Gestapo im spanischen Portbou an der französischen Grenze das Leben nahm. Dann verdunkelt sich der Raum, der eher Konferenzsaal als einem Kino ähnelt und der Film nimmt seine Bewegung auf.

Diese Bewegung nimmt allerdings ihr baldiges Ende, als die englischen Untertitel stoppen. Murmelnde Aufregung verteilt sich zwischen den Reihen. Der Film muss angehalten werden, der Projektor neugestartet. Eine Pause, sengende Hitze und einen Kaffee später, beginnt der Film von Neuem. Das unausgesprochene Einverständnis mit dem Kino, das in diesen Tagen in Bologna wie ein Ritual zelebriert wird, ist verloren gegangen – ist gebrochen, ebenso wie die raunende Ahnung, die diesen Film umgibt. Das Publikum verhält sich jetzt anders, es ist vielleicht pikiert, aber auch desillusioniert, was die Erfahrung von Geschichte im Kino als eine Geschlossene betrifft, gerade an dem Punkt, an dem die Vorrede des Films endet.

Schnell gerät die Unterbrechung unter dem dicken Mantel der Erzählung allerdings wieder in Vergessenheit. Der Erzählung, die eher dem Anhäufen von Gedanken entspricht und von der suchenden Bewegung durchkreuzt wird. Wiederholende Fragen in leichten Variationen treiben die Bewegung an. Wo sind wir? Der Film versucht sich so, Orientierung im Dickicht unbeschreiblicher Erfahrungen zu verschaffen. Darin sucht er nicht nach einem Bild, sondern vor allem nach Sprache. Die Bilder, die der Film zeigt, besitzen dahingehend keinen Ausdruck. Eher ließe sich sagen, sie materialisieren die Suche: Meist in Fahrten direkt aus dem Auto aufgenommen oder in Panoramaschwenks, tastet die Kamera eine Landschaft nach hinterlassenen Spuren ab. So sehen wir Flüsse, die von Brücken überquert werden, Ruinen zerstörter Städte, deren Bewohner ermordet wurden und immer wieder Straßen, die sich durch die Umgebung schlängeln. Der Film nähert sich so allmählich der titelgebenden Chiffre des Romans von Anna Seghers Transit an, jedoch ohne dies für sich zu beanspruchen. Wie Engström und Theuring zu Beginn klarstellen, handelt es sich nicht um eine Adaption, sondern um ein Leitmotiv. Das könnte so viel heißen, dass sie allenfalls Seghers Schriften verwenden, um sich an etwas anzunähern, das dem zwar abstrakt erfahrbar vorhanden ist, aber sich ebenso von seiner Konkretisierung distanziert. Auf einmal erscheinen die Namen des Regiepaars und der erste Teil des Films nimmt sein Ende.

Überwältigt und desorientiert von den Fragen sitzt man nun im Dunkeln, als unvermittelt der zweite Teil beginnt. Die Bilder des Jahres 1977 haben keine Geschichte, heißt es. Wir sind nun angekommen in Marseille, aber der Film setzt erneut eine Suche an. Eine Suche in der Stadt des Exils, die keinen Abschluss liefern wird, weil sie es nicht kann. Es läuft geradezu dem Exil zuwider, das nur am Anfang sein Ende nehmen kann. Für einen Moment folgen wir der Geschichte Walter Benjamins bis auf den Friedhof Portbous. Der Blick richtet sich auf einen Güterbahnhof und dann auf das schweigende Meer. Die ausweglose Situation, von der Benjamin in seinem letzten Brief schwermütig berichtete, prallt auf die trügerische Weite. Zwei Jahre nachdem sich Benjamin das Leben nahm, stößt die Wehrmacht an die französische Mittelmeerküste vor. In solchen Augenblicken wird sich der Film seiner eigenen Sprachlosigkeit wieder bewusst. In dem uraltem Hafengeschwätz Marseilles scheint diese unbegreifliche Geschichte verborgen zu liegen, aber sie verliert sich im Gewirr der Stimmen. Ein letztes mal stellt sich der Film die Frage: „Wo wir sind wir?“. Wir sind am Ende des Films und befinden uns im Jetzt, dem Jetzt des Jahres 1977 wie auch dem des Jahres 2021. Die Frage des Ortes ist nun eine der Zeit.

In ähnlicher Weise wie der Film um eine (seine?) Sprache ringt, geht es auch mir. Zu vieles blieb hier unerwähnt, was die Eigensinnigkeit dieses dreistündigen Werks ausmacht. Ich glaube aber, dass sich darüber hinweg sehen lässt. Dieser Film liegt seitab von jenem totalitären Anspruch, alles in ihm enthaltene aufsaugen und wiedergeben zu müssen. Fluchtweg nach Marseille verstehe ich so eher in der Form des Umgangs mit einer Landkarte. Wir sind daran gewöhnt, sie zu öffnen und uns einen groben Überblick zu verschaffen. Sich zu orientieren, sie zu lesen oder sie zu verschließen, stellt die größere Herausforderung dar, vor allem dann, wenn Wege verschwinden und neue entstehen. Ich frage mich, wie es vorstellbar ist, diesen Film zu restaurieren. Versucht sich der Film nicht vehement davon loszusagen, nur eine Zeile in der Chronologie eines Geschichtsbuch, nur eine weiterer Beitrag zum gegenwärtigen Bewusstsein zu werden? Notwendigerweise müssen Restauration und Gegenwart zueinander Distanz wahren, um für sich begreifbar, also unterscheidbar zu bleiben. Aber bei diesem Film bin ich mir nicht sicher. Kein anderer ist geeigneter und ungeeigneter dafür zugleich.

Das Untertitel-Problem hat in seiner häretischen Weise verdeutlicht, dass der Film nicht nur einfach an der Sprache operiert, sondern ebenso eine Übersetzungsarbeit leisten muss, übersetzen zwischen Sprachen wie zwischen den Zeiten. Der Film nimmt sich am Ende des zweiten Teils Walter Benjamins Gedanken zum „Autor als Produzent“ an. Er entwickelt damit rückblickend seine eigene Denkform. Es wäre in dieser Hinsicht eine Überlegung wert, der Arbeit des Restaurierens, Benjamins Überlegungen über „die Aufgabe des Übersetzers“ beizulegen. Das hieße, den Film ins Jetzt zu retten, ohne ihm ein mythisches Denkmal zu setzen. Wahrscheinlich müsse die Restauration dazu zur Sprache des Films durchdringen und diese bewahren.

Vom Finden der verlorenen Zeit: Der traumhafte Weg von Angela Schanelec

Ein ständiges Passieren, das nur den Blick zulässt, den herabfallenden, sich senkenden Blick der Figuren und der Kamera, pulsiert in diesem Blackout von einem Film, aus dem sich etwas schält wie die Machtlosigkeit eines Lebens. Angela Schanelecs Der traumhafte Weg ist einer der besten Filme des Jahres, ein Film über Heilungs- und Verdrängungsprozesse, die sich unsichtbar in den Bildern entblättern, aber die immer eine Beziehung zwischen Körpern erfordern, eine die in diesem Film existiert und verschwindet, passiert oder nicht, gelingt oder scheitert.

Es geht um zwei Beziehungen, die sich genauso berühren wie alles in diesem Film, also nicht durch eine große dramaturgische Verkettung, sondern durch räumliche Gleichzeitigkeiten und Blicke. Es geht eigentlich nicht darum. Vielmehr sind diese Beziehungskonstellationen, das was man aufgrund der eigenen Ohnmacht beim Sehen heranziehen muss, um über etwas zu sprechen, was man womöglich nur gefühlt hat. Was man wieder und wieder sehen muss. Man hat es auch gesehen und gehört, keine Frage, aber Schanelec arbeitet hier nach dem Prinzip der dringlichen Suggestion, das heißt, sie zeigt uns nur, was wirklich zählt und deutet das, was man außerhalb des Kinos erzählen könnte nur an. Damit erzählt sie alles.

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Dennoch falle ich zurück auf das, was man scheinbar tun muss, damit ein solcher Text überhaupt Sinn macht: Kenneth und Therese, wir sehen sie zunächst in einem Bild von Harmonie in Griechenland. Verliebt 1984. Dann bekommt Kenneth einen Anruf, seine Mutter hatte einen Unfall. Ein Bild des Schocks bleibt, es hängt damit zusammen und es hängt nicht damit zusammen: Die starren Hände von Kenneth, ein Anfall, machtlos. Später erfahren wir, dass er Drogen nimmt. Der Film springt dreißig Jahre, obwohl er es eigentlich nie wirklich tut. Er bleibt irgendwo zwischen den Zeiten. Es kam zu einer Trennung. Man könnte über die Handlung des Films in der Vergangenheitsform schreiben. Alles war und ist immer zugleich und es ist eine immense Errungenschaft von Schanelec so nahe an präsente Bilder der Vergänglichkeit zu kommen, in dem Moment, in dem wir sie sehen. Vielleicht liegt es daran, dass die Figuren ihre Kostüme nicht wechseln. Zumindest Therese nicht. Nach dreißig Jahren trägt sich dieselbe Kleidung, die wie ein Echo des Filmbeginns an ihr klebt, ihrer Erscheinung etwas Unwirkliches gibt, als wäre die Kleidung die Erinnerung, das Steckenbleiben selbst. Es ist fast ein wenig wie bei Marguerite Duras: Die Erinnerungen sterben in jedem Bild und klammern sich verzweifelt an das Leben, das die Kamera in den Körpern sucht und letztlich nur mehr in den Kindern findet. Denn die Kinder haben, wie eine beeindruckende Szene zeigt, in der ein junges Mädchen einem gelähmten Jungen im Schwimmbad das blutige Knie mit der Zunge abschleckt, weil Spucke der Heilung helfen würde, noch nicht diese ganzen Kleider angezogen. Sie berühren die, die geheilt werden müssen. Es ist ein wenig ein zu sehr erwarteter Kniff des Kinos geworden, in den Kindern einen Gegenpol zu installieren oder sie wie etwa Valeska Griesebach in Sehnsucht oder Corneliu Porumboiu in Comoara als Rahmen, als Metapher zu verwenden. Schanelec findet in ihrem Schlussbild nichts Neues darin, auch wenn sie auf Eindeutigkeiten verzichtet.

Eine andere Geschichte in diesem Film: Die Schauspielerin Arianne. Sie verlässt ihr Leben, ihren Mann, ihre Tochter. Ihr Mann zieht um. Sie dreht. Alles ist taub dabei, das erinnert an die letzten Szenen in Nuri Bilge Ceylans Climates. Das Wetter ändert sich auch im Film. Was in der Sonne beginnt, wird zu Regen. Fast schon ein melodramatischer Kniff, wenn er nicht so schmerzvoll beiläufig wäre. Es ist halt das Wetter, so wie der Zufall, so wie das Schicksal und die Banalität. Eine Bewegung, die keinen besonderen Grund hat außer dem, dass sie von Lebenden ausgeführt wird, wird durch diesen Film getragen. Sie ist alles und nichts zugleich.

Gegen Ende gibt es eine Szene, die diesen in seiner wahrnehmenden Brutalität so emotionalen Film gut beschreibt. Wir sehen Ariane, die über ihre Herkunft spricht, irgendwie resignierend unter einem Regenschirm, ihre Stimme erhebt sich nicht mehr, keine Heilung mehr. Es folgt das Bild des Ortes, an dem wir Kenneth normal sehen, mit seinem Hund auf der Straße lebend neben dem Eingang zu einer U-Bahn-Station. Aber jetzt ist er nicht da. Sein Hund steht im Regen. Das nächste Bild in einem (Ton-)Schnitt wie ein Schuss ins Herz zeigt einen vorbeifahrenden ICE, zu nah, man hört den Ton, die Schienen. Im nächsten Bild sieht man neben den Schienen am Bahnsteig einen Schuh liegen. Etwas ist verschwunden. Von Anfang an ist in diesem Film etwas verschwunden.

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Es ist ein beständiges aneinander vorbei im Miteinander, denn das Miteinander bezieht sich hier lediglich auf Bewegungen, auf die gleichzeitige Existenz an einem Ort. Am verwandtesten scheint mir Der traumhafte Weg im bisherigen Werk von Schanelec mit Marseille, da es in beiden Filmen um Berührungspunkte geht, die im Nebeneinander als eine Art autonomer Spiegel agieren. Man kann Verbindungen ziehen, kann aber auch nicht. Die beiden Beziehungen hängen zusammen und haben nichts miteinander zu tun zugleich. Schanelec öffnet die Möglichkeiten einer Verbindung, ohne sie zu ziehen. Dabei befindet sich beständig alles in einem Raum von Relationen. das betrifft politische und soziale Umstände, die angeschnitten werden, die beiläufig existieren, das betrifft auch die filmische Konstruktion als solche, da über die Figur von Arianne das Schauspiel thematisiert wird, das betrifft geografische, sprachliche Dinge, eigentlich alles, weil der Film sich beobachtend, tastend durch eine Welt bewegt, die traumhaft (nicht im Sinn von „wunderbar“) erscheint. Das entspricht wiederum sehr präzise einer Alltagserfahrung in Großstädten. Das Unbekannte, Unbemerkte in flüchtigen Begegnungen.

Der traumhafte Weg bezeichnet wohl auch das, was passiert ist und uns und andere Menschen zusammen an einen Ort gebracht hat. Es ist ein traumhafter Weg, weil wir ihn nicht kennen, weil er einfach da ist. Sonst aber sticht der Film in vielerlei Hinsicht heraus aus dem bisherigen Werk der Filmemacherin. Das liegt vor allem an der Kamera- beziehungsweise Montagearbeit. Der Vergleich birgt viele Risiken, aber man fühlt sich unweigerlich an vor allem spätere Filme von Robert Bresson erinnert. Zwar geht die Fragmentierung von Körpern und Bildern bei Schanelec nicht ganz so weit, aber die vor allem die Betonung der gehenden Füße und die von Blicken gelenkte Knappheit der Interaktionen beschwören diesen Vergleich geradezu herauf. Zudem gibt es Parallelen im Schauspiel, denn Schanelec sucht hier ähnlich wie Bresson eine Form von Unschuld, die sich der Logik theatraler Repräsentation und pseudohafter Natürlichkeit entzieht und hin zu einer reinen Präsenz erstrahlt. Die Montage kreiert in erster Linie eine hypnotische Präsenz. Eine Erwartung, eine Spirale, eine Leerstelle des Seins, etwas das so lange her ist, dass es vielleicht gar nicht wirklich war, obwohl es dauernd in und an uns lebt. Einen derart feinfühligen deutschen Film über das Ende von Liebe hat man selten gesehen. Man kann durchaus Die bitteren Tränen der Petra von Kant als Vergleich herziehen. Das 4:3-Format und die gewohnt messerscharfe Kameraarbeit von Reinhold Vorschneider erzeugen zugleich den Eindruck eines Gefangenseins, einer traumhaften Ausweglosigkeit wie einer völligen Bestimmtheit, Unumgänglichkeit und Notwendigkeit. Dadurch entsteht ein Film, den man als entweichende Tragödie bezeichnen kann. Die schlimmen Dinge, die man nicht erlebt, sondern die einem und einen passieren.

Wie stürzt man in diese Passagen des Verharrens? Frédéric Jaeger hat richtigerweise von Bewegungen geschrieben, die sich in diesem Film bremsen, aushebeln und aufheben. Am eindrücklichsten geschieht das vielleicht, als Therese durch einen Wald nach Berlin geht und sich plötzlich ins Moos legt. Es scheint viel an Zufällen zu hängen, die anderswo Schicksal genannt werden. So werden Kenneth und Therese getrennt von einem plötzlich Unfall der Mutter von Kenneth. Auch die Trennung des anderen Paares kommt mehr über sie, als sie wirklich die Folge einer aktiven Handlung ist. Dass was Michelangelo Antonioni in L‘eclisse am Ende als fehlerhafte Erwartung inszenierte ist der Grundzustand von Der traumhafte Weg. Doch in ihren Figuren bleibt mit Ausnahme von Arianne letztlich kein Platz mehr, um diese Machtlosigkeit zu beklagen. Sie ist einfach in die Körper, die Blicke und die ausbleibenden Bewegungen eingeschrieben. Gegen Ende gibt es eine bezeichnende Szene, als sich Kenneth und Therese wieder sehen. Hier liegt das ganze Potenzial für die große Liebesszene, den romantischen Augenblick, die ausgelebten Gefühle. Aber sie bleiben im Verborgenen, sie halten sich zurück, letztlich sind es nur Blicke und Körper zur gleichen Zeit am gleichen Ort. Alles fließt in diese Körper hinein, die wie ein Wunder oder verborgen unter einem Kostüm nichts davon preisgeben außer kleine Wunden und Narben, Anfälle und Krankheiten.  Die Heilung erfolgt auch deshalb nicht, weil alle ihre Wunden verbergen. Von Schanelec betrachtet wirkt das alles wie eine riesige Wunde.

Letztlich geht es in Schanelecs Kino auch immer um die Schönheit einer Bewegung und die Arbeit mit dieser Bewegung. Ob das bei ihren vielen Tanzszenen ist oder beim Spazierengehen. Diese Arbeit erfordert ein Hinsehen und Wahrnehmen, das einmalig ist im deutschen Kino. Der traumhafte Weg ist schmerzvoll und wunderschön, weil er diese Sehnsucht nach der Bewegung, der Berührung erspüren lässt, sie greifbar macht, aber sie dann in Auflösungserscheinungen vergehen lässt. Weil sie nicht so existieren wie man das von Schanelec kennt. Ein Film darüber wie man Zeit verliert, nicht auf der Suche nach verlorenen Zeit, sondern mitten darin.

And Life Goes On: Justin de Marseille von Maurice Tourneur

Justin de Marseille

Eine Gruppe von Kindern zieht durch den Vieux Port von Marseille. Angeführt wird sie vom hiesigen Dorftrottel, der wild gestikulierend den Jungen und Mädchen den Weg weist. Ohne große Umschweife wird hier deutlich gemacht an welchem Ort man sich befindet. Die Kinder besingen Frankreichs zweitgrößte Stadt, das muntere Treiben des Fischmarkts steht stellvertretend für südfranzösisches bon vivre. Die vertäuten Boote im Alten Hafen und der Marktlärm werden im Verlauf des Films wiederholt zur Stimmungsbildung beitragen.

Justin de Marseille

Mittendrin wird ein Reporter aus dem Norden auf den Umzug aufmerksam. Er soll über die kriminellen Banden berichten, die Marseille seit einiger Zeit unsicher machen; ein Marketender empfiehlt ihm über „Justin“ zu schreiben. Der namensgebende Protagonist des Films sorgt für Ordnung in der Unterwelt der Hafenstadt. Später wird ihn der Reporter mit den berühmten Paten Chicagos vergleichen und ohne Zweifel hat sich Regisseur Maurice Tourneur die amerikanische Gangstertradition zum Vorbild genommen. Tourneur, wie Jahre später sein Sohn Jacques, war lange Zeit selbst in den Staaten tätig gewesen und hat sich dort als Stummfilmregisseur seine Sporen verdient und sich für Justin de Marseille inspirieren lassen. Justin hat so einiges gemeinsam mit den dubiosen Lichtgestalten der großen Gangsterepen der frühen 30er Jahre. Er ist listig, aber charmant, generös, aber durchsetzungsfähig. Der Handelshafen von Marseille ist für ihn der ideale Umschlagplatz für (illegale) Waren aller Arten und seine klugen Methoden überfordern die örtliche Zollwache. Einzig der italienische Emporkömmling Esposito, der versucht das lukrative Schmuggelgeschäft an sich zu reißen, macht ihm zu schaffen, droht er doch das fragile Gleichgewicht der internationalen „Handelspartner“ zu stören.

Der internationale Flair Marseilles trägt entscheidend zur Stimmung des Films bei. Das Lokalkolorit erstreckt sich nicht bloß auf den Akzent und das Setting, sondern sorgt auch für eine Spur Exotik und übertüncht die motivischen Anleihen beim Gangstergenre. Marseille, das ist frontier, der Hafen die letzte Bastion vor den unendlichen Weiten der Weltmeere. Hier tummeln sich allerhand absonderliche und zwielichtige Gestalten. Chicago mag das verruchte Vorbild in den Reportagen des Pariser Journalisten sein, doch in vielerlei Hinsicht ist das Marseille Justins ein Grenzposten im Wilden Westen. Erstaunlich, wie der Film vermeidet Stereotypen des Gangstergenres allzu stark zu bedienen, aber dabei in die Sphären eines anderen klassisch amerikanischen Genres abgleitet. Die starke lokale Prägung, die den Film vor allzu verhohlenen Vergleichen mit der Gangsterwelt bewahrt, führt zu einem Aufblitzen des mythischen Glanzes des gesetzlosen, amerikanischen Westens. Die Wirkmächtigkeit des Westerngenres ist anscheinend so groß, dass unweigerlich solche Verbindungen auftreten, sobald sich ein Film so stark seinem Setting hingibt.

Justin de Marseille

In Fragen der Inszenierung hebt sich Justin de Marseille jedoch von beiden Genres ab. Zum einen ist der Film recht anti-klimaktisch – das entscheidende Duell zwischen Justin und Esposito findet Off-Screen statt, der große Coup, der diesem vorausgeht, geht ohne grobe Komplikationen über die Bühne –, zum anderen spart der Film mit Gewalt und Blut. Justin ist kein brutaler Bandenchef, der bei jedem Anlass mit den Fäusten spricht, sondern verlässt sich auf seine guten Kontakte zu den Ordnungshütern, souveränes Auftreten und ausgeklügelte Pläne. Er ist kein mordender Soziopath, sondern ein kluger Stratege, der das Leben genießen möchte, anstatt in ständiger Furcht vor Racheakten zu leben. Alles in allem, und das unterscheidet ihn ebenfalls von seinen amerikanischen Vettern, ist er ein sympathischer Kerl, dem man vergönnt letztendlich die Oberhand zu behalten. So ein Ende wäre im Hollywood des Production Codes undenkbar, doch in Marseille, da geht das Leben einfach weiter.