Crushed Gems: When a Woman Ascends the Stairs von Mikio Naruse

In einem von Mikio Naruses großen Filmen, entstanden in der produktivsten Phase seines Schaffens, sieht man eine Frau. Man sieht ihre traurigen, verzweifelten Augen, ihren vom Kimono gerade noch zusammengehaltenen, geschundenen, ums Überleben und die Würde kämpfenden Körper, man sieht ihre Füße, die sich Tag für Tag die Stufen zur Carton Bar in Ginza hoch kämpfen. Draußen auf den Straßen blinkende Lichter, harter Asphalt, verworrene Wege. Oben angekommen, setzt sie ein Lächeln auf, dass überzeugender und falscher nicht sein konnte. Man sieht nichts, wenn man nichts sehen will. Ihr Lächeln existiert, um zu verstecken und alle die dahinter sehen, nutzen es schamlos aus. Naruse findet dieses Lächeln immer. Es ist still und tut weh. Er macht Nahaufnahmen, die direkt in die Seele blicken und dabei nichts zeigen außer der Oberfläche eines Gesichts. Er macht halbnahe Einstellungen, in denen sich der Körper um sich selbst windet, auf einem Bett wankt und wiederholt fast aus dem Bildrahmen fällt. Formen einer verlorenen Körperlichkeit, die sichtbaren Narben einer Gefangenschaft. Geschmückt von Blumen, umrahmt von Parfümfläschchen und Blättern im Wind. Sanft bleiben und alles zeigen. Wie viele Arbeiten von Naruse ist auch When a Woman Ascends the Stairs eine Geschichte der Ausbeutung, eine Offenlegung patriarchaler Systeme, die Frauen in einer alternativlosen Welt zwischen zerrinnenden und zerronnenen Träumen zurücklassen.

Die Frau heißt Keiko, wird aber von allen nur Mama genannt. Sie balanciert mit den betrunkenen Machtmännern, hält sie bei Stange, schenkt ihnen immer genau so viel ein, dass sie durstig bleiben. Sie wird 30 und steht vor einer Entscheidung, die keine ist: Heirat oder eine eigene Bar eröffnen. Für beides braucht sie in diesem Japan einen Mann und dessen Geld. Jeder Blick fällt auf Keiko. Sie muss Geld verdienen, sie muss dieser Welt entkommen. Keiko verweigert sich, dann lächelt sie wieder einnehmend. Plötzlich spuckt sie Blut. Die Spirale einer Flucht ohne Fluchtpunkt, eines Anrennens gegen Mauern, einer sisyphosartigen Manie. Die zärtliche Hoffnung einer hoffnungslosen Welt. Sich wehren, einen Ausbruch wagen, scheitern.

Man sieht viele Filme in diesem Japan der formellen Nacht. Im Vergleich zum französischen Kino finden sich in den entsprechenden Etablissements kaum die Verlockungen fiebriger Nächte. Kein Kerzenlicht, die Wärme liegt wenn dann in entspannten Jazzfarben von Toshiro Mayuzumi. Doch darin riecht man auch den Alkohol, die Müdigkeit der langen Tage, jene versumpfte Männlichkeit, die diese Frauen erstickt. Darüber hinaus ist alles statisch, geregelt, bleibt im Verborgenen. Die Bilder von Naruse oder auch Mizoguchi filmen gar nicht das, was da passiert, sondern die Risse dazwischen. Feinste Steine, die sich aus den notdürftig gemauerten Wänden der von Schulden überdachten Nachtlokalitäten lösen und auf den Boden tropfen. Stein für Stein wird so etwas sichtbar, das sich meist in Tränen, Suizid, Mord oder einem tragischen Weiterleben auflöst. Es ist die Dramaturgie des Lebens verkleidet als Spannungsmoment des Überlebens.

Schaut man sich einen Film wie den zeitweise hyperventilierenden Uncut Gems der Gebrüder Safdie an oder die bemerkenswerten Schlussminuten von La Deuda von Gustavo Fontán weiß man, dass diese absurde Art des Erzählens in einen Käfig hinein auch heute Konjunktur hat. Man zeigt Protagonisten, die sich befreien wollen. Allerdings bedienen sie sich dabei, auch weil sie keine Wahl haben, der Mittel, die sie gefangen halten. Als würde man aus dem Gefängnis ausbrechen, in dem man sich einsperrt. Der Unterschied ist, dass Naruse von einem menschlichen Schicksal ausgeht, um mit diesem Menschen die unüberwindbaren Grenzen der Gesellschaft zu entdecken während die Safdies oder Fontán diese Grenzen voraussetzen und sie als dramaturgisches Element bedienen. Es macht einen riesigen Unterschied, ob Grenzen entdeckt werden oder vorausgesetzt. Man muss dabei nur an die Politik denken. Das Lächeln von Adam Sandler bei den Safdies verhüllt den Mann, der er eigentlich nicht ist. Dass von Hideko Takamine bei Naruse verhüllt die Frau, die sie eigentlich ist. Wenn man nun durch das Lächeln hindurch blickt, kann man nur bei Naruse etwas sehen.