Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Atemtechniken im Kino: Eine Beobachtung

Eines steht fest: Alle Menschen, die leben wollen, müssen atmen. Wer nicht mehr atmet, ist entweder tot oder auf dem besten Weg dahin. Deshalb müssen einem Kinosaal pro Stunde für jeden Zuschauer mindestens 25 Kubikmeter Frischluft zugeführt werden. Laut Vorschrift sollte ein Kinobesucher ebenso lebendig das Kino verlassen, wie er es betreten hat – zumindest einigermaßen. Ermüdung ist in diesem Fall durch gähnende Münder als Zeichen für den letztlich erfolgreichen Kampf gegen die Luftarmut zu betrachten. Im Kino befindet man sich sozusagen in einer lebensfeindlichen Zone, die darin besteht, einander die Luft zu nehmen. Seit das Leben in der Öffentlichkeit wieder unreglementierter stattfindet, macht sich das besonders bemerkbar. Endlich: Alle Menschen atmen auf, und atmen sich gegenseitig ein.

Der Film atmet, las ich kürzlich. Oder vielleicht sollte man ihn atmen lassen wie ein gepflegtes Gläschen Rotwein (Nur nicht zu lang, sonst kippt er um). Also einfach gar nicht betrachten, bis er nach seiner wuchtigen Anstrengung wieder zu Atem kommt. Nein, es war wohl anders. Er muss etwas versprüht haben, das sich an den Augen und Ohren vorbei schummelte, um auf direktem Weg in den Lungen des Autors zu verschwinden. Durch die Nase oder den Mund hinein, und hoffentlich auch wieder heraus. Es hätte dabei nichts stecken bleiben dürfen, denn das könnte lebensverändernd, weiß Gott lebensgefährdend enden. Also eher ein Film zum Atmen. – Man liest nur noch selten, wie ein Film schmeckt oder riecht. Wahrscheinlich aus Gründen der Pietät. So ein geradewegs obszönes, subjektives Urteil ist dem Leser nicht zuzumuten. Er wäre gezwungen, sich etwas vorzustellen, anstatt einfach zu glauben, was geschrieben steht.

Ich muss gestehen, dass mir nach dem Kinobesuch meist ein fahler Geschmack im Mund bleibt. Einzelheiten, die meine Essens-, Trink- und Rauchroutine betreffen, möchte ich hierzu aussparen. In der Regel ist mir aber mehr daran gelegen, diesen Geschmack loszuwerden, als mich mit ihm zu beschäftigen. Glücklicherweise verflüchtigt er sich mit einem tiefen Atemzug der klaren, nächtlichen Luft, die sich mit einer verträumten Zigarette auf dem Heimweg vermischt. Während die rasend heißgelaufen Bilder immer noch meinen Kopf schwitzen lassen, kühlt etwas ab. Ein anderer Geruch trifft meine Nase, eine andere Note legt sich auf meine Zunge. Ich denke nochmals an den Film zurück und spüre erst an dieser kaum merkbaren Veränderung, dass ich nun tatsächlich nicht mehr Sessel sitze und wieder allein bin.

Nochmals tief Luft holen. Während ich diesmal für einen Moment innehalte, sehe ich wieder das Bild vor mir. Stillgelegt, dem Atem beraubt, nicht mehr lebendig. Unwillkürlich taten ich und eine andere Person im Dunkel dasselbe. Ich atmete durch meine Nase ein. Dabei hörte ich, wie die Luft an den Nasenflügeln vorbeiströmte und sich ihren Weg in die Luftröhre bahnte. Der Brustkorb hob sich, das Zwerchfell spannte sich. Wie lang könnte dieser Moment andauern? Und was wird danach passieren? Fast hielt ich es nicht mehr aus. Dann drückte sich die verbrauchte Luft wieder nach oben. Indessen überkam mich ein unangenehmes Gefühl. Ich befürchtete, eventuell zu viel Aufmerksamkeit auf mich gezogen zu haben. Also presste ich meine Lippen zusammen und ließ die Luft heimlich wieder durch meine Nase entweichen.

Wirklich entlastend ist nur, durch den Mund auszuatmen. So lehren es die Gewichtheber, Akrobaten und Leichtathleten. Sie bewegen sich damit im Gleichgewicht, halten die Spannung, ohne sich zu verausgaben. Wenn es im Kino spannend wird, dann spielt gerade die Atmung beziehungsweise ihr Unmöglichkeit eine zentrale Rolle. – Zunächst gibt es jene, die sich mit ihrem Atem derart entspannen, dass sie bereits nach zehn Minuten genüsslich in den Schlaf fallen. Manchmal ist ein kleines Säuseln, Bribbeln, Grischeln, Röcheln oder Zippsen zu vernehmen. Jenen Kandidaten ist nichts vorzuwerfen, sie haben sich dem Film hingegeben und wurden von ihm warm empfangen, auch wenn sie hin und wieder hechelnd aufwachen. – Dann gibt es selbstverständlich jene, die mit der Einblendung des Filmtitels und Regisseurs nickend die gesammelte Luft wie ein Föhn ausblasen. Womöglich waren sie den halben Tag oder ihr halbes Leben lang angespannt und können jetzt alles bekommen, worauf sie gewartet haben. Zu dieser Sorte gehört in wenigen Fällen aber ebenso eine arrogant bis überhebliche Spezies. Der Unterschied liegt darin, dass sich ihr süffisant schmunzelnder Mund wieder verschämt schließt, sobald etwas Unvorhergesehenes eintritt. – Vereinzelt trifft man auch jenen, der immerzu stöhnt. In bitterer Ignoranz werde ich ihn nicht weiter beachten, selbst wenn er stolpernd den Saal verlässt.

Im Gegenteil zu den vorangegangen ist jedoch der nun folgende letzte Typus, ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, der einzig konsequent auffällige. – Seine permanente Anspannung fällt mit seinem penetranten Ringen um Luft auf. Das gequälte Japsen und Schnappen wird durch seine verknotete Sitzposition nicht gerade erleichtert. Stoßweise lässt er angestaute Luft durch seine Nasenlöcher ausschießen, als müsste sich dabei noch mehr lösen, als die muffige Luft beinhaltet. Manchmal wird daraus auch so etwas wie ein verkniffenes Lachen, das sich mit einem leichten Kitzeln oder gar Grunzen am hinteren Gaumen paart. Mit zunehmender Wiederholung scheint sich daran etwas festzusetzen, anstatt abzufallen. Es fällt ihm schwer, einfach loszuprusten, etwas hält ihn zurück. Irgendwann will man nur noch glauben, dass der Betroffene gar nicht anders zu Luft käme. Doch es kann vereinzelt durch das zaghafte Anstimmen eines Lautes unterbrochen werden. Zum Beispiel ein sonores »Hm«, ein simples bis vulgäres Räuspern oder auch ein barsches »Würden Sie bitte etwas leiser sein«, kann helfen. Selbstverständlich mit einem verschluckten Fragezeichen versehen.

Gerät man einmal in die Lage (Ulrich Seidls Œuvre eignet sich dafür ausgezeichnet) diese Typen zu beobachten, will man die eigenen Luftregungen nur noch peinlich beschämt verstecken, weshalb ich davon zutiefst abrate. Das kann einen so weit in den Wahnsinn treiben, dass man sich, bis man blau wird, kaum noch zu atmen traut. Von Filmgenuss kann dann natürlich keine Rede mehr sein. Es kommt erst der Notarzt, dann die Polizei, zu guter Letzt der Bestatter und der ganze Abend ist gelaufen. Glücklicherweise endet sowohl eine Einstellung als auch ein Film. Immer, ganz bestimmt. Man darf also wieder ausatmen – und aufatmen. Alles andere wäre albern und nicht auszuhalten.