Die Fliege auf dem Rezensenten

Es kommt selten vor, dass sogenannten Rezensenten etwas peinlich ist. Gewisse Strömungen innerhalb ihrer Branche brüsten sich gar damit, dass ihnen gar nichts peinlich ist, ihre Texte sprechen da für sich. Dabei gäbe es viel, was den Rezensenten peinlich sein könnte. Zum Beispiel könnten sie zu spät zu einer Pressevorführung im Kino kommen oder in einem Anflug von Leichtsinn das falsche Buch gelesen haben. Sie könnten einen unvorteilhaft gekleideten Zuschauer im Theater für einen Teil des Szenenbilds halten, während des Konzertes einnicken oder aufgrund intimster Assoziationen eine falsche Interpretation an den Tag legen, etwa dass es in Hemmingways Hills Like White Elephants um eine Brustvergrößerung geht und nicht um eine Abtreibung. Er hätte ja auch einfach schreiben können, um was es geht, sagen dann die überraschten Rezensenten.

Inzwischen sind solche Fehler jedoch weniger üblich, schließlich gibt es im Internet oft bereits Rezensionen, die die Rezensenten lesen können und die sogenannten Presseabteilungen schreiben schon ganze Texte für die müde Horde an Rezensenten, die von einer Rezension in die nächste geschleudert wird und an manchen Abenden gar nicht mehr weiß, was sie rezensiert hat und vor allem weshalb. Am Wichtigsten für die Rezensenten ist ohnedies ihre eigene Schlauheit, das heißt, sie schreiben seltener, um etwas über das Werk zu sagen, dass sie rezensieren, als um selbst schlau zu wirken (und wenn das nicht, so doch zumindest nicht dumm).

Vor einigen Jahren ist mir im Rahmen meiner Arbeit für ein kleines Tageblatt, bei dem ich eigentlich für den Sport zuständig war (ich war der einzige, der etwas für den Radsport übrig hatte und die Zeitung war Hauptsponsor eines größeren lokalen Feuerwehrradrennens) dennoch etwas Peinliches passiert. Der zuständige Rezensent für das Kino erkrankte kurzfristig und so wurde ich auserkoren mir den neuen Blockbuster von Christopher Nolan, Inception anzusehen und vor allem darüber zu schreiben. „Es wird darin allerhand geklettert und man fährt wohl auch Ski. Das ist doch was für Sie!“, meinte mein Chef, für den alle Mitarbeiter genau aus dem bestanden, über was sie schrieben. Ich war also ein Fahrrad mit ein paar Tennis- und Fußbällen am Lenker und ich stand irgendwo im Keller, sodass er nicht zu oft an mich erinnert wurde.

Trotzdem wollte ich dem guten Mann, der kurz darauf einem Herzinfarkt erlag nicht widersprechen, ja eigentlich fand ich sogar Gefallen an der Idee, mich in einem dunklen Saal von Bildern und Tönen berieseln (in diesem Fall eher beschießen) zu lassen, um dann ein paar mehr oder weniger schlaue Sätze zu schreiben. Der eigentlich zuständige Rezensent hatte mir sogar mit vor Husten röchelnder Stimme durch das Telefon eine kleine Einführung in das Werk dieses Nolan gegeben und ich fühlte mich bereit, meine erste Rezension zu verfassen. Ein wenig besorgte mich zwar, dass ich nur 30 Minuten nach dem Abpfiff des Films bei einem Eishockeyspiel außerhalb der Stadt sein musste, aber ein wenig Sport, so dachte ich, könne mir nicht schaden, selbst wenn es nur ein Sprint zum Auto wäre.

Im Kino sah ich dann viele verschiedene Rezensenten (vor allem Männer, die ohne Unterlass über das Kino sprachen bis der Film begann und sobald dieser endete wieder mit dem Sprechen begannen), die sich mit Kugelschreibern und Notizblöcken und Wurstsemmeln und Kaffeetassen und ihren Regenschirmen und Bananen im Kino ausbreiteten. Auch ich zückte meinen Notizblock, auf dem ich sonst Statistiken festhielt, die ich bei Sportveranstaltungen aufschnappte, zum Beispiel „das letzte Mal, dass wir in einem Spiel dreimal die Latte trafen, gab es noch gar keine Latte.“. Als die Lichter im Kinosaal ausgingen, wurde mir klar, dass ich meinen Notizblock gar nicht würde sehen können. Ich spähte zu meiner Seite und sah, dass manche der Rezensenten mit leuchtenden Kugelschreibern ausgerüstet waren, was mich etwas zum Schmunzeln brachte, ich weiß nicht genau weshalb.

Ich packte den Notizblock also zurück in meine Tasche, aber das ist nicht das, was mir peinlich ist an dieser Geschichte. Denn wenige Minuten nachdem der Film begonnen hatte, hörte ich durch den Lärm des Films das laute Summen einer überdimensional großen Fliege, die schnurstracks auf meiner Nase landete und keine Anstalten machte sich von dort wegzubewegen. Zunächst wischte ich mit der gewohnten Geste des genervten Ärgers, die wir in solchen Situationen alle an den Tag legen, die Fliege beiseite, aber sie sprang nur über meine Hand und landete wieder auf meiner Nase. Es ist kein angenehmes Gefühl eine Fliege auf der Nase sitzen zu haben, schon gar nicht, wenn man sich eigentlich auf etwas anderes konzentrieren sollte.

Ich schlug also mit etwas mehr Nachdruck, aber wieder entwischte mir das Insekt, um seine kühlen Beinchen direkt über meinem Nasenloch zu platzieren. Ich war verdutzt, so etwas war mir noch nie passiert. Für einige Zeit wiederholte ich meine Schläge und versuchte dabei angestrengt das Geschehen auf der Leinwand im Blick zu behalten, was mir aufgrund der komplizierten Handlung, die sich wohl auf verschiedenen Zeitebenen bewegte, nicht ganz leicht fiel. An der Fliege irritierte mich besonders, dass sie entspannt und müde schien, wenn sie auf mir saß, also eigentlich eine leichte Beute sein müsste, aber sich sobald ich mich ihr näherte mit jugendlichem Geschick aus jeder noch so brenzligen Lage befreite. Ich veränderte mehrfach meine Sitzposition und mein dauerndes Herumgefuchtel heimste mir einige Psssts aus der näheren Umgebung ein. Ich versank in meinem Sitz und war der Verzweiflung nahe. Im Film schien immer noch erklärt zu werden, um was es eigentlich gehe, aber davon bekam ich nur wenig mit.

Ich entschied mich den Saal zu verlassen, um das Problem im Foyer oder wenn es sein musste auf der Toilette in Ruhe zu lösen. Ich stand also zur Empörung jener Rezensenten, die hinter mir saßen auf und verließ den Saal, wobei ich gekonnt, wenn auch von niemanden bemerkt, so tat, als müsste ich nur kurz und aus den üblichen Gründen austreten. Aber sobald ich den Saal verlassen hatte, war von der Fliege keine Spur mehr. Pures Glück! Ich war sie los. Ich verharrte einige Augenblicke im leeren Foyer, um keinen Verdacht bei den anderen Rezensenten auszulösen und schritt schließlich gelöst und nicht ohne jene Erleichterung vorzuspielen, die uns nach Entleerung der Blase durchaus eigen ist, zurück zu meinem Sitz. Aber just in dem Augenblick, in dem ich mich setzte, war sie wieder da und landete ohne zu zögern auf meiner Nase. Verzweiflung!

Nachdem ich wieder versuchte die Fliege mit einigen reduzierten Bewegungen (um die anderen Rezensenten nicht wieder gegen mich aufzuhetzen) loszuwerden, versuchte ich eine Zeit lang sie zu ignorieren und mich auf den Film zu konzentrieren. Aber sobald mir das halbwegs gelang (so gut man sich eben auf einen Film konzentrieren kann, wenn eine zu große Fliege auf der eigenen Nase sitzt), bewegte sich die Fliege leicht und kitzelte mich. Ich musste niesen und auch dafür erntete ich einige scharfe Blicke, die ich in der Dunkelheit des Kinos glücklicherweise nicht sehen musste. Da erinnerte ich mich meiner Wasserflasche. Vorsichtig griff ich in meine Tasche und zog unter doch zu lautem Plastikknacken meine Flasche hervor, öffnete sie erstaunlich leise, legte meinen Kopf zurück und schüttete den gesamten Inhalt in mein Gesicht. Das müsste doch genug sein, um einer solche Fliege ein Trauma zu verpassen. Dachte ich. Aber die Fliege blieb einfach sitzen, ja, ich war mir sogar sicher, dass ich fühlen konnte wie sie begann zu trinken oder mich abzuschlecken wie eine durstige Katze.

„Können Sie das bitte unterlassen? Sie stören.“, hörte ich plötzlich eine Stimme ganz nah an meinem Ohr. Eine ältere Dame, deren Augen mich an eine Fliege erinnerten, hatte sich neben meinen Sitz begeben, um mit strengen, herablassenden Ton das zu adressieren, was der ganze Saal denken musste. Ich nickte nass. Die Dame zog sich zurück zu ihrem Platz, wo sie herzhaft in einen Croissant biss und ich verblieb wie erstarrt, die Fliege auf meiner Nase, die Augen mehr in Richtung Decke als Leinwand und gelegentlich tropfte Wasser von meiner Schläfe hinab auf den von Popcornresten übersäten Boden.

Es ging mir so manches durch den Kopf. Zum Beispiel dachte ich an Ludwig Wittgenstein, der die Aufgabe der Philosophie einmal darin sah, einer Fliege beizubringen wie sie aus einer Flasche entkommen könne. Ich war mir nicht sicher, wer zwischen mir und der Fliege die Fliege war und wer die Flasche. Eine Zeit lang versuchte ich das Tier mit meinen Händen zu fangen, um es in meiner geschlossenen Faust gefangen zu halten, um wenigsten noch etwas vom Film mitzubekommen, der inzwischen schon eine vierte oder fünfte Zeitebene eröffnete. Aber das Biest entkam mir immer wieder und kroch triumphierend zwischen meinen Fingern hervor. Ich pustete so gut ich konnte mit vorgeschobener Unterlippe nach oben, um meine Nase einem nie gekannten Sturm aus Puste auszusetzen, aber nichtmal die Flügelpaare des Insekts flatterten. Aus meiner Verzweiflung schälte sich langsam eine Wut. Ich schlug etwas fester nach dem Tier, aber das Ergebnis war immer das Gleiche.

Jetzt bemerkte ich immerhin, dass wie angekündigt Ski zum Einsatz kamen und das schneeweiße Licht auf der Leinwand erhellte das Auditorium und ermöglichte mir für einige Momente schielend, einen Blick auf die Fliege zu erhaschen. Ihre Augen waren giftgrün und spöttisch. Sie sah mir direkt in die Pupillen und ich konnte erkennen, dass sie es ernst meinte. Sogleich verdunkelte sich der Saal wieder und ich wollte keine Sekunde mehr verstreichen lassen. Mit voller Wucht schlug ich mir ins Gesicht, verpasste die Fliege denkbar knapp und hörte nur mehr ein Knicken (mein Nasenbein).

Für einige Sekunden war ich ausgeknockt, zumindest kam es mir so vor als ich plötzlich einen sich drehenden Kreisel auf der Leinwand sah und dann den Abspann. Meine Nase schmerzte höllisch, von der Fliege keine Spur. Zu meinem Glück begannen die Rezensenten schon während des Abspanns ihre Urteile laut von sich zu geben. Sie erzählten sich die Handlung nach, spielten sie sogar vor und ich hatte so ein recht umfassendes Bild des Films und einen ganzen Sack voller Adjektive noch bevor der Abspann endete. Ich erinnerte mich an das anstehende Eishockeyspiel, packte meine leere Flasche zurück in die Tasche und rannte blutend und nass aus dem Kino. In der Redaktion erzählte ich den ob meines demolierten Gesichts eher amüsierten als verstörten Kollegen am folgenden Tag, dass mir ein Puck vom Spielfeld auf die Tribüne ins Gesicht geflogen wäre beim Eishockey, was alle zufrieden stimmte, ja sogar beglückte.

Die Rezension musste ich trotzdem schreiben, was mir mit Hilfe der Erzählungen der anderen Rezensenten, einer ausufernden Pressemappe und diverser bereits existierender Rezensionen im Internet problemlos gelang, ja, anscheinend sogar so gut, dass mein Text es auf die erste Seite des Feuilletons schaffte (eine Seite, die in unseren Breitengraden manchmal gar nicht existiert) und ich fortan ins Kino geschickt wurde, um zu rezensieren. Die Geburt eines Rezensenten, sozusagen. Die Fliege habe ich nie wieder gesehen und etwas ähnliches ist mir seither nicht passiert, aber bis heute habe ich immer Insektenspray bei mir, wenn ich etwas rezensiere.