Über das Filmische bei Ludwig Wittgenstein

Text auf Englisch zuerst hier erschienen: Views and Thoughts of the Cinematic with Ludwig Wittgenstein

Auch Ludwig Wittgenstein (1889-1951) ist gerne ins dunkle Kino gegangen. Zur allabendlichen Entspannung gönnte er sich in Wien die neuesten amerikanischen Westernfilme. Interessanterweise hat er dazu nichts detailliert Schriftliches hinterlassen. In der umfangreichen, sogenannten Sekundärliteratur, finden sich einige Angewohnheiten Wittgensteins, die einem interessierten Leser sofort das Wort „Cinephiler“ eingeben. Der folgende Text sieht sich als frei inspirierendes Teilstück zum facettenreichen Charakter Wittgensteins und inwiefern gewisse Angewohnheiten seinerseits als filmisch zu bezeichnen sind.

Mix
Ludwig Wittgenstein entwarf und baute zusammen mit Paul Engelmann von 1926-1928 im 3. Wiener Gemeindebezirk das Wohnhaus für seine Schwester Margarethe Wittgenstein-Stonborough. Heute ist dort das Bulgarische Kulturinstitut beherbergt. Zu den von Moritz Schlick montäglichen gegebenen Abendessen während jener Zeit und den damit verbundenen inspirierenden Gesprächen gibt es wohl keinerlei Aufzeichnungen. Ebenso wenig wie zu dem Grund des Zuspätkommens zu selbigen. Wohl um sich von der nervenaufreibenden Arbeit und der Entwicklung des Gebäudes zu entspannen, besuchte Wittgenstein gerne die in der Nähe liegenden Wiener Kinos. Zumindest dann, wenn sich ein Western auf dem Spielplan fand. Von Marie Kaspar-Feigl, der Ehefrau des österreichischen Philosophen Herbert Feigl, soll denn auch der hübsche Scherz stammen, daß „Ludwig heute etwas später kommt“. Denn Ludwig wird wohl erst noch ins Kino gehen.

Der Gedanke, Wittgenstein eher etwas uninspiriert mit dem Kino in Verbindung zu bringen, kam mir aber erst, als ich einmal darüber las, wie er besonders gerne in Hotelzimmern oder in Gästezimmern von Freunden und Bewunderern die dortigen Fensterscheiben seiner jeweiligen Unterkunft mit schwarzem Klebeband, welches 1927 auf den britischen Markt kam, solange abklebte, bis ihm die Aussicht behagte. War erst einmal die Benutzung eines Fensters geklärt, etwa als Aussicht über einem Schreibtisch, maß er genau ab, wie er zu kleben hatte, um die Dinge da draußen so erscheinen zu lassen, wie er es drinnen haben wollte. Also: Der Baum links am Fensterrand stört? Abkleben. Der Horizont nimmt viel zu viel Raum ein? Abkleben. Die Treppe rechts erdrückt den Gesamteindruck beim Hinausschauen? Und noch mal abkleben. Nichts anderes ist hier zu erkennen, als die künstlerische Gestaltung und Gewichtung der Regie und der Kamera am Drehort, um den passenden Bildausschnitt zu erarbeiten, beziehungsweise genau zu planen: das Kadrieren.

„Sehen Sie mal, wie anders der Raum wirkt, wenn die Fenster die richtigen Proportionen haben. Sie glauben, die Philosophie sei ein schwieriges Geschäft, aber ich kann Ihnen sagen: Verglichen mit der Schwierigkeit, ein guter Architekt zu sein, ist das gar nichts. Als ich in Wien das Haus für meine Schwester baute, war ich nach Feierabend jedes mal so völlig erschöpft, daß ich nichts mehr unternehmen konnte, außer, daß ich jede Nacht in den Kintopp ging.“ Hin und wieder von Engelmann begleitet, saß Wittgenstein dann also gerne in der ersten Reihe eines dunklen Kinosaals. In den beiden Jahren während seiner architektonischen Arbeit in der Argentinierstrasse, im Wohnsitz der Familie lebend, waren es vor allem Western mit dem amerikanischen Filmschauspieler Tom Mix, die es ihm angetan hatten. An sich selbst endlich einmal die Seite eines echten Handwerkers entdeckend, bot ihm der amerikanische Western genug Stoff an wilden Erlebnissen von echten wilden Kerlen, den Cowboys. Später am Trinity College in Cambridge sollte er diese doch recht entspannte Leidenschaft in der ersten Sitzreihe weiterverfolgen. Und ebenfalls recht entspannt: nichts dazu notieren.

Zum „Street & Smith’s Detective Story Magazine“ und da vor allem zu den Kriminalgeschichten von Norbert Davis, da war das ganz anders. Nicht nur, daß Wittgenstein, was die kleinen Heftchen angeht, einer wahren Sammelleidenschaft verfallen war. Die einfache Sprache und die simplen Handlungsbögen von Gut und Böse in den brutalen und weltfremden Detektivgeschichten von Davis lassen sich gut und ohne schlechtes Gewissen auf die Tom Mix-Vorliebe von Wittgenstein übertragen.

Nun, den Cowboy Tom Mix umgab durchaus sicht- und spürbar die Aura des Realen und Handfesten. Tom Mix, der Gute im ewigen siegreichen Kampf gegen das Böse. Daß er dabei stets von seinem von ihm selbsttrainierten Pferd namens Tony fachkundig und kommentarreich begleitet wurde, war eine familientaugliche Zugabe zum wilden Genre. Diese wortreiche bzw. gestenreiche Kommunikation mit seinem weißen Pferd, schließlich befinden wir uns noch in der Ära des Stummfilms, sollte Mix dann auch mitsamt seinem Konzept von „Pferd und Reiter“ am Tonfilm scheitern lassen. So bereiste er zum Schluß die Wildwestshows des Landes und blieb dem Film weiterhin als Pferdetrainer und Stuntexperte verbunden. Als professioneller und erfolgreicher Rodeoreiter kam Mix im Jahr 1909 nach Hollywood zum Film, um dort zunächst als Berater und Stuntman tätig zu sein und um später dann, seines guten Aussehens wegen, auch endlich als Schauspieler zu arbeiten. Mix gab meist den einfachen, ehrlichen Cowboy; ein wenig Liebe und eine schöne Farm, oder den hart umkämpften und sehnlichst erwünschten Reichtum (um sich dann schlußendlich doch noch eine Farm kaufen zu können) nach einem überstandenen Duell. Waghalsige Pferdestunts und orkanartige Wetterunbill inklusive. Aber was gab es da nicht alles auf der Leinwand zu sehen, im Kino in der ersten Reihe. Etwa im Maxim Bio oder im Lichtspiele Wieden, beide in der Favoritenstrasse gelegen. Oder im Schikaneder in der Margarethenstrasse? „Let’s go and case the joint!“

Tom Mix
Etwa Silver Valley von Benjamin Stoloff. Mix läßt hier nichts unversucht, seine entführte Liebste zu retten. Diverse Rettungspläne werden natürlich zuerst mit seinem Pferd Tony abgesprochen. Als optischen und auch dramatischen Höhepunkt kann man in diesem Film wohl das Anheuern eines kleinen Flugzeugs ansehen, mit dem Mix das entsprechende Areal in der Wüste überfliegt, um den Aufenthaltsort seiner Angebeteten ausfindig zu machen. Diskussionen mit seinem Pferd lassen sich dennoch für ihn nicht umgehen. Aber selbiges hat am Ende dann doch die Einsicht, daß ein weibliches Wesen auf zwei Beinen keine wahre Konkurrenz bedeuten kann.

Oder The Last Trail von Lewis Seiler. Hier muß sich Mix bei einem wilden Postkutschenrennen siegreich behaupten. Dies nicht etwa, um das Herz einer Dame zu erobern, sondern um sich von dem Verdacht zu befreien, er habe die häufigen Postkutschenüberfälle der letzten Zeit zu verantworten. Hier ist zwar keine Liebste zu retten, aber alte Freundschaftsbande werden neu geknüpft. Während Mix nämlich immer noch auf dem Weg durch die Prärie ist, erreicht ihn die Nachricht, daß sein Patenkind nun 10 Jahre alt ist und die Eltern eine Wiedervereinigung wünschen. Das gutgelaunte Pferd Tony ist natürlich mit von der Partie.

Da wäre auch The Great K&A Train Robbery von Lewis Seiler. Hier wandern wir mit Mix von der Postkutsche zur Eisenbahn. Selbige wird allzuhäufig überfallen und unser Held wird gemeinsam mit seinem Pferd angeheuert, die Banditen zu schnappen. Verkleidet als Straßenräuber der etwas luxuriöseren Sorte, nämlich mit weißem Pferd, gelingt ihm das natürlich auch und schnell ist der Sekretär des Chefs als Drahtzieher und Unhold enttarnt.

Oder vielleicht doch Ranson’s Folly von Sidney Olcott? Der deutschsprachige Verleihtitel ist hier wieder einmal mehr als irreführend. Der amerikanische Stummfilmstar Richard Barthelmess gerät als Offizier zwischen die Fronten: er muß und kann den Vater seiner Liebsten retten, der unschuldigerweise in die Jagd nach einem Verbrecher mit dem klangvollen Namen „Red Rider“ verwickelt wird. So setzt sich Barthelmess die rote Maske auf, um den wahren Mörder aus seinem Versteck zu locken. Natürlich werden Menschen und auch Masken am Ende zusammenfinden.

Und The Spook Ranch von Edward Laemmle? Offenkundiger Rassismus wurde dem Film erst viel später vorgeworfen. Den dümmlichen Humor konnte man dem Film sofort nachsagen, sehen wir doch Hoot Gibson als ärmlichen Cowboy mit dem vieldeutigen Namen Bill Bangs, der in einem Wutanfall dem chinesischen Koch eine massive Servierplatte auf dem Kopf zertrümmert. Der Sheriff nutzt die verlegene Gunst der Stunde und schickt den zuschlagenden Cowboy nicht ins Gefängnis aber in die Einöde, um eine Ranch zu observieren. Dort spukt es angeblich. Das wilde Treiben auf der Ranch hat aber weniger mit Spuk als mit einer handfesten Entführung zu tun. Die hübsche Helen Ferguson will und kann auch noch gerettet werden. Soviel Liebesschmäh in der Wüste muß hinreichend entspannend gewesen sein.

Schöne Frauen hemmungslos anschauen – manchmal möchte man meinen, daß dies der alleinige Grund war, die große Leinwand und die Kunst und das Handwerk des Filmemachens zu erfinden. Das Betrachten schöner Menschen und Landschaften, optisch ansprechender Lichteinflüsse und architektonischer Besonderheiten: Kino ist nichts anderes. Die dazugehörige Geschichte bekommen wir als Alibi gleich mitgeliefert. Das Schauen muß ja auch einen Sinn haben. Vor allem werden die benötigten Gegebenheiten fachkundig konstruiert. Wittgenstein organisierte sich diese Grundeigenschaft des Kinos im täglichen Leben auch schon mal selbst. Ein versonnenes und zutiefst genossenes weiteres Kreieren, um damit nicht selten auf Unverständnis zu stoßen.

Das Schauen der Schönheit, der Bewegungen einer schönen Frau folgend, der Wunsch nach stetiger Wiederholung und schließlich der offensichtliche Unmut über die allzu simpel erscheinende Realität (die Dame ist Engländerin!): auch hier ist das Kino ein Vorbild. Von der konstruierten Schönheit einer Bilderfolge zeigte sich Wittgenstein auch außerhalb des Kinos begeistert: vorzugsweise erstand er bei Woolworth billige kleine Kameras und klebte dann die entstandenen Fotos in kleine Notizbücher und folgte dabei seinem ganz eigenen Anordnungsprinzip einer inneren oder äußeren Geschichte. Um dabei alles auf das von ihm gewünschte Format zu bringen scheute er auch nicht vor dem Gebrauch einer Schere zurück. Sein Interesse galt dabei in erster Linie dem Porträt, er fertigte gerne auf seinen Reisen Fotos an, die er dann in einer narrativen Abfolge in besagte Büchlein klebte.
Nach der Kadrierung finden wir hier also abschließend das Prinzip des Filmschnitts. Denn:
„Die Arbeit des Philosophen ist ein Zusammentragen von Erinnerungen zu einem bestimmten Zweck.“