Auf meinem Weg durch den ersten Bezirk gehe ich, vom Nationalfeiertagsgemenge angetrieben, schnellen Schrittes auf das Metrokino zu. Ich sehe noch das Werbevideo des österreichischen Heers vor meinen Augen, das eine überschaubare Menschenmenge auf der Freyung mit seinen fröhlich-feierlichen Beats überstrahlte – und schallte, als Hans mir zuruft und ‑winkt. Er steht auf der anderen Seite, direkt vor dem bedrohlichen Bundesministerium für Finanzen, ich drehe mich um und wir begrüßen uns schwungvoll. Gemeinsam gehen wir aufs Metro zu, während wir über Reisepläne sprechen und über die Unbequemlichkeit, zu wenig frische Wäsche eingepackt zu haben. Wir sind beide für (Mit Hasan in Gaza) مع حسن في غزّة da, Hans kümmert sich um den Vertrieb des Films und ich habe bisher neugierig darauf gewartet, diesen im Kino zu sehen. Ich weiß, dass er aus Mini-DV Aufnahmen besteht, die der Regisseur Kamal Aljafari in den ersten zwei Tagen des Novembers 2001 in Gaza gemacht hat, nicht viel mehr. Ich erwarte einen Film als Zeug*innenschaft zu sehen, oder eine Art Tagebuch von einer Zeit und einem Ort, die so nicht mehr sind und über die sich längst die Bilder der medialen Gegenwart und ihre Fakten gelegt haben. Nachdem wir (den meisten ist hier mit Teamwork geholfen) die schweren Türen des Metrokinos geöffnet haben (auch wenn sich alle über den Mechanismus beschweren, bringt er einander fremde Kinomitgänger*innen näher, vereint im Bestreben sich in das Gebäude hineinzukämpfen), treffen wir gleich auf eine Runde Kolleg*innen. Hans spricht kurz mit Kamal und verschwindet dann zur Kinokasse, um Tickets zu holen. Ich habe meins bereits dabei und befühle es kurz in meiner Manteltasche, um mich zu versichern. Kamal und ich stehen nebeneinander, ein wenig peinlich berührt neben dem Star meines Nachmittags zu stehen, mache ich einen verlegenen Seitenschritt, ich erwarte, dass er wieder zu seiner Runde zurückkehrt. Aber im Gegenteil, er stellt sich noch weiter zu mir und fragt mich, was ich so mache, fragt weiter nach und sogar weiter. Ich bin überrascht und entgegne zuerst nur knapp. Dass ich in diesem Moment überrascht bin, wird mich viel später, als ich vom Kino nachhause gehe, nachdenklich machen. Selten waren die Smalltalk-Runden, in die ich in den letzten Wochen hineingeschlittert bin, von aufrichtiger Neugier oder entspannter Offenheit geprägt. Eher vom üblichen Filmsmalltalk, meist gehetzt, oder von einem an mehrere Gesprächspartner*innen gerichtetes Geplauder einer Person, die Aufmerksamkeit gewohnt ist und mit dieser umgeben meistens gleich wieder weitereilt. Zeit ist auf Festivals für viele heiße Ware. Ins Leere zu reden, fällt dann, im Stress des hin und her vor und zwischen den Kinos, leichter als neugierig auf unbekannte Menschen zuzugehen, ihnen tatsächlich zu begegnen. Um wirklich interessante Filme zu machen, braucht es aber diese Form von Neugier, denke ich.
Diese Neugier meine ich, als ich kurz danach im Kinosaal sitze, auch in den Aufnahmen von مع حسن في غزّة zu sehen und spüren. Vielleicht projiziere ich das nach meiner Begegnung hinein, vielleicht hat sie mir auch einfach geholfen, diese Haltung klarer zu erkennen. Aljafari führt die Kamera und ist dabei gelegentlich auch im Gespräch zu hören. Manchmal, wenn jemand anderer die Mini-DV-Cam hält, sehen wir ihn, in seiner vierundzwanzig Jahre jüngeren Version. Es sind lediglich vierundzwanzig Stunden, die er in Gaza verbrachte, gemeinsam mit dem titelgebenden Hasan, der ihm Dinge erklärt, ihn von A nach B führt, über den er Leute kennenlernt. Oft lenkt Aljafaris Handgelenk das Objektiv Richtung Boden oder seitwärts: die Aufnahme läuft weiter, etwa wenn Menschen dem Gerät skeptisch begegnen oder von den Israelis kontrollierte Posten, Kameras kritisch beäugen. Andere Male fordern ihn Leute auf, die Geschehnisse zu dokumentieren, etwa die Angriffe Israels während der Waffenruhe oder die Kinder, die spielerisch vor die Linse springen, manche schüchtern, manche voll aufgeregter Neugier. Dazwischen Autofahrten, Trümmerhaufen, das Zuhause von Hasan, ein Marktbesuch, Cafés, der Strand, Grenzposten, Siedlungsgebiete und wenige Schnitte, manchmal Musik. Die ägyptische Sängerin Umm Kulthum oder die – nur kurzzeitig existierende – palästinensische Soft Rockband Silver Stones erzeugen momenthaft eine tröstend-melancholische Stimmung. Ich sinke schwerer in meinen bequemen Sessel und lese die Zeilen, die zwischendurch und am Ende inmitten des Bildes auftauchen und die Hintergründe zu den Aufnahmen erklären. Der Anlass für Aljafaris Gaza-Besuch folgte demnach nicht nur dem Wunsch zu dokumentieren – im anschließenden Gespräch betont er, damals noch kein Filmemacher gewesen zu sein – sondern jemanden zu finden, den er während der ersten Intifada 1989 im Gefängnis kennenlernte (eine Erfahrung, über die Aljafari in السطح - The Roof berichtet). Finden werden sie sich nicht, auch wenn das Objektiv sucht, neugierig auf Record bleibt und abtastet. Dabei sieht es Menschen, über deren Verbleib der Film uns heute genauso wenig verraten kann wie über das des ehemaligen Mitinsassen. Das Sehen eröffnet unsichtbare Leerstellen. Leerstellen, die zerrinnen wie die Granatsplitter zwischen den Fingern eines Mannes, den Aljafari filmt. Die drei Zeit- und Lebensphasen, die sich über den Film legen – 1989, 2001 und die jüngste Gegenwart, die auch schon bald Teil einer Vergangenheit sein wird – erinnern mich daran, dass es nur wenige Filme gibt, die einen wirklich zu Zeug*innen werden lassen. Das Besondere dieser Aufnahmen, ihre Präsenz, liegt auch im Dokumentieren ohne direktes Ziel. Dokumentieren, um zu dokumentieren. Kein Distributionskanal und keine Verwertungskette, die die Mini-DV lenken, keine Förderanstalten, die viel zu früh nach dramaturgischen Verwendungszwecken verlangen. Vielleicht wird daraus auch ein Teil dieser Neugier, die dem Blick innewohnt und die Hände vom Ausschaltknopf fernhält, erfahrbar. Nach dem Ende des Bühnengesprächs, in dem sich das Publikum eher zurückhält, kreisen meine Gedanken. Es ist nicht einfach, nach مع حسن في غزّة über das Gesehene zu sprechen, und es nicht zu tun, fühlt sich ebenso befremdlich an. Als ich nach dem Verlassen des Saals wieder in einer ähnlichen Runde stehe, möchte ich am liebsten den anderen zuhören und dabei die Bilder nachwirken lassen. Das Foyer-Gewusel, der wiederkehrende Lärm der Kaffeemaschine, die Begrüßungen und Verabschiedungen sorgen für schnelle Schnitte, Unterbrechungen und weitere kurze Begegnungen, bis ich die schwere Tür alleine wieder öffne. Diesmal gehe ich langsamer, schreite durch die frisch renovierten Gassen und Straßen mit ihren hellen Gebäuden und aufdringlichen Werbeschildern hindurch, vorbei an Camouflage-Mustern und Österreichflaggen, die Neutralität feiern.

