Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Die Fliege auf dem Rezensenten

Es kommt sel­ten vor, dass soge­nann­ten Rezen­sen­ten etwas pein­lich ist. Gewis­se Strö­mun­gen inner­halb ihrer Bran­che brüs­ten sich gar damit, dass ihnen gar nichts pein­lich ist, ihre Tex­te spre­chen da für sich. Dabei gäbe es viel, was den Rezen­sen­ten pein­lich sein könn­te. Zum Bei­spiel könn­ten sie zu spät zu einer Pres­se­vor­füh­rung im Kino kom­men oder in einem Anflug von Leicht­sinn das fal­sche Buch gele­sen haben. Sie könn­ten einen unvor­teil­haft geklei­de­ten Zuschau­er im Thea­ter für einen Teil des Sze­nen­bilds hal­ten, wäh­rend des Kon­zer­tes ein­ni­cken oder auf­grund intims­ter Asso­zia­tio­nen eine fal­sche Inter­pre­ta­ti­on an den Tag legen, etwa dass es in Hem­ming­ways Hills Like White Ele­phants um eine Brust­ver­grö­ße­rung geht und nicht um eine Abtrei­bung. Er hät­te ja auch ein­fach schrei­ben kön­nen, um was es geht, sagen dann die über­rasch­ten Rezensenten.

Inzwi­schen sind sol­che Feh­ler jedoch weni­ger üblich, schließ­lich gibt es im Inter­net oft bereits Rezen­sio­nen, die die Rezen­sen­ten lesen kön­nen und die soge­nann­ten Pres­se­ab­tei­lun­gen schrei­ben schon gan­ze Tex­te für die müde Hor­de an Rezen­sen­ten, die von einer Rezen­si­on in die nächs­te geschleu­dert wird und an man­chen Aben­den gar nicht mehr weiß, was sie rezen­siert hat und vor allem wes­halb. Am Wich­tigs­ten für die Rezen­sen­ten ist ohne­dies ihre eige­ne Schlau­heit, das heißt, sie schrei­ben sel­te­ner, um etwas über das Werk zu sagen, dass sie rezen­sie­ren, als um selbst schlau zu wir­ken (und wenn das nicht, so doch zumin­dest nicht dumm).

Vor eini­gen Jah­ren ist mir im Rah­men mei­ner Arbeit für ein klei­nes Tage­blatt, bei dem ich eigent­lich für den Sport zustän­dig war (ich war der ein­zi­ge, der etwas für den Rad­sport übrig hat­te und die Zei­tung war Haupt­spon­sor eines grö­ße­ren loka­len Feu­er­wehr­rad­ren­nens) den­noch etwas Pein­li­ches pas­siert. Der zustän­di­ge Rezen­sent für das Kino erkrank­te kurz­fris­tig und so wur­de ich aus­er­ko­ren mir den neu­en Block­bus­ter von Chris­to­pher Nolan, Incep­ti­on anzu­se­hen und vor allem dar­über zu schrei­ben. „Es wird dar­in aller­hand geklet­tert und man fährt wohl auch Ski. Das ist doch was für Sie!“, mein­te mein Chef, für den alle Mit­ar­bei­ter genau aus dem bestan­den, über was sie schrie­ben. Ich war also ein Fahr­rad mit ein paar Ten­nis- und Fuß­bäl­len am Len­ker und ich stand irgend­wo im Kel­ler, sodass er nicht zu oft an mich erin­nert wurde.

Trotz­dem woll­te ich dem guten Mann, der kurz dar­auf einem Herz­in­farkt erlag nicht wider­spre­chen, ja eigent­lich fand ich sogar Gefal­len an der Idee, mich in einem dunk­len Saal von Bil­dern und Tönen berie­seln (in die­sem Fall eher beschie­ßen) zu las­sen, um dann ein paar mehr oder weni­ger schlaue Sät­ze zu schrei­ben. Der eigent­lich zustän­di­ge Rezen­sent hat­te mir sogar mit vor Hus­ten röcheln­der Stim­me durch das Tele­fon eine klei­ne Ein­füh­rung in das Werk die­ses Nolan gege­ben und ich fühl­te mich bereit, mei­ne ers­te Rezen­si­on zu ver­fas­sen. Ein wenig besorg­te mich zwar, dass ich nur 30 Minu­ten nach dem Abpfiff des Films bei einem Eis­ho­ckey­spiel außer­halb der Stadt sein muss­te, aber ein wenig Sport, so dach­te ich, kön­ne mir nicht scha­den, selbst wenn es nur ein Sprint zum Auto wäre.

Im Kino sah ich dann vie­le ver­schie­de­ne Rezen­sen­ten (vor allem Män­ner, die ohne Unter­lass über das Kino spra­chen bis der Film begann und sobald die­ser ende­te wie­der mit dem Spre­chen began­nen), die sich mit Kugel­schrei­bern und Notiz­blö­cken und Wurst­sem­meln und Kaf­fee­tas­sen und ihren Regen­schir­men und Bana­nen im Kino aus­brei­te­ten. Auch ich zück­te mei­nen Notiz­block, auf dem ich sonst Sta­tis­ti­ken fest­hielt, die ich bei Sport­ver­an­stal­tun­gen auf­schnapp­te, zum Bei­spiel „das letz­te Mal, dass wir in einem Spiel drei­mal die Lat­te tra­fen, gab es noch gar kei­ne Lat­te.“. Als die Lich­ter im Kino­saal aus­gin­gen, wur­de mir klar, dass ich mei­nen Notiz­block gar nicht wür­de sehen kön­nen. Ich späh­te zu mei­ner Sei­te und sah, dass man­che der Rezen­sen­ten mit leuch­ten­den Kugel­schrei­bern aus­ge­rüs­tet waren, was mich etwas zum Schmun­zeln brach­te, ich weiß nicht genau weshalb.

Ich pack­te den Notiz­block also zurück in mei­ne Tasche, aber das ist nicht das, was mir pein­lich ist an die­ser Geschich­te. Denn weni­ge Minu­ten nach­dem der Film begon­nen hat­te, hör­te ich durch den Lärm des Films das lau­te Sum­men einer über­di­men­sio­nal gro­ßen Flie­ge, die schnur­stracks auf mei­ner Nase lan­de­te und kei­ne Anstal­ten mach­te sich von dort weg­zu­be­we­gen. Zunächst wisch­te ich mit der gewohn­ten Ges­te des generv­ten Ärgers, die wir in sol­chen Situa­tio­nen alle an den Tag legen, die Flie­ge bei­sei­te, aber sie sprang nur über mei­ne Hand und lan­de­te wie­der auf mei­ner Nase. Es ist kein ange­neh­mes Gefühl eine Flie­ge auf der Nase sit­zen zu haben, schon gar nicht, wenn man sich eigent­lich auf etwas ande­res kon­zen­trie­ren sollte.

Ich schlug also mit etwas mehr Nach­druck, aber wie­der ent­wisch­te mir das Insekt, um sei­ne küh­len Bein­chen direkt über mei­nem Nasen­loch zu plat­zie­ren. Ich war ver­dutzt, so etwas war mir noch nie pas­siert. Für eini­ge Zeit wie­der­hol­te ich mei­ne Schlä­ge und ver­such­te dabei ange­strengt das Gesche­hen auf der Lein­wand im Blick zu behal­ten, was mir auf­grund der kom­pli­zier­ten Hand­lung, die sich wohl auf ver­schie­de­nen Zeit­ebe­nen beweg­te, nicht ganz leicht fiel. An der Flie­ge irri­tier­te mich beson­ders, dass sie ent­spannt und müde schien, wenn sie auf mir saß, also eigent­lich eine leich­te Beu­te sein müss­te, aber sich sobald ich mich ihr näher­te mit jugend­li­chem Geschick aus jeder noch so brenz­li­gen Lage befrei­te. Ich ver­än­der­te mehr­fach mei­ne Sitz­po­si­ti­on und mein dau­ern­des Her­um­ge­fuch­tel heims­te mir eini­ge Pss­sts aus der nähe­ren Umge­bung ein. Ich ver­sank in mei­nem Sitz und war der Ver­zweif­lung nahe. Im Film schien immer noch erklärt zu wer­den, um was es eigent­lich gehe, aber davon bekam ich nur wenig mit.

Ich ent­schied mich den Saal zu ver­las­sen, um das Pro­blem im Foy­er oder wenn es sein muss­te auf der Toi­let­te in Ruhe zu lösen. Ich stand also zur Empö­rung jener Rezen­sen­ten, die hin­ter mir saßen auf und ver­ließ den Saal, wobei ich gekonnt, wenn auch von nie­man­den bemerkt, so tat, als müss­te ich nur kurz und aus den übli­chen Grün­den aus­tre­ten. Aber sobald ich den Saal ver­las­sen hat­te, war von der Flie­ge kei­ne Spur mehr. Pures Glück! Ich war sie los. Ich ver­harr­te eini­ge Augen­bli­cke im lee­ren Foy­er, um kei­nen Ver­dacht bei den ande­ren Rezen­sen­ten aus­zu­lö­sen und schritt schließ­lich gelöst und nicht ohne jene Erleich­te­rung vor­zu­spie­len, die uns nach Ent­lee­rung der Bla­se durch­aus eigen ist, zurück zu mei­nem Sitz. Aber just in dem Augen­blick, in dem ich mich setz­te, war sie wie­der da und lan­de­te ohne zu zögern auf mei­ner Nase. Verzweiflung!

Nach­dem ich wie­der ver­such­te die Flie­ge mit eini­gen redu­zier­ten Bewe­gun­gen (um die ande­ren Rezen­sen­ten nicht wie­der gegen mich auf­zu­het­zen) los­zu­wer­den, ver­such­te ich eine Zeit lang sie zu igno­rie­ren und mich auf den Film zu kon­zen­trie­ren. Aber sobald mir das halb­wegs gelang (so gut man sich eben auf einen Film kon­zen­trie­ren kann, wenn eine zu gro­ße Flie­ge auf der eige­nen Nase sitzt), beweg­te sich die Flie­ge leicht und kit­zel­te mich. Ich muss­te nie­sen und auch dafür ern­te­te ich eini­ge schar­fe Bli­cke, die ich in der Dun­kel­heit des Kinos glück­li­cher­wei­se nicht sehen muss­te. Da erin­ner­te ich mich mei­ner Was­ser­fla­sche. Vor­sich­tig griff ich in mei­ne Tasche und zog unter doch zu lau­tem Plas­tik­kna­cken mei­ne Fla­sche her­vor, öff­ne­te sie erstaun­lich lei­se, leg­te mei­nen Kopf zurück und schüt­te­te den gesam­ten Inhalt in mein Gesicht. Das müss­te doch genug sein, um einer sol­che Flie­ge ein Trau­ma zu ver­pas­sen. Dach­te ich. Aber die Flie­ge blieb ein­fach sit­zen, ja, ich war mir sogar sicher, dass ich füh­len konn­te wie sie begann zu trin­ken oder mich abzu­schle­cken wie eine durs­ti­ge Katze.

„Kön­nen Sie das bit­te unter­las­sen? Sie stö­ren.“, hör­te ich plötz­lich eine Stim­me ganz nah an mei­nem Ohr. Eine älte­re Dame, deren Augen mich an eine Flie­ge erin­ner­ten, hat­te sich neben mei­nen Sitz bege­ben, um mit stren­gen, her­ab­las­sen­den Ton das zu adres­sie­ren, was der gan­ze Saal den­ken muss­te. Ich nick­te nass. Die Dame zog sich zurück zu ihrem Platz, wo sie herz­haft in einen Crois­sant biss und ich ver­blieb wie erstarrt, die Flie­ge auf mei­ner Nase, die Augen mehr in Rich­tung Decke als Lein­wand und gele­gent­lich tropf­te Was­ser von mei­ner Schlä­fe hin­ab auf den von Pop­corn­res­ten über­sä­ten Boden.

Es ging mir so man­ches durch den Kopf. Zum Bei­spiel dach­te ich an Lud­wig Witt­gen­stein, der die Auf­ga­be der Phi­lo­so­phie ein­mal dar­in sah, einer Flie­ge bei­zu­brin­gen wie sie aus einer Fla­sche ent­kom­men kön­ne. Ich war mir nicht sicher, wer zwi­schen mir und der Flie­ge die Flie­ge war und wer die Fla­sche. Eine Zeit lang ver­such­te ich das Tier mit mei­nen Hän­den zu fan­gen, um es in mei­ner geschlos­se­nen Faust gefan­gen zu hal­ten, um wenigs­ten noch etwas vom Film mit­zu­be­kom­men, der inzwi­schen schon eine vier­te oder fünf­te Zeit­ebe­ne eröff­ne­te. Aber das Biest ent­kam mir immer wie­der und kroch tri­um­phie­rend zwi­schen mei­nen Fin­gern her­vor. Ich pus­te­te so gut ich konn­te mit vor­ge­scho­be­ner Unter­lip­pe nach oben, um mei­ne Nase einem nie gekann­ten Sturm aus Pus­te aus­zu­set­zen, aber nicht­mal die Flü­gel­paa­re des Insekts flat­ter­ten. Aus mei­ner Ver­zweif­lung schäl­te sich lang­sam eine Wut. Ich schlug etwas fes­ter nach dem Tier, aber das Ergeb­nis war immer das Gleiche.

Jetzt bemerk­te ich immer­hin, dass wie ange­kün­digt Ski zum Ein­satz kamen und das schnee­wei­ße Licht auf der Lein­wand erhell­te das Audi­to­ri­um und ermög­lich­te mir für eini­ge Momen­te schie­lend, einen Blick auf die Flie­ge zu erha­schen. Ihre Augen waren gift­grün und spöt­tisch. Sie sah mir direkt in die Pupil­len und ich konn­te erken­nen, dass sie es ernst mein­te. Sogleich ver­dun­kel­te sich der Saal wie­der und ich woll­te kei­ne Sekun­de mehr ver­strei­chen las­sen. Mit vol­ler Wucht schlug ich mir ins Gesicht, ver­pass­te die Flie­ge denk­bar knapp und hör­te nur mehr ein Kni­cken (mein Nasenbein).

Für eini­ge Sekun­den war ich aus­ge­knockt, zumin­dest kam es mir so vor als ich plötz­lich einen sich dre­hen­den Krei­sel auf der Lein­wand sah und dann den Abspann. Mei­ne Nase schmerz­te höl­lisch, von der Flie­ge kei­ne Spur. Zu mei­nem Glück began­nen die Rezen­sen­ten schon wäh­rend des Abspanns ihre Urtei­le laut von sich zu geben. Sie erzähl­ten sich die Hand­lung nach, spiel­ten sie sogar vor und ich hat­te so ein recht umfas­sen­des Bild des Films und einen gan­zen Sack vol­ler Adjek­ti­ve noch bevor der Abspann ende­te. Ich erin­ner­te mich an das anste­hen­de Eis­ho­ckey­spiel, pack­te mei­ne lee­re Fla­sche zurück in die Tasche und rann­te blu­tend und nass aus dem Kino. In der Redak­ti­on erzähl­te ich den ob mei­nes demo­lier­ten Gesichts eher amü­sier­ten als ver­stör­ten Kol­le­gen am fol­gen­den Tag, dass mir ein Puck vom Spiel­feld auf die Tri­bü­ne ins Gesicht geflo­gen wäre beim Eis­ho­ckey, was alle zufrie­den stimm­te, ja sogar beglückte.

Die Rezen­si­on muss­te ich trotz­dem schrei­ben, was mir mit Hil­fe der Erzäh­lun­gen der ande­ren Rezen­sen­ten, einer aus­ufern­den Pres­se­map­pe und diver­ser bereits exis­tie­ren­der Rezen­sio­nen im Inter­net pro­blem­los gelang, ja, anschei­nend sogar so gut, dass mein Text es auf die ers­te Sei­te des Feuil­le­tons schaff­te (eine Sei­te, die in unse­ren Brei­ten­gra­den manch­mal gar nicht exis­tiert) und ich fort­an ins Kino geschickt wur­de, um zu rezen­sie­ren. Die Geburt eines Rezen­sen­ten, sozu­sa­gen. Die Flie­ge habe ich nie wie­der gese­hen und etwas ähn­li­ches ist mir seit­her nicht pas­siert, aber bis heu­te habe ich immer Insek­ten­spray bei mir, wenn ich etwas rezensiere.