Il Cinema Ritrovato 2017: The Power and the Glory von William K. Howard

Manchmal bedarf es des zeitigen Anstoßes durch einen Mitbetrachter, um zu erkennen, dass man bei der Beurteilung eines Films einem Kurzschlussurteil unterlegen ist. Der Wert des Schweigens nach dem Kino – insbesondere des Schweigens über den gesehenen Film – sollte nicht unterschätzt werden; denn es gibt dem eben Aufgenommenen die Möglichkeit, weiterzuwirken, sich zu entfalten, Wurzeln zu schlagen. Aufzugehen in den Tiefenschichten des persönlichen Bildreservoirs, auf dass es irgendwann in neuem, ungeahntem Gewand wiederauferstehen kann. Doch genauso leicht vermag die unventilierte Filmerfahrung eines Cinephilen und Vielsehers zu verkrusten und ins Unbewusste abzusinken, in einer Form, die dem zugehörigen Kunstwerk in keiner Weise gerecht wird. Womöglich hat man schon beim Schauen gespürt, dass in den Bildern mehr steckt, als der erste Blick verrät. Doch irgendein Denkreflex hat sich quergestellt und die Intuition abgebügelt. Das kenne ich schon, ich weiß, wie das funktioniert. Ein klarer Fall nach Schema F, etc. pp. Man kommt aus dem Kino und tut seine fundierte Geringschätzung kund, mit wohliger Abgeklärtheit in den Augen. Und man beginnt bereits damit, zu vergessen. Womöglich zu Recht – doch vielleicht auch nicht. Und lauscht man dem, was andere über den Film zu sagen haben, jene, die anderer Meinung sind und diese auch zu begründen wissen, so gibt es hier, in dieser kurzen, empfindlichen Phase zwischen Ersteindruck und Bilanz, die Hoffnung einer Rettung.

The Power and the Glory von William K. Howard

Eine solche erfuhr für mich William K. Howards The Power and the Glory (1933) beim heurigen „Il Cinema Ritrovato“. Ein Film, der mich beim Sehen relativ kalt ließ – abgesehen von der Irritation durch ein paar stilistische Eigenheiten, die ich allerdings sehr schnell unter der Kategorie „gescheiterte Experimente“ verbuchte. Er handelt vom Leben und Tod des (fiktiven) Railroad-Tycoons Tom Garner, der in jeder Altersstufe von Spencer Tracy gespielt wird. Erzählt wird Garners Geschichte von seinem Sandkastenfreund und langjährigen Wegbegleiter Henry (Ralph Morgan). Der Film beginnt mit einer Totenmesse für den verschiedenen Magnaten, die ein sichtlich niedergeschlagener Henry gesenkten Hauptes verlässt. Zuhause spricht er mit seiner Frau über den Toten. Diese hat kaum gute Worte für ihn übrig. Henry sieht sich veranlasst, Garner (oder Tom, wie er ihn nennt) in Schutz zu nehmen, und seine Imagekorrektur-Bestrebung setzt seine Reihe von Rückblenden in Gang (die markante Flashback-Struktur des Film legt einen Einfluss auf Orson Welles‘ Citizen Kane nahe, wie Pauline Kael und Dave Kehr – der Kurator der Howard-Schau in Bologna – vermerkt haben).

Die Rückblenden zeichnen Garners Werdegang in groben Zügen nach. Einerseits ist die knapp 80-minütige Erzählung sehr elliptisch. Man sieht die Hauptfigur als Kind, und kurz darauf heißt es im Voice-Over: „Ehe man sich’s versah, war er einer der erfolgreichsten Eisenbahnunternehmer des Landes“. Andererseits gibt es eine komplexe narrative Schichtung mit vier Zeitebenen, zwischen denen zickzack-artig hin- und hergesprungen wird: Garners Kindheit, seine Prä-Tycoon-Phase als einfacher „track walker“ (eine Art ambulanter Schieneninspektor), der spätere Zenit seines Erfolgs und die Rahmenhandlung nach seinem Tod. Auf den ersten Blick entsteht dabei (im Unterschied zu Citizen Kane) der Eindruck der Apologie eines missverstandenen Self-Made-Mannes, der vielleicht etwas überambitioniert, aber (fast) immer rechtschaffen und ehrlich war. Dessen Unglück in erster Linie auf die Schwäche und Ignoranz seiner Nächsten zurückzuführen ist. Ich nahm diese Präsentation, die wie ein Schlüsselreiz auf meinen ideologiekritischen Reflex wirkte, für bare Münze – obwohl es durchaus Momente gab, in denen gewisse Widersprüchlichkeiten der Form leise Zweifel in mir weckten, ob der Film sich wirklich derart vorbehaltlos hinter Garners Figur stellte, wie ich meinte, glauben zu müssen. Weiters erschien mir Henrys aufdringlicher Voice-Over als unnötige Doppelung der Bildebene – ein weiters Reflexurteil, diesmal formalistischer Natur. Wenn’s bei Blade Runner nicht passt, warum sollte es hier Sinn machen?

Nach dem Film war ich bereit, ihn sofort ad acta zu legen, als müde Aufsteiger-Story und holprige Spielerei mit fragwürdiger Botschaft. Doch das kurze Gespräch mit einem Freund unmittelbar nach dem Screening belehrte mich eines Besseren – vor allem, weil seine Argumente andocken konnten an Aspekte meiner Wahrnehmung, die ich zwar verdrängt, aber noch nicht verbaut hatte. Der bloße Hinweis auf eine Handvoll offenkundiger Doppelbödigkeiten rückte den Film umgehend in ein anderes Licht und zwang mich, ihn nochmal unter anderen Vorzeichen Revue passieren zu lassen.

The Power and the Glory von William K. Howard

Zentral für dieses Umdenken war die Bewusstwerdung der eigentümlichen Perspektive von The Power and the Glory. Nahezu alles, was wir über Tom erfahren, wird durch Henrys rosarote Brille gefiltert. Und Henry ist eine ziemlich jämmerliche Figur. Ein pedantischer Angsthase und geborener Lakai, der sein Leben lang zu Tom aufgeblickt hat, stets in dessen Schatten stand und vielleicht sogar ein wenig in ihn verliebt war, ohne es sich selbst einzugestehen – eine Art Smithers ohne Pragmatismus. Der Film macht dies in jeder dritten Szene deutlich. Zeigt, wie er sich als Kind nicht traut, ins Wasser zu springen, als Tom sich beim Tauchen zwischen zwei Steinen verheddert. Wie er als Studierender genüsslich eine schnörkelige Schönschrift kultiviert – in einem Brief an den verehrten Kameraden. Wie er als Toms Sekretär Arbeit findet und aus Knausrigkeit beinahe dessen Anlagetipps ausschlägt, die ihm schließlich zu seinem gemütlichen Heim verhelfen.

Zugleich spricht aus jedem Wort Henrys die rückhaltlose Anbetung, die er Tom entgegenbringt, diesem ur-amerikanischen Machertypen, der all das verkörpert, was er nie sein konnte. Auf den er dermaßen viel projiziert, dass jede noch so zaghafte Kritik an diesem Idol um jeden Preis auf Abstand gehalten werden muss. Sein Versuch, das eherne Erinnerungsbild seines Freundes intakt zu halten, äußert sich gerade in der schon erwähnten Aufdringlichkeit seines Voice-Overs, der sich manchmal über die Stimmen der Figuren legt und diese in Handpuppen verwandelt – etwa in einer parabelhaften Szene über die Annäherung zwischen Tom und seiner Frau Sally (Colleen Moore), bei der Henry, wie auch bei vielen anderen von ihm geschilderten Ereignissen, gar nicht zugegen war. Diese „Geschichtsklitterung“ macht ihn auf subtile Weise zum unzuverlässigen Erzähler und verleiht den Rückblenden eine faszinierende Ambivalenz. Das Karikatureske mancher Passagen, die Garner als „simple country boy“ verklären oder ihn zum klarsichtigen „maverick“ krönen (der zwar nichts von Rechnungswesen versteht, aber weiß, wie man ein Bahnunternehmen zu führen hat, verdammt nochmal!) tritt unter diesem Blickwinkel deutlich hervor. Der Umstand, dass der damals 33-jährige Spencer Tracy seine Figur auch als unbedarften, analphabetischen Jungspund spielen darf, erscheint plötzlich nicht mehr wie eine befremdliche Hollywood-Eigenheit, sondern als Kommentar auf den unhintergehbaren Idealcharakter dieses verbrämten Gedächtnis-Garners. Und eine besonders ärgerliche Sequenz hat nun etwas von einer Verblendungs-Apotheose: Der Großindustrielle besucht eine Fabrik, die von einem Streik stillgestellt wurde. Ein garstiger Gewerkschafter mit russischem Akzent peitscht die dumpfen Arbeitermassen auf. „Wenn ich diesen Garner in die Hände bekomme, dann…“ – „Was dann?“, ertönt es aus der Menge. Der Chef, im Herzen nach wie vor ein Mann des Volkes, besteigt die Bühne, verweist den Hetzer auf seinen Platz und hält eine Brandrede, die jeden noch so renitenten Kommunisten zur Räson bringen würde. Aber leider gab es damals ein paar Sturköpfe, wie man erfährt, der Streik musste blutig niedergeschlagen werden, Hunderte kamen ums Leben. Sind das die Taten eines guten Mannes, mahnt Henrys Frau? Papperlapapp, eine bedauernswerte Notlösung, sagt ihr Mann. Und überhaupt – hast du schon mal über seine Gefühle nachgedacht? Zuweilen manifestiert sich Henrys Opfermythos sogar in der Ästhetik. Für die Kameraarbeit zeichnet der eminente Schattenmaler und Tiefenschärfenspezialist James Wong Howe verantwortlich, viele Einstellungen neigen zum Sakral-Monumentalen. Doch keine so sehr wie die, in der Garner nach seinem Selbstmord im Schlafzimmer aufgefunden wird. Henry und der Sohn des Toten fügen sich in eine Komposition, die stark an Pietàs und klassizistische Todesdarstellungen erinnert, gerinnen förmlich zu Elementen eines symbolischen Gemäldes. Von links fällt durchs Fenster ein göttliches Licht. Es ist derselbe Schimmer, der in der Eröffnungsszene die Totenmesse beehrte. Die Heiligsprechung ist vollendet. Und man begreift, dass es in „The Power and the Glory“ eigentlich gar nicht um Tom Garner geht, sondern um Henry. Nicht um die Macht und die Herrlichkeit, sondern um die unstillbare Sehnsucht danach, die den amerikanischen Traum bis heute am Leben hält. Um die Weigerung, dessen Kehrseiten ins Gesicht zu blicken und die Trauer eines Stellvertreterdaseins.

Natürlich ist diese Lesart nicht die „Richtige“. Ohne die Anregung von außen hätte sich meine anfängliche Interpretation mit ziemlicher Sicherheit durchgesetzt, und es ist sehr gut möglich, dass andere Zuseher ihr den Vorzug geben würden. Aber die beschriebenen Ambiguitäten sind fraglos im Film enthalten – und wenn man bedenkt, dass das Drehbuch von Preston Sturges stammt, liegt die Spekulation, dass es sich dabei um Absicht handelt, nicht fern. Hätte ich nach der Sichtung geschwiegen, wäre mir diese Facette entgangen – passend bei einem Film, der nicht zuletzt von hermetischen Weltbildern erzählt.

Glasworks: Die Lügen der Sieger von Christoph Hochhäusler

Es ist schon eine gute Sache, dass es Christoph Hochhäusler immer mal wieder schafft, in Deutschland einen Film zu machen. Der Mitherausgeber und die Online-Stimme der Filmzeitschrift Revolver hat mit Die Lügen der Sieger, der seit einer Woche auch in den österreichischen Kinos unter dem Radar fliegt, seinen Weg hin zum Genre weitergeführt und einen intelligenten und formal jederzeit spannenden Politthriller gedreht. Darin folgt er mit einer paranoiden Präzision in Schwenks und Schnitten dem Journalisten Fabian Groys (Florian David Fitz) bei Enthüllungsarbeiten rund um die Invalidenpolitik der Deutschen Bundeswehr und einen Giftmüllskandal.

Hochhäusler trifft das paranoide Zeitgefühl einer Fassadenwelt, in der durch Fenster beobachtet und gelenkt wird und man sich nie sicher sein kann. Amerikanische Vorbilder von Alan J. Pakula bis zu Francis Ford Coppola, Orson Welles oder Richard Brooks lassen sich zur Genüge finden und auch im fast schon vergessenen europäischen Politkino ist Die Lügen der Sieger fest verwurzelt..Damit könnte man den Film als eine etwas genrespezifischere Variante von Hochhäuslers Unter dir die Stadt sehen, aber das wäre wohl zu kurz gegriffen. Vielmehr ist Die Lügen der Sieger ein Film, der auf einem Drahtseil zwischen einer fiktionalen Genrewelt samt Champagner-Rausch-Glückspiel, Porsche und roegesquen Sexszenen und der ernüchternden Realität eines Presse- und Politikalltags balanciert. Fast zufällig stolpert der verschuldete Fabian mit Hilfe der Volontärin Nadja (Lilith Stangenberg) in einen faustdicken Skandal, den der Zuseher praktisch von Beginn an als solchen erkennt, weil wir auch die illegale Verschleierungsarbeit sehen dürfen. All ihre Arbeit läuft auf eine Lüge hinaus, die von mächtigen Anzügen im Hintergrund so gewollt wird. Es ist ein wenig schade, dass Hochhäusler am Ende noch einen drauf setzen muss, denn die Ernüchterung, Zeuge einer Wahrheitsfindung als große Lüge geworden zu sein, hat auch eingesetzt, ohne dass die Hauptfigur alles verlieren musste. Der große Moment des Films geschieht, als man bemerkt, dass es sich bei all diesen Intrigen, all diesem Aufwand am Ende „nur“ um einen Zeitungsartikel handelt, der an der Wahrheit vorbeischrammt. In einer beeindruckenden Szene streichen die Fadenzieher in den kalten Glasgebäuden über ihre Bildschirme und stellen beruhigt fast, dass der Artikel in ihrem Interesse erscheint. Es sind diese wiederholten Einstellungen von Fadenziehern über der Stadt, an denen wir Teil haben müssen, um zu verstehen, dass in dieser Welt nichts wirklich wahr ist. Aber Hochhäusler folgt den Genreregeln und zerstört seinen zuckerkranken, spielsüchtigen Antihelden völlig und nimmt der schmerzvollen Ironie einer allgegenwärtigen Zufriedenheit im Angesicht der Lügen damit ihren bitter-absurden Drive.

Das Prunkstück des Films ist sicherlich die Montage, jenes Mittel zur Lüge des Kinos. Virtuos wie Stefan Stabenow hier zwischen harten und fließenden Übergängen wechselt und so eine Beunruhigung ermöglicht, die einen immer wieder blicken lässt, die das Sehen ermöglicht. Diese Schnitte taumeln über dem gleichen Abgrund wie die Hauptfigur, immerzu auf einer desorientierten Suche, die einen Zweifel an der Realität ermöglicht, aber keinen Ausweg lässt, die einen täuscht, wenn man blinzelt. Dabei spielt auch immer die Idee der Beobachtung eine entscheidende Rolle. Diese wurde feinfühlig in ein visuelles Konzept eingearbeitet, das sich mal in der machtlosen Entfremdung eines Michelangelo Antonioni mit dem gewohnten Auge für Architektur bei Hochhäusler, der Hektik einer städtischen Distanz des Treibens im Alltags von Berlin und dem ständigen Verlust von Klarheit, der in beständigen Seitwärtsfahrten und Schwenks droht, vor unserem Auge zu verschwinden, äußert. Hinzu kommen diverse Spiele mit Unschärfen und kantigen Einstellungen, die auch an Orson Welles paranoide Welten erinnern. Ja, wir haben hier einen Filmemacher, der eine Filmsprache aus der Geschichte des Kinos filtert, die viel mit der gegenwärtigen Realität zu tun hat. So erzählt die Form des Films beständig etwas über den Inhalt und über den Inhalt hinaus.

Wie schon in Unter dir die Stadt bleibt Hochhäusler fasziniert vom gebrochenen Licht im Glas: Spiegel, Fenster, verdeckte und verzehrte Gesichter oder blitzende Reflektionen zwischen den Glasfassaden einer öffentlichen Toilette. Immer wieder finden Kameramann Reinhold Vorschneider und Hochhäusler außergewöhnliche Perspektiven auf eigentlich bekannte Orte. Dadurch ermöglichen sie einen Blick hinter die geschniegelten und kalten Fassaden, die alles in ihren Systemen und Mechanismen ertränken und alles zerstören, was ihnen nicht folgt. Der vormalige Titel des Films, Lichtjahre, bricht in diese Reflektionen, in denen irgendwo in den Schatten ein gebrochenes Licht auftaucht, ein Lächeln der Lügner und Belogenen, der Wegsehenden und Erfolgreichen.

Lichtjahre

Aus der ständigen Wachsamkeit und Konzentration erwacht eine dynamische Thrillerhandlung, die immer dann am besten zündet, wenn sie mit der Beiläufigkeit des Alltags oder einer satirischen Absurdität operiert. So sind die Szenen, in denen Fabian und Nadja auf Spurensuche gehen vor allem deshalb spannend, weil sie gleichzeitig etwas über den Journalistenalltag erzählen. Zynische Bemerkungen, Bandscheibenvorfälle und kleine Worte, die schon zu viel sein können, prägen das Vorgehen des Films in diesen Augenblicken. Es ist nicht ganz nachvollziehbar, weshalb es dem Film manchmal gelingt, das Genre so locker mit dem Alltäglichen zu verknüpfen, während es an anderen Stellen in eine überzogene Theatralität kippt, wie bei den Wutausbrüchen und Geschmacklosigkeiten der Mächtigen. Es ist als könne sich Hochhäusler diesen Kontrollinstanzen nur über eine relativ inspirationsfreie Abstraktion nähern, die man natürlich im Genre verorten könnte, aber denen leider jederzeit Ambivalenz abgeht. Seltene Schwächen offenbaren sich auch hier und da in der Inszenierung. So wirkt die Einführung von Fabian auf einer Pressekonferenz mit einer seitlichen Kamerafahrt trotz der Konsequenz dieses Stilmittels wie aus einer Telenovela. Immer wieder mal spürt man regelrecht wie die Szene gedreht wurde. Der Sog der amerikanischen Vorbilder bleibt somit leider aus. Allgemein wirken manche Gebäude (dazu zählt auch das Redaktionsgebäude der fiktiven Zeitung „Die Woche“) nicht ganz dem düsteren und verwinkelten Genre entsprechend, weder kann hier der Realismus eines Zodiac erreicht werden, noch die labyrinthische Abstraktion eines The Trial. Vielleicht ein unfairer Vergleich, aber die zwei genannten Filme zeigen doch recht deutlich, welchen Spagat zwischen Genre und Gesellschaft Hochhäusler hier wagt.

Die Lügen der Sieger konfrontiert mit einer politischen und zugleich visuellen Weltsicht, die ansteckt, die einem im Gefühl dieser Angst und dieses Genres baden lässt, die von einer Beunruhigung erzählt, aber diese letztlich als beruhigend hinnimmt. Denn statt einem Schock der Unsicherheit wie am Ende von Unter dir die Stadt, wartet Hochhäusler hier mit dem, was man kommen sah. Die Hoffnungslosigkeit und Einsamkeit am Ende dieser Angst. Das Glas droht nicht zu brechen, es thront stabil und unsichtbar. Es zersplittert die Wahrheit und das Licht gleichermaßen und in diesem Sinn ist Hochhäusler hier ein Appell an eine Einschränkung der Freiheit gelungen, eine Einschränkung, die wir oft vergessen, weil wir durch sie hindurchsehen können. Nur – und das liegt durchaus in den zahlreichen seitlichen Fahrten, die einem nicht aus den Augen gehen können – wir drohen überholt zu werden vom dem, was wir nicht sehen können. Es ist gut, dass Hochhäusler es (und hier bin ich mindestens so abstrakt wie er ) sichtbar macht.

Three Men of Wisconsin: The Trial und Figures in a Landscape

In einem paranoiden Doublescreening zeigte das Österreichische Filmmuseum The Trial von Orson Welles und den vogelwilden Figures in a Landscape von Joseph Losey. Diese Zusammensetzung war im doppelten Sinne paranoid, denn erstens handelt es sich um zwei Filme, in denen Paranoia eine gewichtige Rolle spielt und zweitens wurde Loseys Film, der als zweiter gezeigt wurde, durch diese Programmierung mehr oder weniger von Welles‘ Kafka-Verfilmung gejagt. Nun ist es so, dass ich eine besondere Beziehung zu The Trial habe. Ich sah den Film zum ersten Mal vor etwa 7,5 Jahren, als unser Deutschlehrer sich entschied, die Kafka-Lektüre aus Zeitmangel auszulassen und uns dafür zwei Filme zeigte: Das Schloß von Michael Haneke und eben The Trial von Orson Welles. Wie das so üblich ist, zeigte man uns Ausschnitte (ebenfalls aus Zeitmangel) von einer untragbaren VHS-Kassette in einem Raum, der kaum vom eindringenden Licht geschweige denn vom Vogelgezwitscher (irgendeine Schülerin bittet schließlich immer um frische Luft bei geöffnetem Fenster) sicher war. Doch trotz dieser Projektionsbedingungen transportierte sich eine Art Magie in den Bildern von Welles, die mich unendlich beschäftigte und die für mich eine Welt öffnete, die man als Kino bezeichnen könnte: Ich sah Licht und Schatten, ich spürte eine materielle Sinnlichkeit und gleichzeitig etwas Entrücktes. Nach dem „Screening“ ging ich zum Lehrer und fragte, ob ich mir die VHS-Kassette ausleihen könnte, weil ich diesen Gang von Anthony Perkins durch den mit Licht durchlöcherten Korridor gegen Ende des Films nochmal sehen wollte. Dieser war ein guter Lehrer, nicht nur gab er mir das Video, nein, er verstand sogar exakt meine Begeisterung, die ich mir damals – und zum Teil heute – selbst nicht erklären konnte. Eine ganz ähnliche, wenn auch deutlich fragwürdigere ästhetische Begeisterung zeigte ich einige Wochen später, als wir im Geschichtsunterricht mit Bildern aus John Fords The Battle of Midway konfrontiert wurden, das ist aber eine andere Geschichte. Nur genau wie Fords Kriegsdoku wurde nun auch The Trial, den ich auf dieser VHS weitere zwei Mal anschaute, im Filmmuseum auf Film für mich neu geboren. Erstaunlicherweise hatten die VHS-Bilder damals (wohl aufgrund ihrer Frische, doch was heißt Frische im Bezug auf Film?) einen derartigen Eindruck auf mich gemacht, dass ich trotz der minderen Qualität fast jedes Bild so in meinem Kopf hatte, wie es sich nun auf der Leinwand vor mir entfaltete. Mehr noch sind diese Welles-Kopien im Filmmuseum derzeit äußerst ärgerlich, denn französische und deutsche Untertitel übereinander blockieren fast ein Drittel des Bildes und in einem Film, in dem zum einen so viel gesprochen wird, wie in The Trial und zum anderen sehr viel mit Headroom gearbeitet wird, kann man vor lauter Schrift auf dem Bild nichts mehr erkennen. Dies ist ein wirkliches Problem, dessen Ursprung ich nicht kenne, aber welches die Seherfahrung genauso behindert wie ein lichtdurchfluteter Raum.

The Trial

The Trial

Dennoch übertrug sich die Begeisterung für die schwarzhumorige Machtlosigkeit und die visuelle Palette mit der Welles Kafka begegnet erneut. Das perfekte Casting (Perkins IST Josef K.) und das verschlungen-verspielte Paradies der filmische Form, ermöglichen ein Abtauchen in eine innere Hölle, in der ständig Räume dynamisiert werden, weil sich hinter Türen völlig überraschende Welten öffnen und in der man so sehr in einer unterbewussten Logik verfangen ist, dass sich sexuelle Triebe und Versprecher in eine Getriebenheit eingliedern, der man weder mit seinen Augen noch mit seinem Kopf entrinnen könnte. Dabei ergibt sich eine faszinierende Heirat zweier großer Künstler, denn natürlich hält sich Welles nicht immer und nicht zu extrem an seine literarische Vorlage. Vielmehr zieht er exakt jene Elemente aus dieser dubiosen Hetzjagd, die ihn selbst nicht loslassen: Ein pessimistischer Blick auf eine Illusion, die mit allen Mitteln illusorischer Kräfte zu einem doppelbödigen Leben auf der Leinwand gebracht wird. Er selbst tritt auf als in Zigarrenrauch gehüllter Anwalt, man kann ihm nicht glauben, nicht trauen, aber es gibt eine Logik, die uns und Josef K. ihm zuhören lässt. Das ist wohl die Logik des Kinos und es ist bezeichnend, dass Welles in seiner Version den Protagonisten mit deutlich mehr Widerstand gegen diese kaputte Welt ausrüstet, denn die Selbstaufgabe wäre eine Hingabe zur Illusion und Welles will diese Illusion bis zum Ende mit-reflektieren. Spät im Film tritt er als Anwalt fast ähnlich auf wie als Filmemacher in F for Fake. Mit welcher absurden Liebe für das Szenenbild hier erstaunliche Sets geschaffen wurden, die sich in der Kombination aus extremen Kamerawinkeln, Objektiven und extravaganten Bewegungen zu einem Sog verdichten, der gleich der Spiegelwand, hinter der sich Romy Schneider im Film lockend versteckt, immer ermöglicht in eine Welt und auf sich selbst zu sehen. Dieser Ansatz mit der illusorischen Natur der Sets war in ein am Ende nicht umgesetztes Konzept von Welles eingeschrieben:

„Yes, I had planned a completely different film that was based on the absence of sets. The production, as I had sketched it, comprised sets that gradually disappeared. The number of realistic elements were to become fewer and fewer and the public would become aware of it, to the point where the scene would be reduced to free space as if everything had dissolved.” (http://www.wellesnet.com/trial%20bbc%20interview.htm )

Es ist auch äußerst spannend wie Welles hier einen jazzigen Modernismus mit den Abgründen des frühen 20. Jahrhunderts vereint und zu einer Symphonie der Tortur durch höhere Mächte vereint. Gedreht wurde ein Großteil des Films im ehemaligen Jugoslawien in Hallen und Wohnlandschaften, die den Albtraum noch verstärken, der auch von den durchgehenden Hammerschlägen von sich im Kreis drehenden Dialogen und dem durchgehenden Stress im Dialog in die Nerven der Zuseher einprägt. Manchmal hält man es kaum aus. Das Sounddesign ist voller Lärm. Dieser Effekt verstärkte sich gar noch im zweiten Film des Abends, Figures in a Landscape von Joseph Losey. Darin wird man mitten in wundervolle und tödliche Landschaft geworfen, um zwei Flüchtenden (Robert Shaw, der auch das Drehbuch schrieb und Malcom McDowell) bei ihrem Überlebenskampf zuzusehen. Wie The Trial bewegt man sich dabei auf einem äußerst abstrakten Terrain, denn nichts wird wirklich benannt, es ist mehr ein existentialistischer Trieb, der den Film befruchtet. Durch das vorangegangene Screening von The Trial legte sich ein Fokus meiner Wahrnehmung zu Gunsten des deutlich schwächeren Films auf das albtraumhafte bei Losey, das durch wiederkehrende Bilder, die fehlenden Gesichter der Jäger, undefinierbaren Gestalten, wie einer bewegungslosen Frau, die zunächst aussieht wie ein Velázquez-Gemälde bevor sie in einem Schockmoment losschreit und eben diesem durchgehenden Lärm, der hier von einem Hubschrauber ausgeht, der immer wieder wie ein dunkler Bote des Todes über den beiden Männern am Himmel kreist. Und der beständige Lärm dieses Helikopters ist ein ganz ähnlicher Test für die paranoiden Nerven wie bei Welles.

Figures in a Landscape

Figures in a Landscape

Die raue Nacktheit einer Verfolgungsjagd, die man ja derzeit auch im regulären Kinobetrieb in Mad Max: Fury Road von George Miller rauschhaft genießen kann, bleibt eine große Faszination, die keinerlei Psychologie braucht, um zu wirken. Katz und Maus, Räuber und Gendarm, hier werden Bilder evoziert, die eine Identifikation aufgrund ihrer Natur ermöglichen und nicht aufgrund der Figuren. Nicht umsonst war die Verfolgungsjagd auch im Kino der Attraktionen ein erfolgreiches Genre. Doch Losey will ein wenig mehr und dadurch entsteht ein äußerst bizarres Stück Kino. Zum einen wird die Landschaft hier mehr oder weniger poetisch mit der Jagd an sich verbunden und gleichzeitig als innere Landschaft etabliert. Fast wie Victor Kossakovsky schneidet Losey assoziativ von fliegenden Adlern auf den Helikoptern, rennenden Rindern auf die beiden Männer. Felder werden abgebrannt, eine Schlange erscheint im Wasser zwischen den Flammen und die Schlussbilder, die an Theo Angelopoulos‘ Eternity and a Day erinnern evozieren eine epische Größe, die eigentlich nichts in diesem Film verloren hat. Fast durchgehend hat man da Gefühl, dass eine tiefe philosophische Ebene unter all diesen kantigen Bildern liegt, aber viel wird man dort nicht finden. Zudem spielt vor allem Robert Shaw zwei Etagen emotionaler, als er womöglich sollte.

Wie The Trial entführt auch Figures in a Landscape in eine abstrakte Interpretation einer unheimlichen Flucht. Hier wie dort könnte die Landschaft überall sein, aber gleichzeitig ist sie auch definierend für diese Welt. Es stellen sich Fragen an die Wichtigkeit einer Verortung oder noch vielmehr einer Konkretheit des Raumes. Vielleicht trifft Losey dieses von Welles antizipierte Auflösen der Sets am besten, wenn er in einer langen Blende einen nächtlichen Zug durch die undefinierbare Zwischenwelt einer Doppelbelichtung fahren lässt. Was sich dadurch letztlich zeigt ist, dass der filmische Raum selbst in seiner Auflösung konkret bleibt, ja vielleicht sogar erst manifest wird. Und aus dieser Sicht betrachtet, ist es vielleicht spannend, dass ich als Einstieg für diese kurzen Betrachtungen eine subjektive Erinnerung an eine Vorführung von The Trial gewählt habe. Denn wenn die Auflösung der Sets tatsächlich stattfinden kann, dann womöglich in unserer Erinnerung an die Filme, in denen oft eher der Geschmack, ein Bild oder eine Emotion hängenbleibt (so ist die unterbewusste Logik, die letztlich beide Filme antreibt).

The Trial

The Trial

Three Men of Wisconsin: F for Fake von Orson Welles

Zwischen den ganzen Zaubertricks und Illusionen, den verhüllten Schleiern und den doppelbödigen Spiegeln in F for Fake, dem wahr-falschen Film des mächtigen Orson Welles stellte sich mir, trotz aller Intelligenz und allem Spott im Film eine ganz andere Frage: Stellt der Film nicht ausschließlich Fragen beziehungsweise gibt Antworten über die wir heute (und vielleicht auch schon 1975) lange hinaus sind?

Das Publikum verführen und eine Wichtigkeit auf die Frage der Illusion legen, als wüssten wir nicht ob der Vorhänge, als wäre unser Problem nicht vielmehr die Komplexität einer Wahrheit , die es nie ohne Lüge gibt und die Lügen, die voller Wahrheit stecken. Zudem, wie unter anderem Jacques Rancière bemerkte, scheint es heute spannender zu sein, dass eine desillusionierte Ordnung, also eine Welt ohne die Illusion, die Welles so sehr fordert, indem er sie offenbart, nahe an Zerstörung und Wahnsinn ist. Dieser Wahnsinn wäre dann in F for Fake die Montage und hier und da (seltener als in anderen Filmen des Regisseurs) auch die Bildsprache. Dieses verwobene Konstrukt ist ein Irrsinn, den man kaum greifen kann. Wenn Welles nun seine Lügen über die virtuose Montage spinnt, dann führt er Film, wenn man so will (man muss nicht) zurück zu seiner Urlüge, aber in dem er den Trick verrät, macht er ihn relevanter als er ist, er gibt dem Trick selbst die Bühne und nicht dem Film, obwohl der Trick doch so unwichtig ist. Welles führt gewissermaßen aus seinem eigenen Labyrinth heraus, indem er uns offensichtlichst anlügt und etwas völlig belangloses offenbart: Alles ist ein Trick. So zeigt sich nichts und nichts wird versteckt.

F for Fake2

Nun kann man sagen, vielleicht in gewisser Anlehnung an Christopher Nolans The Prestige, dass der Trick auch immer eine Frage der Vorstellungskraft des Betrachters ist. Nur für diese lässt Welles hier gar keinen Platz. Vielmehr definiert er sie selbst, er lenkt sie und er stellt sich so letztlich selbst dar, was von der ersten Sekunde an dazu führt, dass man den doppelten Boden sieht. Dies könnte nun bedeuten, dass Welles eben auch nicht an die Unterscheidung zwischen Illusion und Realität glaubt und deren Überlagerung betont, aber dazu legt er viel zu viel Begeisterung für den Fake, die Lüge an den Tag. Auch mag man in der Präsenz der Persona des Performers einen ganz eigenen Wahnsinn, vielleicht Größenwahnsinn entdecken, der das Spiel mit der Illusion wieder in unsere Zeit überführt. Der Punkt ist, wenn man den liebenswerten Scharlatanen um Welles folgt, dann funktioniert dieser Film natürlich außergewöhnlich, da er spannende Fragen zur auratischen Kraft der Kunst, Autorenschaft, ihrem Copie Conforme Touch, der Bedeutung von Kritik und Experten sowie zur Fiktion an sich stellt, wenn man sich aber inmitten einer Krise der Repräsentation befindet, in der ein Zweifel sowieso Bestandteil des Sehens sein muss (zumindest im Film, ich bin mir nicht sicher, ob F for Fake ein Film ist, obwohl es natürlich ein Film ist), dann folgt man lieber den Anweisungen des im Film zitierten, ungarischen Kochbuchs und stiehlt ein Ei, um ein Omelette zu machen.

Three Men of Wisconsin: The Stranger von Orson Welles

The Stranger von Orson Welles ist eine jener Filme, bei denen man besonders die Kraft eines Filmemachers spürt, der aus jeder Szene ein kleines visuelles Ereignis macht und damit einen eigentlich durchschnittlichen Film, zu einem erinnerungswürdigen Vibe verhilft. Der Film ist der einzige von Welles, der bei seinem Release positive Zahlen in den Vereinigten Staaten schrieb und wird von vielen Theoretikern und Kritikern abgelehnt beziehungsweise als minderes Werk im Schaffen von Welles betrachtet. Schuld daran dürfte ein recht flaches und doch gleichermaßen abstruses Drehbuch sein (der desaströse Geschmack der Academy wird hier mal wieder klar, denn der Film wurde ausgerechnet für Bestes Drehbuch nominiert bei den Oscars…) und die Tatsache, dass Welles den Film selbst als eine Ausnahme beschrieben hat, da er nach seinen Problemen mit The Magnificent Ambersons seine Enfant terrible-Status loswerden wollte. Schließlich bekannte er sich dazu, dass The Stranger der schlechteste seiner Filme sei. Zudem hätte man 30 Minuten geschnitten, die Welles selbst geschrieben hatte (eine Verfolgungsjagd in Argentinien). Aber wie so oft tragen die ungeliebten Kinder ungeahnte Qualitäten in sich.

Der Film spielt in einer paranoiden Nachkriegswelt, die kurzerhand in die amerikanische Kleinstadt Harper verlegt wird. Dort ist der kauzige Detective Wilson (ein methodisch-gelassener Edward G. Robinson)auf der Suche nach dem geflohenen Nazi-Drahtzieher Franz Kindler. Dieser hat inzwischen eine neue Identität angenommen, Charles Rankin und heiratet die Tochter des Richters, äußerst nervig dargestellt von Loretta Young. Welles gibt den Nazi selbst und auch wenn ihm das Deutsche nicht wirklich liegt, so liegt ihm doch das Dunkle und Bedrohliche. Einmal erklärt er seiner Frau in einem flüsternd-tödlichen Ton, dass der Hund von nun an eingesperrt werden würde. Man erschrickt fast, obwohl Welles kaum seine Stimme erhöht. Das Zauberwort hier ist Präsenz. Es beginnt ein Katz-und-Maus Spiel zwischen Wilson und Kindler, bei dem der Zuseher immerzu etwas mehr weiß, als die Figuren. Das bedeutet nicht, dass wir uns hier unbedingt auf Hitchcock-Terrain bewegen, denn zu dominant sind die verleugneten, vergessenen und erfundenen Identitäten, die Welles immer wieder heimsuchen. Sie finden sich vor allem auf seinem eigenen Gesicht, dass jeder Zeit oszilliert zwischen völliger Panik, berechnendem Charme und Zärtlichkeit. Zudem war die Nazi-Thematik, die für uns heute etwas ermüdend wirken könnte damals tatsächlich innovativ in Hollywood. The Stranger gilt als erster Hollywoodfilm, indem Bilder aus den Konzentrationslagern zu sehen waren.

Orson Welles und Loretta Young

Dennoch sind die etwas arg einfache Gut-Böse Unterscheidung und die stark simplifizierten Vorgänge, kaum zu ignorieren. Weder erreicht der Film jenen labyrinthischen Rausch, der die Existenz einer Story sonst bei Welles oft obsolet macht, noch sind die Figuren und ihre Welt in sich jederzeit glaubwürdig. Die Sinnlichkeit, die man sucht, liegt vielleicht wo anders, in der Heimeligkeit des Films, der Simplizität, die in ihrer Dichte immer wieder den Silhouettenrausch von Welles antizipiert, aber sich nie völlig darin verliert. Ein Bemühen um Schlichtheit tut dem Ganzen nicht wirklich weh, denn das aufgeladene Thema des Films würde kaum mehr visuelle Macht vertragen. Und doch scheinen sie immer wieder durch die langen Sequenzen ohne Schnitt (zum Beispiel in einer bemerkenswerten Szene im Wald), die extravaganten Top-Shots, Weitwinkelaufnahmen in einer expressionistischen Perfektion, die in der Uhr, für die Franz Kindler einen tödlichen Fetisch hat, gipfelt, in einer herrlich überzogenen Schlusssequenz.

Besonders in Erinnerung bleibt eine Leiter, die durch geschickte Objektivwechsel immer gefährlicher und höher wirkt. Sie führt in den Glockenturm der Kirche, hinauf zur Uhr, dort wo selbstverständlich das Finale des Films stattfinden muss. Dort finden sich nicht nur das zweite entscheidende Objekt, die Uhr, sondern dort zeigt sich auch die Poesie von Welles, wenn er beispielweise Tauben durch das Bild huschen lässt im Atemzug eines Gegenschusses, der bei ihm immer mit extremen Respekt für Zeit und Raum einer Szene eingesetzt wird. Die manipulierenden Effekte kreiert Welles möglichst selten mit Montage, sondern mehr mit Licht&Schatten, Kameraperspektiven, Bewegungen und seinen Objektiven. Auch das überlappende Tondesign ist bemerkenswert. So hören wir die Uhr immer wieder und auch das krachende Holz der Leiter, obwohl wir gar nicht im selben Raum sind. Die Uhr selbst läuft rückwärts, vorwärts, sie wird repariert, es ist die Zeit, die einen einholen wird, die einen vielleicht überholen wird, von der sich Kindler wünscht, dass sie zurückkehrt. Es ist die Zeit, die man nicht vergessen kann und es spricht für Welles, dass er diese Symbolik bis zur materiellen Schmerzgrenze auslotet und die Uhr tatsächlich zu einem Charakter werden lässt, denn die Teufel der Zeit sind letztlich zwar albtraumhafte Gestalten, aber voller Gerechtigkeit.

Welles

Der Film ist public domain und kann unter anderem hier legal angesehen werden:
https://archive.org/details/TheStranger720p

Trotzdem hat man ihn nur im Kino wirklich gesehen.

Three Men of Wisconsin: The Intimate Stranger und Eva von Joseph Losey

Die große, überraschte Begeisterung über die beiden äußerst gelungenen Werke The Prowler und The Criminal von Joseph Losey ist schon wieder verflogen. Man bemerkt einfach mal wieder, wie sich der Eindruck, den man von einem Filmemacher hat, während einer Retrospektive schlagartig verändern kann. Nach dem langweiligen Blind Date standen mit The Initimate Stranger und Eva zwei weitere problematische Filme auf dem Programm, wenn auch aus völlig unterschiedlichen Gründen. Beide Filme handeln gewissermaßen von den Geheimnissen und Nicht-Geheimnissen von mehr oder weniger erfolgreichen Filmschaffenden (im ersten Fall ein Cutter become Producer und im zweiten Fall ein Autor). Losey drückt den beiden Figuren seine bekannte Portion Ambivalenz in die Handlungen, sie sind beide schuldige Opfer, wenn man so will. Dabei spielen in beiden Fällen geheimnisvolle Frauen eine entscheidende Rolle. Sie eröffnen einen psychologischen Kampf zwischen den leidenschaftlichen Abenteuern und der häuslichen Ehe, die in diesen Fällen eng an eine erfolgreiche Karriere geknüpft ist. Stilistisch könnten die beiden Werke unterschiedlicher kaum sein. Sie zeigen, wie sich Losey in verschiedenen Phasen seines Schaffens mit ganz ähnlichen Stoffen befasst hat.

Eva Jeanne Moreau

Eva

The Intimate Stranger, der in seiner amerikanischen Vorführkopie unter dem Titel Finger of Guilt im Österreichischen Filmmuseum zu sehen war, wählt für diese Konflikte das Muster eines bescheidenen Noir-Films. Wie viele Filme in der Schau, liegt ein Schatten über der Produktions- und Distributionsgeschichte des Films, in diesem Fall ist es wieder die Schwarze Liste, die nicht nur dafür sorgt, dass einige Crewmitglieder unter Pseudonymen im Vorspann auftauchen, sondern auch dafür, dass der bekennende Linke Losey gar nicht als Regisseur aufgeführt wird, sondern Produzent Alec C. Snowden. Auch führt dieser Hintergrund dazu, dass man die Geschehnisse des Films und manchen Dialog durchaus als Kommentar auf die persönlichen Situationen von Drehbuchautor Howard Koch und eben Losey verstehen kann. Es geht um einen Filmschaffenden, der aufgrund eines Skandals in Hollywood nach England flieht, um dort als Produzent Fuß zu fassen. Er heiratet die Frau des Studiobosses und ist mitten in den Arbeiten zu seinem ersten Film, als ihn plötzlich geheimnisvolle Briefe einer unbekannten Frau (Howard Koch war auch der Drehbuchautor von Letter From an Unknown Woman und wenn man nett sein will kann man sagen, dass er mit ähnlichen Motiven spielt) erreichen und nicht nur seine Arbeit in Frage stellen. The Intimate Stranger ist einer jener Filme, deren komplettes dramaturgisches Konzept auf dem Zweifel beruht. Zweifel an der Wahrheit, Zweifel an den Figuren, Zweifel daran, dass wir alles gesehen haben. Das Begehren eines neuen Lebens hängt immer an den Schatten der Vergangenheit. Die im amerikanischen Kino jener Zeit so beliebte Flashback-Struktur erlaubt einen erträglichen Umgang mit dieser Flucht vor der Vergangenheit. Allerdings wirkt der Film stellenweise unheimlich müde. Losey, der gerne in Halbtotalen inszeniert, als wäre sein Kino in den Anfängen des Erzählkinos steckengeblieben (das ist natürlich extrem zugespitzt, denn seine leichten Schwenks können in anderen Filmen auch durchaus einen spannenden Umgang mit Framing, Perspektive und Off-Screen erzeugen), treibt es hier auf die Spitze. Unmotivierte Blicke in Räume, in denen ohne besondere Bewegungschoreographie, ohne spannendes Set-Design oder sonst irgendwelcher Elemente, Dialoge herunter gesprochen werden. Zudem fällt der fast durchgehende Verzicht auf ein Sounddesign auf, der uns wohl dabei helfen soll, dass wir uns auf das Drama fokussieren und nicht doch zufällig von der Welt um das Drama herum abgelenkt werden. Nichts ist wirklich schlimm, alles ist sehr unbedeutend. In dieser Neutralität verliert sich auch die durchaus gegebene Möglichkeit, Spiele mit der Erzählperspektive oder der Wahrnehmung zu treiben. Das ändert sich in den letzten Minuten des Films, die plötzlich zu einem expressionistischen Reigen mit doppelten Boden und Meta-Ebene werden. Ein wahrhaft wachrüttelnder Move, den Losey hier wagt. Eine Maschinengewehr-Attrappe, ein herrlich ambivalenter Zeitlupenkuss, eine Frau rennt durch ein dunkles Filmstudio. Plötzlich sehen wir das Leiden in den Gesichtern, der Film entwickelt jene Notwendigkeit, die ihm die gesamte Laufzeit zuvor gefehlt hat.

The Intimate Stranger

The Intimate Stranger

Notwendigkeit ist dann auch das Stichwort, wenn man sich mit Eva beschäftigt. Dort kann man Losey mit Sicherheit nicht vorwerfen, dass er einen müden Stil wählen würde, denn alles ist hier im Hochglanzlook des europäischen Kunstkinos gehalten. Referenzen zu Filmen von Antonioni, Fellini oder Resnais inklusive, ein Fest für die Augen, das nicht müde, aber schnell ermüdend wirkt, da es auf einer unheimlichen Leere gebaut ist, also nicht notwendig ist? Es ist ein schwieriges Thema, denn ich bin der festen Überzeugung, dass Gustave Flaubert Recht hatte, als er Stil nicht als die Verzierung eines Diskurses bezeichnete, sondern als eine Art, die Welt zu sehen. Das bedeutet, dass Stil natürlich jenseits des Inhalts eine Bedeutung hat. Immer wieder bemerke ich in Diskussionen, dass diese Ansicht nicht von jedem geteilt wird. So wird Filmemachern wie Nuri Bilge Ceylan (zum Beispiel sein Climates) oder Andrey Zvyagintsev (zum Beispiel sein Leviathan) vorgeworfen, dass ihr Stil eine leere Hülse ist, der verdeckt, dass darunter eigentlich nichts ist. Ich konnte und ich werde das nie teilen, denn zum einen ist bei den beiden etwas „darunter“ und zum anderen erzählt ihr Stil, selbst wenn er sich bei großen Meistern der Vergangenheit bedient, schon mehr als Inhalt überhaupt könnte im Film. Warum lasse ich mich dann mit Eva von Joseph Losey, der zum ersten Mal in Österreich in seinem Director’s Cut, ermöglicht durch das Niederländische Filmmuseum gezeigt wurde, zu einer ganz ähnlichen Feststellung hinreißen?

Vielleicht liegt es daran, dass Stil für mich ganz nah am Begriff der filmischen Form liegt. Und formal ist Eva mindestens genauso flach wie inhaltlich. Die einzelnen Bilder, die allesamt äußerst schön sind, fügen sich weder zu einer größeren Wahrheit, noch zu einer filmischen oder formalen Wahrheit zusammen. Es gibt kaum durchgehaltene Motive in der Form, keine Sinnlichkeit oder Bedeutung, die sich über das Zusammenspiel der Bilder und Töne generiert. Alles existiert nur, weil es schön ist und damit kann man den Film erschreckenderweise durchaus mit Ryan Goslings Lost River vergleichen, über den ich kürzlich schreiben musste. Ein Filmemacher ist hier begeistert von einer gewissen Attitüde, einem gewissen Stil, aber er hat überhaupt keine Mittel, um diesen wirklich umzusetzen, zumal ihm auch der passende Inhalt fehlt, denn in Eva geht es schlicht um eine noirige, banale Dreiecksgeschichte vor dem Hintergrund des Filmbusiness. Das Setting (Venedig, Rom) ist hier das Setting, weil es gut aussieht. Überall gibt es Masken, Kostüme und Statuen, aber weder im Exzess wie bei Orson Welles und seinem Confidential Report, noch über die oberflächliche Wirkung hinaus, dass es sich hier eben um Geheimnisse und Betrügereien geht.

Im Zentrum des Films scheint zunächst der fragwürdige Erfolgsautor Tyvian Jones (Stanley Baker, Mastroianni ohne Brille, mit England) zu stehen, der verloren und betrunken in Venedig dahinvegetiert, ein Mann, der von seinem Sexualtrieb gesteuert wird. Doch bald schon wird klar, dass das eigentliche Zentrum des Films seine große Versuchung Eva sein wird, genauer: Jeanne Moreau, deren Figur und vor allem die Art wie diese Figur gefilmt wird, das ganze Problem des Films in sich trägt. Tyvian lässt sich von der kalten Frau verführen und setzt damit seine Beziehung zu Francesca (Virna Lisi)und früher oder später auch seine erbärmlichen Geheimnisse aufs Spiel. Nun ist es so, dass sich Jeanne Moreau mindestens 50mal im Film freiheitsbetonend durch ihre Haare fährt, sich ständig lasziv um sich wendet, eigentlich zu einer Parodie weiblicher Versuchung verkommt und in mancher Hinsicht von sich selbst. Vielleicht hat Losey versucht, mit Moreau das Spiel von Catherine Hessling in Nana von Jean Renoir zu kopieren? Je länger Losey sie filmt, desto mehr Seele raubt er dieser Figur und dieser Schauspielerin. Er scheint einer Art cinephilen Notizbuch zu folgen, indem alle Ideen dafür stehen, wie man Jeanne Moreau besonders gut aussehen lassen könnte. Ja, ich sehe, dass man damit kein Problem haben muss, aber die wahre Größe dieser Darstellerin wird dadurch auf eine derart platte Oberfläche reduziert, die eben beweist, dass Begehren im Film nicht über Offenbarung erzeugt wird, sondern über Zurückhaltung. In Eva hat man das Gefühl, dass Losey sich zu sehr in der Rolle des italienischen Kunstfilmers gefällt, eine Rolle, die er zumindest zu diesem Zeitpunkt noch nicht spielen kann.