Es gibt ein Problem, das mir immer wieder begegnet in meiner Beschäftigung mit Film. Es betrifft die Frage nach den Filmen, die man bereits gesehen hat. Nun höre ich immer wieder, dass es nicht so wichtig ist, viele Filme gesehen zu haben. Das betrifft nicht nur die Filmpraxis sondern auch die Filmtheorie. Da ich diese Feststellung für ziemlich fragwürdig halte, möchte ich ein wenig darlegen, warum das Sehen von Filmen genauso wie übrigens auch das Lesen von Literatur über Filme und die Diskussion von Film essentiell für eine zwar subjektive, aber nuancierte, wissende, ja wertvolle Wahrnehmung des Mediums ist.
Zum einen geht es mir so, dass ich mich nicht traue manche Filme, die ich gesehen habe, zu besprechen. Ich finde es kaum gerecht, wenn ich eine Meinung zu einem Film äußere, von dessen Regisseur ich nur diesen Film gesehen habe. Nun muss man manchmal über Filme schreiben, die einem nichts sagen, die völlig neu für einen sind. Eine solche Schwachstelle von mir ist unter vielen Ken Loach. Ich habe lediglich „The Wind That Shakes the Barley“ von ihm gesehen und der hat mich ziemlich kalt gelassen. Aber vielleicht würde ich ihn ganz anders sehen, wenn ich mehr (von ihm) gesehen hätte? Ich glaube die Frage, die sich hier stellt ist, ob man seinem Geschmack und seiner Wahrnehmung trauen kann. Sicherlich ändern sich diese mit der Zeit unweigerlich. Einiges bleibt, anderes verändert sich. Nun ist ein „unschuldiges“ Herantreten an einen Film ja auch interessant, vielleicht erkenne ich Dinge, die ein Ken Loach Fetischist niemals sehen würde, vielleicht kann ich einen Film drehen, den niemand drehen könnte, der diesen oder jenen Film gesehen hat, der mit ähnlichen Themen, Settings, Situationen oder Gefühlen operiert. Aber ist das wirklich so einfach? Ich hatte mehrere Diskussionen über den Film „La vie d’Adèle – Chapitres 1 et 2″ von Abdellatif Kechiche. Menschen haben mich darauf aufmerksam gemacht, dass ich den Film überbewerte, da seine älteren Filme viel besser seien. Zuerst dachte ich bei mir, dass es doch keine Rolle spielt, was der Regisseur vorher gemacht hat. Es geht um den Film, mich, das Kino und alles, was dazwischen passiert. Aber immer wieder finde ich mich in ähnlichen Situationen wie meine Gesprächspartner. Jemand sagt mir, dass dieser oder jener Film ein Meisterwerk ist und ich will schreien, dass ich zwei Filme vom selben Regisseur oder aus demselben Genre etc. nennen kann, die es viel besser hinbekommen haben. Aber hier soll es eigentlich gar nicht um Wertungen gehen, sondern um Diskussion. Eine Wertung kann jeder hinbekommen. Dafür muss man nicht wissen, was man tut.
Was einem bleibt, ist mehr zu sehen. Ich flirte immer mit dem Gedanken, diesen Satz an das Ende jeder Filmbesprechung zu setzen. Aber man muss aufpassen, denn das Verlangen mehr zu sehen, darf nicht in ein Verlangen nach mehr Kompetenz kippen. Vielleicht gibt es gar keine Kompetenz außer Neugierde.
Und ich habe nichts gesehen. Ich frage mich, ob es eine ungefähre Grenze gibt, eine Anzahl an Filmen, die man gesehen haben sollte, um eine Meinung zu äußern, die andere in ihrem Filmverständnis beeinflusst? Man mag mir entgegenhalten (und ich tue das selbst), dass Filmverständnis sich über weit mehr definiert als die Anzahl der gesehenen Filme, dass Inspiration und ein Studium der filmischen Sprache auch in der Filmpraxis schon durch wenige Filme entstehen kann. Das ist nicht ganz falsch, aber ich ertappe mich dann doch immer-sowohl beim Schreiben von Kritiken, als auch beim Verfassen von Drehbüchern oder beim Drehen-dass je weniger ich gesehen habe, desto eher falle ich in Konventionen. Vielleicht liegt das daran, dass mir eine klassische Ausbildung fehlt oder ich einfach noch zu jung bin, vielleicht habe ich kein Talent (was ist das?) oder einfach einen schlechten Tag. Ich glaube aber, dass das Sehen von Filmen Räume öffnet, Möglichkeiten des Ausdrucks offenbart und ein gewisses Sentiment in einem regt, das im richtigen Moment-etwa, wenn man nach interessanten Situationen in einem Film sucht oder einen Schauspieler lebendig machen muss-aus einem zum Vorschein kommt. Dabei hilft natürlich nicht nur das Schauen von Filmen, sondern auch das Leben selbst, das Betrachten anderer Künste, Einsamkeit und Liebe. Aber Film ist nach wie vor eine Sache von Film. Das sich Beschränken auf eine oft verdammt enge Comfort Zone in einer auf Genuss ausgerichteten (Film)welt kann niemals einen filmischen/filmkritischen Ausdruck aus einem bringen. Vom Objekt ausgehend passiert eben doch am meisten.
Aber die Realität sieht anders aus. Kritiker, die während Screenings einschlafen und dann große Urteile verkünden, Kritiker, die einzelne Filmemacher boykottieren, Kritiker, die ständig bluffen und Filme erwähnen, die sie nie gesehen haben, Festivals, die ihre Freunde einladen, weil sie viel zu viele Filme bekommen, um sich alle anzusehen, Online-Plattformen, die ihre Autoren zu positiven Reviews zwingen, Regisseure, die nicht wissen, welche Filme sich mit den gleichen Geschichten wie sie selbst befassen, Kameramänner, die noch nie einen Visconti-Film gesehen haben, Tonmänner, die denken, dass Bresson ein Streichkäse ist und so weiter. Wie arrogant ist es zu glauben, dass man nicht sehen muss, um zu wissen, zu schreiben und zu drehen?
Natürlich habe ich da einige Dinge durcheinandergeworfen. Oft ist es auch eine Frage des Marktes, der die Filmwelt regiert. Gibt es die Zeit, um sich Filme (wirklich) anzusehen? Gibt es überhaupt die Möglichkeit? Die Fragen sind ja auch ganz andere: Wie schaut man einen Film eigentlich an? Und auch: Muss man nicht vielmehr lernen außerhalb seiner eigenen Vorlieben zu denken? Adrian Martin hat sich mehrfach vehement dafür eingesetzt, dass ein Filmkritiker unbedingt über seinen eigenen Geschmack hinweg schauen muss. Man müsse ein Entdecker sein, ein Treibender, ein nicht Festgelegter. Natürlich gibt es hier einen moralischen Unterschied zum Filmemacher. Hier stoße auch ich auf ein Problem, denn meine Herangehensweise versucht das Machen von Filmen mit dem Denken darüber zu verbinden. In der Praxis ist eine nonchalante Geschmacksäußerung Gang und Gebe. Das ist scheiße, das ist gut. So ist es und deshalb mache ich es so. Sich zu reiben an der schlimmen Welt des Films ist inspirierend. Große Kinobewegungen und eigenwillige Individuen haben so ihre Bahnen gefunden. Das bestehende Kino muss immer tot sein, damit ein neues entstehen kann. Aber in Wahrheit sind all diese polarisierenden Künstler cinephil. Sie haben erst gesehen und dann ein Urteil getroffen. Es mag Ausnahmen geben, aber ein interessanter Filmemacher hat Interesse an Film. Manche haben vielleicht jung und arrogant begonnen, wahrscheinlich haben alle, egal ob erfolgreich oder nicht, so begonnen. Aber wichtig scheint mir, dass man sich dem Schock stellt, dass da mehr ist: Da ist mehr als man selbst weiß. Vielleicht fünf Sekunden schönster Poesie in einem TV-Zweiteiler? Ein unnötiger Moment in einem Film von Ingmar Bergman? Alles ist möglich, wer das nicht wenigstens ahnt, der glaubt nicht an Film.
Wie also kann ich über Filme schreiben oder Filme machen, wenn ich nicht genug gesehen habe, wenn ich vielleicht nie genug gesehen haben werde? Ich glaube, dass ein wichtiges Kriterium ist, dass man den eigenen Blick, den eigenen Erfahrungsschatz selbst zum Thema macht. Damit meine ich nicht, dass jeder ständig schreiben muss, dass er dieses oder jenes nicht gesehen hat. Vielmehr geht es darum, dass Kritiken und Bilder gerahmt sind. Ein Rahmen, der uns den Blick als einen Blick offenbart. Eine solche Rahmung kann bedeuten, dass man das Gefühl des Films in seinen Text einfließen lässt, nicht nur die oberflächlichen Handlungen und klugen Interpretationen. Eine Rahmung ist, wenn man nach einer individuellen Sprache sucht in der Praxis und der Theorie, wenn man sich nicht einschüchtern lässt vom großen Wissen dieser Welt, sondern wenn Film zunächst aus der Erinnerung besprochen wird. Die hundert Hintergrundinformationen sind es nicht wert. Heute kann sie jeder bekommen. Rahmungen in den Filmen selbst sind Türen und Fenster, Büsche und Bäume, Autos und Nebel; es ist der Blick, der Kamera, der uns bewusst ist, sodass wir uns nicht selbst sehen, wie Pedro Costa mal formulierte, sondern immer einen Film sehen. Man muss nicht verstehen, um etwas zu sehen. Vielleicht ist das auch ein Ansatz. Das Schreiben über Film und das Machen von Filmen hängt deshalb so nahe am Sehen von Filmen, weil es nie um einen Besitz oder ein totales Verständnis gehen kann, sondern immer um die Erfahrung, die Neugier, den Schock., ja das Kino.