Im hügeligen Eukalyptuswald, umgeben von Medronho-Büschen, Nespera-Mispeln, Eierschwammerln und Kastanien liegt auf einer Anhöhe das wie ein Jagdschloß anmutende portugiesische Filmarchiv ANIM. Vor 1996 war hier eine Quinta, auf der Wein wuchs. Eine ungeöffnete Flasche roter ANIM-Wein, vermutlich für die Eröffnung damals produziert, steht noch bei mir im Zimmerschrank. Ungewöhnlich, denn in der Gegend dominiert die weiße Arinto-Traube – der Grüne Veltliner Portugals. Das Etikett der Weinflasche wurde von Rita Azevedo Gomes gestaltet. Es würde mich interessieren, wie der Jahrgang schmeckt.
Täglich morgens hält der aus Lissabon kommende Privatbus am Fuße des steilen Hügels zum Archiv hinauf und die Archivarbeiter*innen erklimmen, an der großen Kaktusfeige vorbei, diesen Kalvarienberg. Es ist anstrengend, die Steigung unerbittlich. Viele treibt Musik aus dem Kopfhörer an – Reggaeton oder vielleicht Kuduro? Einmal ausgelaugt oben angekommen, stellt sich Hündin Scarlett zur Begrüßung in den Weg und empfängt die streichelnden Ehrenbezeugungen. Mit manchen heult sie sogar ein gemeinsames Lied. Die Türen im Gebäude haben weiße, ovale Türgriffe, die sich den Handgelenken mit hartem Widerstand entgegenstellen. Die großen Fenster sind undicht und oft regnet es im Winter ins Gebäudeinnere hinein. Überhaupt ist dieses Archiv für den menschlichen Körper eine Herausforderung. Jede Kante, an der man im Stiegenaufgang vorbeigeht, ragt etwas zu weit in den Raum, jede Tür ist etwas zu schmal, sodass man öfters in etwas hineinläuft oder eine*n Kolleg*in unabsichtlich erschreckt. Einige Bürozimmer haben angeschlossene Terrassen, die sich ins Freie öffnen, wie in einer Zeichnung von M. C. Escher. In den dekorativen Brunnen in ihrer Mitte befindet sich kein Wasser.
Blickt man von der Veranda der Kantine über die bauschigen Baumkronen des Waldes, stellt sich sofort Entspannung ein. Es sieht so aus, wie in Steven Spielbergs Jurassic Park. Nur gibt es hier keine Dinosaurier zu John Williams-Streichern, sondern es blöken Schafe und meckern Ziegen aus der Entfernung. Manchmal wiehert auch ein Pferd von der nahegelegenen Koppel. Und wenn man will, lässt man sich mit dem Golfkart zum Nitrofilmbunker am anderen Ende des Grundstücks fahren.
Ein verzauberter Ort, dieses Archiv, als stünde es unter einem magischen Bann. Wer einmal von außen eintaucht, zu Besuch kommt oder sich ein paar Monate zur Recherche aufhält, spricht noch lange von dieser Landschaft in mystischen Tönen. Allein die Seltenheit, dass es hier noch ein analoges Filmlabor gibt, jeden nur erdenklichen Kinoapparat und Projektor. Andere werden das Archiv als ihren lebenslangen Arbeitsplatz im Staatsdienst jedoch nie wieder verlassen, auch wenn sie es sich noch so ersehnen. Das Archiv gleicht einer Metapher für Portugal. Eingeschnürt in ein Korsett einer Nation, die überquillt vor Ideen, Geschichte und Literatur, aber voller Fransen und offenen Nähten – voll unberechenbarer Paradoxien wie der zwiespältige Zauber des Archivs selbst.