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„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Viennale 2017: La Nuit où j’ai nagé von Kohei Igarashi & Damien Manivel

Jacques Rivette stellte einmal die Behauptung auf, dass viele gute Filme mit einer Abwesenheit beginnen. Kohei Igarashi und Damien Manivels La Nuit où j’ai nagé ist ein solcher Film. Der Abwesende ist ein Vater. Er kommt spät in der Nacht nach Hause, nachdenklich rauchend im Halbdunkel, in einer der vielen an Ozu erinnernden Einstellungen des Films, und früh am nächsten Morgen bricht er wieder auf zu seiner Arbeit an einem Fischmarkt. Es ist eine stille Abwesenheit, weil sie wie alles im Film ohne die Kraft von Worten auskommt. Seine Frau, seine Tochter und sein Sohn (weniger gespielt als gewesen von Takara Kogawa) sehen ihn (zumindest scheint es so) kaum. Das und die damit verbundenen Gefühle wie die Einsamkeit und Freiheit des Kindseins ist der erste Ausgangspunkt des Films. Der zweite ist die Landschaft der Aomori Präfektur im Norden der südlichen Insel Japans. Eine Region, die für ihre lang anhaltenden Schneefallperioden bekannt ist. Aus diesen beiden Voraussetzungen schaffen die beiden Filmemacher, die sich über die Liebe zum Kino und den Respekt ihrer jeweiligen Arbeit fanden, das Bild einer Reise, die traumwandlerisch und ernüchternd zugleich wirkt.

La nuit ou j'ai nagé
Igarashi und Manivel folgen dem Jungen nach einer schlaflosen Nacht in einen Tag, an dem er auf dem schneebedeckten Weg zur Schule einen anderen Weg einschlägt und sich auf die Suche nach dem Fischmarkt seines Vaters macht, um ihm eine Zeichnung zu bringen, die er in der Nacht angefertigt hat. Dabei folgt La Nuit où j’ai nagé dem Kindsein in Gefühlen und Bewegungen. Wenn Takara eine Orange isst, ist das ein kleines Ereignis und wenn er über die Straße laufen will, dann ist das eine große Sache. Er scheint alles machen zu können, aber für nichts wirklich bereit zu sein. Die Kamera ist nah an der unbedarften und doch etwas verlorenen Verspieltheit des jungen Darstellers, begleitet ihn in seiner körperlichen Überforderung genauso wie in den Momenten staunender Begeisterung. Wie Abbas Kiarostamis Where Is the Friend’s Home? oder Hou Hsiao-hsiens A Summer at Grandpa’s gibt es im Film ein interessantes Wechselverhältnis zwischen dem Blick des Kindes und dem, der Erwachsenen, die einen Film über ihn machen. Man achte beispielsweise auf die Art und Weise, in der Igarashi und Manivel den Vater filmen. Zwar sieht ihn der Sohn nicht, aber dennoch könnten die etwas unwirklichen Silhouettenbilder auch den Augen oder der Fantasie des Jungen entsprechen. Der Film lässt ein Sehen zu, das durchgehend von dem eines Kindes inspiriert ist. Entfernungen wirken weiter, die Welt wirkt größer, aber auch näher, Begegnungen wirken relevanter und alltägliche Handlungen spektakulärer. Die Stille des dialoglosen Films ist nie erdrückend, sondern immer wie das leere Blatt Papier einer entstehenden Neugier oder aufgelösten Sehnsucht auf der Suche nach dem Vater. Es ist eine gleichzeitig zielgerichtete und verlorene Liebe des Jungen, dessen Ausdruck von Zärtlichkeit, wie ein zu leiser Schrei in den Bergen, vom Schnee verschluckt werden könnte. Dabei läuft der Film bei aller Simplizität hier und da Gefahr etwas zu sehr in seine Strategie der kleinen Wunder verliebt zu sein. Einen wirklichen Kleinkunstcharakter bekommt das ganze jedoch niemals, weil es dazu um zu viel geht, zu viel, was unter der Oberfläche schlummert, zu viel, was abwesend ist.

Für Manivel ist der Film ein konsequenter Schritt. Nach seinen großartigen Un jeune poète und Le parc scheinen seine Protagonisten rückwärts zu altern. Immer geht es um das Begehren eines jeweiligen Alters. Der junge Möchtegern-Poet, die verliebte Teenagerin und nun der Junge, der seinem Vater eine Zeichnung bringen will. Es wäre leicht, darauf herabzublicken, aber Manivel evoziert stattdessen den Geist vergessener Gefühle. In allen Fällen lässt er seinen jungen Protagonisten Freiheiten, die diesen Blick auf Jugendliche oder Kinder nie konstruiert wirken lässt. Stattdessen scheint viele im Augenblick zu geschehen und manche Idee aus der Fantasie von Takara zu stammen. Dadurch ergibt sich in den stärksten Augenblicken ein Bild absurder Unschuld, etwa als der Junge beim Orangenessen einen Handschuh verliert oder in der Art und Weise, in der er seinen Schulranzen schließt und trägt. Letztere Handlung ist so gelungen, dass man getrost behaupten kann, dass Michael Ceras bis dato unerreichte Technik des Schulranzentragens in Superbad schauspielerische Konkurrenz bekommen hat. Inwiefern sich der Film in Igarashis Filmografie eingliedern lässt, kann ich nicht beurteilen, da ich seinen Hold Your Breath Like a Lover nicht sehen konnte. Es ist jedenfalls eine gleichberechtigte Zusammenarbeit, wenn man den Aussagen der Filmemacher folgt.

Vieles im Film dreht sich auch um die schneebedeckte Landschaft. Sie drückt sich beständig in die Bilder, ist eine eigenständige Präsenz, die immer auf die Handlungen Einfluss nimmt. Die Landschaft erzählt auch von einer anderen Abwesenheit, nämlich jener des Frühlings, der nur im wiederkehrenden Vivaldi-Motiv im Film steckt. Aomori heißt übersetzt der blaue oder grüne Wald. Diese Farben finden wir nur auf der bunten Jacke des durch den Schnee stapfenden Jungen. Der Film beginnt mit einem stillen Bild durch das Schwarz gleitender Schneeflocken, es wirkt friedlich, aber bei genauerer Betrachtung bringt der Schnee nicht viele Vorteile mit sich. Es geht den beiden Filmemachern aber niemals um irgendeine Form von Bewertung. Vielmehr sind sie an einem Ist-Zustand interessiert. Dafür spricht, dass sie auch mit den tatsächlichen Eltern des Jungen arbeiteten. Nicht, was es bedeutet so oder so zu leben ist interessant, sondern wie es aussieht, wenn man so lebt und im Fall von Takara eben träumt. In diesem Ist-Zustand dringt das Kino dann in die Abwesenheiten und macht sie in einer berührenden Stille greifbar.