Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

3. Berlinale-Gedanke: Allegorien, Allegorien, Allegorien

Wenn ich einen Film ansehe, dann ist der erst mal das, was er ist. Alles daran ist für mich Präsenz und Poesie. Es ist die Gegenwärtigkeit der Bewegungsillusion, des Lichts und der gespeicherten Zeit und die Poesie ihrer Mischung, ihrer Montage, ihres Klangs. Nun sind diese Eigenschaften jedem Film gegeben, aber nicht jeder Film ist mit ihnen im Kopf der Macher entstanden. Wenn ein Mensch ein anderes Lebewesen tötet, dann ist das im Kino erst mal das, was es ist. Es bedeutet nichts. Man sieht den Vorgang des Tötens, man erkennt die Bewegung, den Klang, das Licht des Vorgangs und man wird davon berührt, abgestoßen oder fasziniert. Erst in einem zweiten Schritt, der Filmemacher lange nicht so sehr beschäftigen sollte wie der erste (denn nur den großen Regisseuren gelingt es eine Tötungsszene gleichsam nüchtern-wahrhaftig als auch poetisch zu gestalten, man denke an jene von Alfred Hitchcock in seinem Torn Curtain oder das Schaf in Lisandro Alonsos Los muertos), entsteht das Moment einer Erzählung (bei den meisten Zusehern ist die Zeitspanne zwischen Präsenz/Poesie und Erzählung aufgrund unserer Seherfahrung wohl marginal ) und folglich einer Bedeutungskonstruktion. Der zweite Schritt ist zum einen das, was man eine Erzählung nennen kann und zum anderen das Mitlaufen einer Ebene unter dem eigentlichen Film, die zusätzliche Bedeutungen und Kontexte schafft, die oft Ausgangspunkt wilder Interpretationen ist und die meist politisch konnotiert ist. In einem solchen Fall können wir von Allegorien sprechen, die im besten Fall im Moment der Projektion, durchaus vom Filmemacher antizipiert, aufgrund der Präsenz und Poesie entstehen, die im Zuseher ein Weiterdenken bewirken, eine Unsicherheit und Arbeit, die ihn in neue Räume stoßen lassen, die aber im schlechtesten Fall (und das gilt für die Erzählung genauso wie für die Allegorien) der Hauptantrieb für den Film sind und somit jede Szene zu einer Idee werden lassen, jedes Bild zu einer Deutung und jeden Satz zu einer versteckten Botschaft. Dieses Kino funktioniert nur deshalb, weil viele Filmzuseher es als ihre große Aufgabe sehen, unterschiedliche Bedeutungsebenen aufzudecken und sich somit in eine Art Identifikation mit dem Filmemacher (den sie nicht kennen, den sie nicht verstehen können) denken. Erschrocken stellen diese Zuseher oft fest, wenn als Grund für verschiedene Szenen zum Beispiel Produktionsbedingungen genannt werden. Das, was sie wirklich sehen, spielt für sie eine untergeordnete Rolle zu dem, was es bedeutet. Daher achten sie auch selten auf Form oder Handwerk, sondern zumeist auf den Inhalt. Es ist kein Geheimnis, dass diese Krankheit ein Massenphänomen ist, das Zuschauer und Künstler gleichermaßen befallen hat.

Taxi Panahi

Nun ist die Berlinale ein durch und durch politisch konnotiertes Festival, es hausiert gewissermaßen damit und legt somit schon aus Prinzip einen großen Fokus auf die (politische) Bedeutung der Filme. Gestützt von einer deutschen Filmkultur=Filmindustrie kann man sich etwas anderes auch kaum erlauben, denn wo keine gesellschaftliche, politische oder natürlich kommerzielle Bedeutung klar wird, da liegt für sie auch kein Sinn. Eine poetische Relevanz, eine filmische Bedeutung, die ja durchaus auch politisch, gesellschaftlich oder kommerziell sein kann, überfordert ein solches Festival. Daher sieht man fast über die gesamte Laufzeit des Festivals Allegorien. Als gäbe es kein anderes Kino. Irgendwann habe ich mich sogar gefragt, was mein wiederholtes Essen beim Asiaten während des Festivals wohl bedeuten mag. Zugegeben ist es nicht ganz so einfach. Warum, zeigt ein Beispiel aus einem kürzlich veröffentlichen Text von Caveh Zahedi ,indem er eine Begegnung mit Robert Bresson beschreibt. Dieser äußerte sich abfällig über Allegorien im Kino, obwohl der junge Filmemacher in seinem Vorbild lauter Allegorien zu erkennen glaubte. Hier sind wir also wieder beim leidigen Thema der Intention, das aber für die Diskussion von Sinn und Unsinn allegorischer Filme eine essentielle Rolle spielt. Wir stellen fest, dass es eine Diskrepanz gibt zwischen unserem Erkennen von Allegorien und deren tatsächlicher oder intendierter Existenz. Vielleicht ist es gar so, dass man in einer Diskussion von Film – und das ist ja durchaus begrüßenswert – immer auf Allegorien stoßen wird, denn selbst wenn Film mehr Präsenz als Repräsentation ist, so ist das Sprechen darüber dann sicherlich eine Art der Repräsentation. Dennoch bildet man sich Dinge natürlich nicht nur ein und die Berlinale legt durch ihre eintönigen Kontextualisierungen (Homosexualität hier, Offenheit gegenüber fremden Welten dort und die Liebe zu den Unterdrückten sowieso) eine allegorische Lesart so nahe, dass es schmerzt. Man hört und sieht nur noch Allegorien. Das Produktionsland wird fast genauso wichtig wie der Film. Und bei manchen, sogar den meisten Filmen auf dem Festival, hat man wirklich das Gefühl, dass sie genau auf diese Interpretationen schielen. Ob es sich dabei nur um die Krankheit des vielschauenden Zusehers handelt oder die Filmemacher tatsächlich Poesie und Präsenz zugunsten einer politischen Tragweite aussparen, kann in den meisten Fällen nur vermutet werden. Tatsache ist aber, dass keiner der Filme, die ich im offiziellen Wettbewerb gesehen habe jenseits ihrer allegorischen Bedeutung diskutiert werden konnte. Selbst die sehr gelungenen Beiträge wie Aferim! von Radu Jude, Under Electric Clouds von Alexey German Jr. Oder El club von Pablo Larraín sind in erster Linie, zumindest im Kontext dieses Festivals, auf dem sie alle nebeneinander laufen und schon die ersten Kommentare, ja selbst Programmtexte politische Bedeutungen vorschlagen, als Allegorien zu verstehen. Robert Bresson würde sie hassen. Sind diese Allegorien aber nun der Hauptantrieb für die Filme oder sind es doch ästhetische, wahrnehmungsbezogene Realitäten, die erst in einem zweiten Schritt zur Allegorie führen?

Vielleicht muss man sich an dieser Stelle genauer überlegen wie ein Film entsteht. Ein Filmemacher kann auf der einen Seite auf keinen Fall nicht an die Bedeutung seiner Bilder, Schnitte und Töne denken. Er kann aber auch auf keinen Fall an alle möglichen Bedeutungen denken, denn das Licht des Projektors wird den Bildern ein neues Leben schenken. Nun kann ein Filmemacher seine Auswahl aufgrund unterschiedlicher Kriterien treffen. Der durchschnittliche Filmemacher geht dabei auf Narration und Unterhaltung. Andere gehen auf Effekt oder eben Bedeutungen. Da gibt es die Philosophen, die Selbstbeobachter, die Weltenbeobachter (oder gar Reisenden), die sozialen Realisten oder eben die Politiker. Dann gibt es noch jene, die mit den Bedeutungen und Erwartungen spielen und die Meta-Filmemacher. In den meisten Fällen ist jeder Filmemacher eine Kombination aus den verschiedenen Möglichkeiten. Der Traum wäre, nichts von einem Bild zu wollen, also ein Bild ein Bild sein zu lassen und vor allem einen Schnitt einen Schnitt, die Dinge so wie sie sind ganz ohne Ethik, ganz ohne Gedanken, aber dann gibt es kein Kino mehr, dann gibt es nur noch die bazinsche Automatik des Apparats, der unbeeinflusst Realität festhält. Das Problem mit den Allegorien ist also weniger ihre unvermeidbare Existenz als dieses Über-Bewusstsein bei den Filmemachern, dieses Aufladen eigentlich durchschnittlicher Filme mit Relevanz, die sicherlich nicht aus den Kunstwerken selbst entsteht sondern eben nur aus ihrer Interpretation. Warum mich das so stört, ist schnell erklärt: Ich vermute hinter dieser Art des Filmemachens eine Selbstzensur, die sich letztlich nur an Vorlieben von Förderinstitutionen anpasst und darüber hinaus nicht mehr in der Lage ist sich mit Film an den „Themen“, diesen ewigen Themen abzuarbeiten, zu entfalten, ja zu befreien. Und so passt es dann auch, dass das deutsche Förderfestival Berlin diese Förderfilme fördert. Und wenn dann – wie in diesem Jahr – durchaus gute Beiträge dabei herauskommen, dann weiß man gar nicht, bei wem man sich beschweren soll. Aber nur weil alle Raubtiere im Käfig schön sind, sind sie trotzdem im Käfig.

Panahi Berlinale

Das beste Beispiel ist der Siegerfilm Taxi von Jafar Panahi. Ein netter Film, der mit vielen intelligenten und berührenden Ideen aufwartet, dem man nichts vorwerfen kann, aber der den Preis dieses Festivals vor allem wegen seiner Entstehungsgeschichte, dem politischen Hintergrund und seinem allegorischen Potenzial gewinnt. Nun kann man sich den Film genau ansehen und überprüfen, ob Panahi tatsächlich mit Allegorien arbeitet oder ob das nur eine Interpretation ist. Mein erster Eindruck auf dem Festival war, dass Panahi so sehr mit sich selbst beschäftigt ist in diesem Fall, dass er unweigerlich auf die politischen Bedeutungen in seinem Film gezielt haben muss. Nicht nur jene Szenen, in denen seine Tochter von der schulischen Zensur ihrer Filmbeiträge berichtet (unter dem bemüht gleichgültigen Gesichtsausdruck des Regisseurs), sondern auch die Frage von Legalität und Illegalität von Bildern, ihrer Kontrolle und ihrem Missbrauch, die im ganzen Film vorkommen, sind politisch aufgeladen. Filmisch dagegen vermag der Film nicht über den ganzen Zeitraum zu überzeugen. Die anfänglichen Meta-Spielereien rund um Fragen der Inszenierung und die spannenden Phantom Rides finden keine Fortsetzung im weiteren Verlauf des Films. Ihre filmische Relevanz zu Beginn ist jedoch gleich ihrer politischen Bedeutung und dann kann man durchaus von großem Filmemachen sprechen. Natürlich spielen auch die extrem eingeschränkten Produktionsbedingungen hierbei eine Rolle. Aber obwohl man überall Bemerkungen dazu finden kann, so scheint mir doch kaum jemand (zumindest zeitnah auf dem Festival) wirklich zu wissen wie und mit welchen Mitteln Panahi diesen Film drehen konnte. Den Preis gewinnt er nicht als Film sondern als filmpolitisches Statement und auf der Berlinale beschwert man sich nicht darüber, dass es keinen schlechten Film erwischt hat. Auf der anderen Seite waren die letzten Gewinner des Goldenen Bären oftmals auch aus filmischer Sicht großartig. Es ist also eine Beschwerde über einen Eindruck, den ich trotz seiner Lücken nicht als rein subjektiv verstanden haben möchte. Es geht primär mal darum, dass es im Film etwas gibt, das vor der Bedeutung kommt. Wenn wir heute immer gleich auf die Bedeutungen springen, dann deshalb, weil dort mehr passiert als im Kino. Scheinbar ist das Verhältnis des Kinos zur Realität unendlich reicher als das Verhältnis zur eigenen Form. Und das ist ein bedrohender Zustand, denn was dabei nicht vergessen werden sollte ist, dass die eigene Form erst das Verhältnis des Kinos zur Realität konstituiert.

Was wäre denn eine Alternative? Gibt es die überhaupt? Ich denke, dass es wichtig für Filmemacher ist, sich zuerst der filmischen Bedeutung einer Szene zu widmen und die politischen Bedeutungen erst an zweiter Stelle zu betrachten. Erwarte ich da zu viel? Nein, wohl eher zu wenig, denn für einen wahrhaftigen Filmemacher, der in Filmen fühlt und denkt, erschließen sich Form und Bedeutung, Inhalt und Poesie im gleichen Atemzug, und nur dadurch kann ein Film als Film ebenso bestehen und vor dem Jüngsten Gericht selbstherrlicher Förderinstitutionen, Festivals und dem Markt. Ein ideales Kino, bei dem im gleichen Atemzug Form und Bedeutung, Gefühl und Gedanken generiert werden, bieten hier beispielsweise Claire Denis und Bruno Dumont an. Trotzdem bleiben auch sie marginale Figuren einer Industrie, die selbst zu einer Allegorie gesellschaftlicher und politischer Missstände geworden ist statt sich autonom und mutig zu entwickeln. Die Berlinale ist nur ein logischer Auswuchs zwischen all den hohen Türmen, Einkaufshäusern und heißen Lüftungen am Potsdamer Platz.