Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

WdK Tag 1: «Futur/​Future» – Lost in the Light: El Auge del Humano von Eduardo Williams

Nichts zu sehen. Der Film beginnt in Dun­kel­heit. Dann, sche­men­haft, der beweg­te Kör­per eines jun­gen Man­nes, er steht auf, geht umher, streift sich ein T‑Shirt über den aus dem Schat­ten strah­len­den Ober­kör­per. Ein ver­han­ge­nes Fens­ter beleuch­tet ihn von der Sei­te. Die Kame­ra folgt ihm auf sei­nem Weg durch kaum aus­zu­ma­chen­de Räu­me, er scheint etwas zu suchen, stößt laut hör­bar gegen Unsicht­ba­res. Er beugt sich hin­ab ins Dun­kel, hebt etwas auf; plötz­lich ist da ein schwa­ches Licht, das fron­tal sei­ne Brust beleuch­tet: Der bläu­li­che Schein eines Han­dys – und wie­der Dunkel.

Edu­ar­do Wil­liams Film El Auge del Huma­no folgt in drei geo­gra­phisch unter­schie­de­nen Abschnit­ten Kör­pern von Raum zu Raum, vom Licht ins Dun­kel und wie­der ins Licht, von der Sicht­bar­keit in die Unsicht­bar­keit, vom Wald auf die Stra­ße, von der Stra­ße in Woh­nun­gen, vom Öffent­li­chen ins Pri­va­te, vom Phy­si­schen ins Vir­tu­el­le und zurück. Dana Lins­sen spricht in der fol­gen­den Dis­kus­si­on von Por­ta­len, durch wel­che die Kör­per immer wie­der von einem Raum zum nächs­ten gelan­gen. Das Por­tal mar­kiert die Schwel­le zu einer ande­ren Welt, zu einem Raum ande­rer Funk­ti­on, ande­rer Gesetz­mä­ßig­kei­ten für die Kör­per, die er auf­nimmt. Beim Über­tritt aus der lär­men­den Hast der Groß­stadt, in die stil­le, gemes­sen zu bege­hen­de Welt einer Kir­che wird im Wort­sin­ne ein Por­tal durch­quert. Das ist ein Weltenwechsel.

Mir scheint, als gäbe es die­se Wel­ten­wech­sel in Wil­liams Film nicht. Es ist ein Welt­raum, der hier durch­quert wird. Die Tren­nun­gen und Gren­zen der Räu­me ver­schwim­men im Sog der unun­ter­bro­che­nen Bewe­gung, die unmerk­lich einen Raum in den nächs­ten über­ge­hen lässt. Es ist nicht mehr sinn­voll zu tren­nen zwi­schen pri­vat und öffent­lich, zwi­schen drin­nen und drau­ßen. Im ers­ten Teil des Films besucht – ja, wer? – ein jun­ger Mann unter vie­len in die­sem Film, viel­leicht ein­fach der Kör­per, dem wir fol­gen, einen Freund in sei­nem Haus. Vom har­ten Licht der Stra­ße in ein dunk­les Wohn­zim­mer, Men­schen sit­zen beim Essen, wei­ter auf die Ter­ras­se, ins wei­che Schim­mern des para­die­si­schen Gar­tens. Der Ein­lass zum Kel­ler im Hin­ter­grund steht offen, nicht als Gren­ze, nicht als Por­tal, son­dern als Teil eines gren­zen­lo­sen Bewe­gungs­rau­mes, der für die Kör­per nicht mehr zu über­win­den­der Wider­stand son­dern Mög­lich­keit ist. Die gro­ße Frei­heit, wel­che die phy­si­schen Räu­me inein­an­der glei­ten lässt, bis sie in einem ste­ti­gen Strom von Zäsur losen Inten­si­täts­ver­än­de­run­gen auf­ge­hen, erfasst auch die vir­tu­el­len Räu­me der Com­pu­ter, Han­dys und Screens. Eine kla­re Tren­nung zwi­schen vir­tu­el­ler und ‹ech­ter› Welt ist nicht mehr sinn­voll möglich.

Human Surge Still II

Das Vir­tu­el­le in Wil­liams Film wird orga­nisch und so unmög­lich als kör­per­los in Abgren­zung von einer kör­per­li­chen Welt beschreib­bar. Die Gerä­te, die den Zugang zu vir­tu­el­len Wel­ten ver­spre­chen, zeigt der Film als phy­si­sches Mate­ri­al: da gibt es ein Han­dy, das acht­sam aus­ein­an­der­ge­baut zum Trock­nen auf eine Fens­ter­bank in die Son­ne gelegt wird. Die Screens der tech­ni­schen Gerä­te wer­den selbst zu Licht­quel­len, die in zwei­fa­cher Hin­sicht Kör­per sicht­bar machen. Es ist das Licht der Han­dy­bild­schir­me, das immer wie­der die Dun­kel­heit der phy­si­schen Welt durch­dringt, etwa das ein­zi­ge Licht, wel­ches auf das Gesicht eines gera­de erwach­ten jun­gen Man­nes fällt. Aber auch anders her­um ist es die phy­si­sche Welt in all ihrer Kör­per­lich­keit, die im Vir­tu­el­len Aus­druck fin­det. In einer der ein­drück­lichs­ten Sze­nen sehen wir fünf leicht beklei­de­te Jungs in einem dunk­len, klei­nen Raum auf einem Bett, beleuch­tet vom Licht eines gro­ßen Moni­tors, eine Web­cam-Sex-Show per­for­men, mit der sie ihr Geld ver­die­nen. Die Dar­bie­tung ihrer Kör­per ist untrenn­bar mit der Welt hin­ter der Web­cam ver­bun­den. Sie reagie­ren auf Ange­bo­te, die von Zuschau­ern unter­brei­tet wer­den und selbst als einer der Jungs dem Ande­ren einen Blow-Job gibt, ist das nicht nur scho­ckie­rend in sei­ner Expli­zi­tät, son­dern auch eine Ges­te der Frei­heit des Spiels und der Mög­lich­kei­ten, durch­drun­gen von einer gro­ßen Schön­heit. In der Über­win­dung der Tren­nung von vir­tu­el­ler und phy­si­scher Welt liegt eben auch die Über­win­dung von Macht­ver­hält­nis­sen, die aus einer Hier­ar­chi­sie­rung der bei­den Wel­ten ent­steht. Das orga­ni­sche Licht der Screens ist so zärt­lich und fast tröst­lich wie die tief­stehen­de Son­ne, wel­che die Außen­auf­nah­men der Argen­ti­ni­en-Epi­so­de beherrscht.

Der Über­gang vom argen­ti­ni­schen zum mosam­bi­ka­ni­schen Teil des Films macht die Untrenn­bar­keit von vir­tu­el­len und phy­si­schen Räu­men noch kla­rer. Lang­sam nähert sich die Kame­ra von hin­ten einem der argen­ti­ni­schen Jungs, der vor einem Moni­tor sitzt, der Bild­schirm rückt immer grö­ßer ins Bild, bis er es schließ­lich voll­stän­dig ein­nimmt und in sei­ner eige­nen Tex­tur von Pixeln, Spie­ge­lun­gen und Fla­ckern sicht­bar wird. Im Bild sehen wir als Live­stream eine Grup­pe jun­ger Män­ner, die eine ganz ähn­li­che Sex-Show vor­füh­ren. Die fol­gen­den gut drei­ßig Minu­ten des Mosam­bik Drit­tels, die auf den Stra­ßen einer ganz real und phy­sisch anmu­ten­den Welt spie­len, wer­den wir so ver­fol­gen: als abge­film­ten Live­stream von einem Com­pu­ter-Moni­tor (in der Kom­bi­na­ti­on von digi­ta­lem und ana­lo­gem 16mm-Film­ma­te­ri­al pro­ji­ziert auf eine Lein­wand … aber viel­leicht ist das Ver­hält­nis des Films zu Selbst­re­fle­xi­vi­tät ein ande­rer Text). Doch auch die Räu­me der phy­si­schen Welt erfah­ren in Wil­liams Film eine Annä­he­rung an das Vir­tu­el­le: da gibt es Tei­che, die wie ein Screen das Licht reflek­tie­ren, Fens­ter, die Licht spen­den ohne ihr Dahin­ter zu offen­ba­ren, die stän­di­ge Suche der Figu­ren nach Com­pu­tern und Han­dys, die Ein­fluss auf ihre Bewe­gung im Raum nimmt oder die Ver­fol­gung der Prot­ago­nis­ten in Rücken­an­sicht, die an die Per­spek­ti­ve vie­ler Com­pu­ter­spie­le erin­nern mag. Es wird zuneh­mend unent­scheid­bar: was ist noch rea­le, phy­si­sche und was ist schon vir­tu­el­le Welt (oder andersherum)?

Das Erstaun­li­che an Wil­liams Film ist, dass er nicht ein­fach die Beant­wor­tung die­ser Fra­ge unmög­lich macht – z.B. in der Beschrei­bung einer abso­lut ver­netz­ten Welt, in der vir­tu­ell und real unauf­lös­bar ver­kno­tet sind – son­dern, den Sinn der Fra­ge selbst bezwei­felt. Die Frei­heit und Mühe­lo­sig­keit, mit der sich die jun­gen Män­ner durch die­ses Raum­kon­ti­nu­um bewe­gen, in dem unter ande­rem vir­tu­ell und phy­sisch in eins fal­len, sorgt für eine Trance, eine hyp­no­ti­sche Qua­li­tät, die alle Fra­gen nach Tren­nun­gen unter sich auf­löst. «To get lost in a film», wie Fré­dé­ric Jae­ger in der anschlie­ßen­den Dis­kus­si­on als posi­tiv bemerk­te. Die­ses frei­wil­li­ge Ver­lo­ren­ge­hen in der Imma­nenz der Räu­me als Über­ant­wor­tung an den Fluss der Bewe­gungs­bil­der, weist zunächst auf ein uto­pi­sches Ide­al des Kinos selbst, wie es bei Deleu­ze beschrie­ben ist. In der Imma­nenz lösen sich die Bil­der von einem rich­tungs­ge­ben­den Zen­trum und reagie­ren frei mit­ein­an­der. Wil­liams Film, der in allen drei Epi­so­den jun­ge Män­ner zeigt, die außer­halb der Glas­kup­pel des west­li­chen Wohl­stands­ka­pi­ta­lis­mus leben, gibt uns in die­ser Uto­pie des Kinos die gesell­schaft­li­che Uto­pie einer dezen­tra­len Welt der abso­lu­ten Gren­zen­lo­sig­keit, einer gefahr­lo­sen Frei­heit der Bewe­gung, die als selbst­ver­ständ­li­che ver­wirk­licht ist im glei­cher­ma­ßen mühe­lo­sen Wech­sel vom Wohn­zim­mer in den Gar­ten wie von der argen­ti­ni­schen Groß­stadt in den phil­ip­pi­ni­schen Urwald. Viel­leicht holt das The­ma des Abends «Futur/​Future» den Film in die­ser Uto­pie ein. Viel­leicht haben wir es aber auch mit der Fan­ta­sie einer Welt der jun­gen Män­ner zu tun, der Aus­wei­tung eines Lebens­ge­fühls auf eine gan­ze Welt. Und viel­leicht reißt die letz­te Ein­stel­lung oder eine ande­re ästhe­ti­sche Ent­wick­lungs­li­nie in Edu­ar­do Wil­liams gro­ßem Film vie­les des hier Gesag­ten wie­der ein. Sicher ist, wenn gilt Nino Klin­gler The­se #9: Cine­ma is poli­ti­cal when it irri­ta­tes sepa­ra­ti­ons, dann ist El Auge del Huma­no poli­ti­sches Kino.