Nach knapp einer Stunde Laufzeit zieht es Pacifiction zum ersten Mal hinaus aufs Meer. Bislang glitzerte der Pazifik nur im Hintergrund Tahitis, sein fernes Rauschen legte sich sanft unter die Klangkulisse der Insel. Es ist eine Art imaginiertes Urlaubsparadies, in dem sich der französische Staatsvertreter De Roller (Benoît Magimel) im Überseegebiet Polynesien wiederfindet. Überall bietet die Natur Ansichten wie Postkartenmotive, die jedoch seltsam entrückt, beinahe unwirklich scheinen. So verleiht das Licht den Bildern keine Tiefe, sondern legt sich als verklärender Schleier aus Pastellfarben über die Aufnahmen. Als bräuchte es einen Nebel der Ignoranz, um die Bilder ästhetisch genießen zu können. Die Figuren bewegen sich mit einer somnambulen Langsamkeit durch den Film, bei der sich kaum unterscheiden lässt, wer gerade arbeitet und wer Urlaub macht. Jeden Abend finden sie in demselben Club zusammen, wo sie auf der immer gleichen Party umeinander herumstehen. Das Leben spielt sich hier als Dauerschleife in Zeitlupe ab. Zwar scheinen immer wieder unterschwellige Konflikte auf, doch dringen sie nie durch die Oberfläche traumhafter Irrealität, die sich über der Insel ausgebreitet hat.
Erst jetzt, mit dem Aufbruch aufs Meer, ändert sich dieser Zustand. War der Ozean zuvor nur ein Element des umfassenden Licht- und Farbschauspiels, offenbart er sich nun in seinen überwältigenden Ausmaßen. De Roller winkt noch mit staatsmännischer Geste dem fliehenden Festland zu, bevor er sich mit verschränkten Armen der neuen Umgebung zuwendet. „Ça fait peur“ – das macht Angst, lautet seine erste Reaktion auf den neuen Anblick. Endlos erstreckt sich reines Blau in alle Richtungen des Bildes. Der wolkenfreie Himmel lässt das tiefe, klare Wasser in sämtlichen Abstufungen der Farbe aufleuchten. Noch immer ein paradiesischer Anblick, der sich jedoch nicht mehr in den Rahmen der bisherigen ruhig beobachtenden Totalen einfassen lässt. Die Kamera fliegt schon in den Himmel hinauf, über die Köpfe der Passagiere hinweg, die in dutzenden Booten aufs Meer hinausgefahren sind und nun verzwergen gegenüber seiner unendlichen Weite. Einige haben ihre Smartphones gezückt, doch diese Bilder sind nicht mehr dafür geschaffen, aus einer sicheren Distanz genossen zu werden. Vielmehr sind die Menschen der Naturgewalt nun völlig ausliefert.
Dann kommen die Wellen. Meterhoch rollen sie aus den Tiefen der Einstellung auf die Kamera zu und mit ihnen wird die Tonspur von einem ohrenbetäubenden Dröhnen verschluckt. Die Boote müssten zerschellen, brächen die Wellen über ihnen hinein. Doch kurz bevor es zum Aufprall kommt, stürzen die Fluten in sich zusammen und nur ein sanfter Wellengang bleibt zurück, der die Boote auf und ab wippen lässt. Als würden sie sich hinter einer magischen Grenze in Sicherheit bewegen. Nur ein paar wenige Surfer setzen sich bereitwillig der Kraft der Gezeiten aus, der Rest nimmt die unmöglich scheinende Position teilnahmslos Betrachtender ein. Auch De Roller bleibt fest im Zentrum seiner Einstellungen verhaftet, egal wie stark sein Gefährt ins Schwanken gerät. Daran ändert sich nicht einmal etwas, als er mit einem Surfer auf einen Jetski umsteigt, um noch näher an das Spektakel heranfahren zu können. Die Kamera gleitet nun auf Höhe der Meeresoberfläche mit ihnen, als die nächste Welle aus dem Hintergrund heranrollt, deren schäumende Kraft noch unausweichlicher zu sein scheint. wieder ebbt ihre Energie genau vor den Zuschauenden ab. Am Ende der Show ist das Weiß von De Rollers Anzugs von keinen einzigen Wassertropfen getrübt.
In dieser gewaltigen Szene wird zum ersten Mal erfahrbar, was im weiteren Verlauf des Films allmählich zur Paranoia des Protagonisten heranwächst: Die Angst vor einer nahenden Katastrophe, ja sogar die Gewissheit über die Unabwendbarkeit ihres Eintreffens. Auch De Roller sieht die Gefahr im Meer lauern. Er ist überzeugt, dass irgendwo da draußen, direkt unter der Wasseroberfläche, die Wiederaufnahme von Kernwaffentests vorbereitet wird, wie sie die französische Regierung zwischen 1966 und 1996 über 180-mal in Polynesien durchgeführt hat. Doch seine Nachforschungen prallen an derselben leuchtenden Oberfläche der Insel ab. Als er sich irgendwann erneut auf eigene Faust hinaus auf Meer begibt, verliert sich die Suche im Schwarz der Nacht. Unmöglich zu erkennen, ob sich hinter der Dunkelheit eine neue, noch höhere Welle verbirgt. Eine lähmende Handlungsunfähigkeit breitet sich aus, die nicht zuletzt Ausdruck der Perspektive derer ist, die sich trotz allen Vorzeichen in einer trügerischen Sicherheit wiegen, von der vollen Wucht der drohenden Konsequenzen (noch) nicht wirklich getroffen zu werden.