Coming-of-Age-Filme, denen die Berlinale ihre diesjährige Retrospektive gewidmet hat, sind Filme über das Werden. Sie werfen ihren Blick auf den bedeutsamen wie flüchtigen Übergangszustand des Heranwachsens, für den das Auge der Kamera wie gemacht zu sein scheint. Doch nur die wenigsten dieser Filme setzen sich der Fragilität und Ambivalenz der Alterungsprozesse in dieser Zeitspanne wirklich aus. In den meisten Fällen wird das Werden vielmehr aus der allzu sicheren Distanz eines Geworden-seins betrachtet. So wie nahezu jeder Coming-of-Age-Film durchweg von Erwachsenen geschrieben, gedreht und geschnitten wurde, so spielt der Prozess des Heranwachsens in der Regel erst dann eine Rolle, wenn die Schwelle des Erwachsenseins überschritten ist. Der Veränderung wird ihre Bedeutung erst retrospektiv verliehen, wenn sie sich in der Erzählung der gelernten Lektion, des gereiften Lebens weiß. Es verwundert nicht, dass sich das Genre im Wesentlichen in den USA ausdifferenzierte, wo jeder Drehbuchratgeber vom Mythos der linearen Charakterentwicklung fabuliert. Der auf den ersten Blick in der Berlinale-Retrospektive deplatziert wirkende Groundhog Day steht in diesem Sinne emblematisch für die konventionelle Logik des Genres ein. Das Werden selbst, das Fortlaufen des Tages, stellt sich für Phil Connors (Bill Murray) als Albtraum einer endlosen Dauerschleife dar. Jeder Morgen bietet einen schier unendlichen Spielraum möglicher Entwicklungen, die doch alle ins selbe Nichts münden. Eine Erlösung bietet sich dem zum ewigen Werden Verdammten erst, als er einen bleibenden Sinn für sein Leben findet. Erst nach seiner Transformation vom nihilistischen Zyniker zum geläuterten Liebenden darf er wieder am gewöhnlichen Leben der Gesellschaft teilnehmen. Die zunächst noch unbestimmte Verlaufsform „coming“ wird auf das zu erreichende „age“ hin begradigt.
Unter den zu erreichenden Meilensteinen des Coming-of-Age gehört das Überschreiten der Schwelle zur Sexualität zu den wichtigsten. Kaum ein Moment der Lebensgeschichte wird ähnlich stark mystifiziert wie das „Erste Mal“. Schon der Name verkürzt einen oft mehrjährigen und widersprüchlichen Entwicklungsprozess auf einen einzigen Moment, mit dem ein ganzer Lebensabschnitt enden und ein neuer beginnen soll. Die Figuren in The Last Picture Show von Peter Bogdanovich kreisen um diesen Augenblick, der ihre Bewegungen lenkt wie ein Gravitationsfeld. Dabei ist der eigentliche Vorgang weniger von Bedeutung als die Ausrichtung auf ihn, seine Antizipation in den Fantasien der Adoleszenz auf der einen, wie sein Nachhallen in der Erinnerung der Eltern auf der anderen Seite. Als das große Ereignis für Duane (Jeff Bridges) und Jacy (Cybill Shepherd) endlich bevorsteht, erweist es sich als Traumgebilde. Sie finden an einem abgelegenen Motel zusammen, weit entfernt von der Enge ihrer Kleinstadt. Die Kamera wartet mit ihm vor der Tür auf ihre Erlaubnis, die Schwelle übertreten zu dürfen. Zweimal enthüllt sich der Blick auf sie aus seinem Point-of-View – erst mit dem Öffnen der Tür, dann beim Aufknöpfen ihres Nachthemdes. Beide Male wird ein das Bild verdeckender Vordergrund wie ein Vorhang beiseitegeschoben. Der dahinter verborgene Körper erscheint sowohl wie ein verbotener Anblick, wie auch als zur Schau gestelltes Objekt der Begierde. Auch sie versucht eher der Realität zu entfliehen in diesem Moment, der ihr eigentlich eine neue Wirklichkeit offenbaren sollte. Eins, zwei, drei Mal schließt sie die Augen, jedes Mal ein wenig stärker, als würde der große Moment dadurch schneller in Erfüllung gehen. Doch es passiert nichts. „I don’t know what happened“, stammelt er wieder und wieder, während sie bereits um Schadensbegrenzung der gescheiterten Initiation bemüht ist: „Don’t go out there! We haven’t had time to do it. They’d know! I don’t want one soul to know. You’d better not tell one soul! Just pretend it was wonderful!“ Beim Weg nach draußen wird sie tatsächlich von zwei Klassenkameradinnen erwartet, die alles über den geheimen Vorgang wissen wollen, der nicht stattgefunden hat. Jacy rettet sich aus der Situation, indem sie behauptet, ihre Erfahrung nicht in Worte fassen zu können. Sie vertieft damit den Eindruck einer absoluten Grenze zwischen sich und den anderen, obwohl sie durch ein Nichts voneinander getrennt sind.
Die Bewegung des Coming-of-Age besteht in diesem ständigen Aufstellen und Überschreiten von Grenzen, die nie einfach gegeben und immer brüchig sind. The Last Picture Show erzählt davon, wie konstruiert jede Vorstellung einer absoluten Grenze ist, die allein über innerhalb oder außerhalb der Sexualität entscheiden soll. Der Film entfaltet ein ganzes Panorama wirklicher und imaginärer Grenzverletzungen, die mal diesseits, mal jenseits des „Ersten Mals“ liegen, aber in ihren Auswirkungen nur selten vorhersehbar sind. Jacys und Duanes Erfahrungswelten finden beim zweiten, erfolgreichen „Ersten Mal“ nicht etwa zusammen, sondern brechen endgültig entzwei: Er sieht sich bloß in der eigenen Potenz bestätigt, für sie scheint der Geschlechtsakt nur noch der Form halber vollzogen worden sein. Ein eigenes Bild bekommt Sex für sie erst im One-Night-Stand mit einem älteren Mann, durch das sie schlagartig in die Desillusionierung geworfen wird, die ihre Mutter schon lange auf sie projiziert hatte. Alles ändert sich, doch kann die Veränderung nie im Vollzug erfasst werden. Zu Bewusstsein kommen sie und ihre Bedeutungen erst im Nachhinein, mit der Schwere einer überwältigenden Melancholie über all die verpassten Möglichkeiten des Lebens. Immer schiebt sich ein resignatives Zu-spät oder ein verfrühtes Noch-nicht vor den Blick auf das Werden selbst.
Umso bemerkenswerter ist ein Film wie À nos amours von Maurice Pialat, der sich der Offenheit und Unbestimmtheit des Werdens völlig ausliefert. Auch das Leben von Suzanne (Sandrine Bonnaire) dreht sich um Sexualität, doch lässt sich ihr Handeln unmöglich in eine Entwicklungslogik zwängen. Ihre sexuelle Erweckung liegt bereits in unbestimmter Vergangenheit, von Beginn an navigiert sie sich durch ein verworrenes Beziehungsgeflecht mehrerer Liebhaber. In ihren Interaktionen mit den verschiedenen Männern können Momente der Unabhängigkeit kaum von solchen toxischer Manipulation unterschieden werden. Im Umgang mit dem eigenen Körper schwankt sie zwischen Selbstbestimmtheit und kindlicher Naivität. Unmöglich zu entscheiden, wann sie sich noch diesseits, wo schon jenseits des gesellschaftlich Erlaubten bewegt. Ein klares Bild ihrer Identität versuchen höchstens die Anderen von ihr zu gewinnen. Die Mutter, die sie als Sünderin verteufelt – der Bruder, der ihr seine Autorität aufzwingen will – die Liebhaber, die sie idealisieren – und all die anderen Männer, die sie permanent umzingeln wie ein Insektenschwarm. Jeder dieser Projektionen übt Gewalt auf sie aus und scheitert doch an der sturen Unbestimmbarkeit von Suzannes eigenem Verhalten. Die Reaktionen ihres Umfelds verkehren sich ständig in ihr Gegenteil, Gesten der Zuneigung schlagen blitzartig um in exzessive Gewalt. Auch Pialat selbst scheint unfähig – oder unwillig – eine Haltung zu dem Geschehen zu entwickeln, die richtig von falsch, gut von schlecht zu trennen wüsste. Das gilt sowohl für seine Funktionen als Regisseur und Ko-Autor des Films als auch für seine Rolle innerhalb der Handlung als Vater Suzannes. Als einziges Familienmitglied ist er in der Lage zu einem vertrauten Zwiegespräch mit ihr, doch führen diese nicht zu Einsicht oder Umlenken. Von ihm geht der erste und letzte Akt häuslicher Gewalt aus. Überhaupt ist der familiäre Raum immer anfällig für plötzliche Eskalationen. Türen stehen offen, Arbeitsfläche und Privaträume gehen nahtlos ineinander über, Menschen gehen beliebig ein und aus. Am Ende kann der Vater nach monatelanger Abwesenheit problemlos mit dem alten Schlüssel durch die Eingangstür hereinspazieren, weil sich niemand die Mühe gemacht hat, eine neue Grenze zu ziehen. Die permanenten Kollisionen sind hier kaum mehr als eine unausweichliche Konsequenz eines Zusammenlebens, in dem es keinen sicheren Rückzugsort gibt, wo die einzige Möglichkeit zur Abgrenzung in der Konfrontation liegt.
Dieses radikale Werden, in dem jeder Zustand prekär bleibt, jede Entwicklung ins Ungewisse führt und kein Ziel in Aussicht gestellt werden kann, macht À nos amours zu einer oft unerträglich schmerzhaften Erfahrung. Suzannes unermüdliches Aufbegehren gegen ihre Umgebung wird begleitet von einer tiefen Depression, die sie fast taub macht für das eigene Erleben. Der Film behauptet bis zum Schluss – und ohne die Illusion seiner Idealisierung – den Zustand permanenter Grenzüberschreitung, von dem alle Coming-of-Age-Filme handeln, obwohl die meisten von ihnen vor allem an seiner Überwindung interessiert sind. Denn am Ende liegt der größte Grenzübertritt des Genres im Erwachsenwerden selbst, mit dem der transgressive Akt selbst hinter sich gelassen werden soll.