Der Wiener braucht sein Kaffeehaus. Das war bei mir immer so. Es muss die erste Wahl sein, nicht irgendein Café. In Amsterdam war es für mich das Café Welling, hinter dem Concertgebouw. Ich erinnere mich an Mabuse-artige Treffen mit Freund*innen am runden Tisch in der Mitte, bei Jenever und kleinen Bieren, während die Hände konspirativ am Tischteppich ruhten. In Wien war ich immer im „Haw“, also im Café Hawelka. Im Bräunerhof nur dienstags, da war das Haw zu. Das Haw war mein Versteck und Wohlfühlort, Büro und Hafenkneipe in einem. Also ein Hafen, von dem man seine Träume spinnen konnte, in die Ferne, raus aus Wien. Hier war man geschützt, hier war man mit seinen Gedanken sicher. Draussen, in den Öffis, in der Schule, auf der Uni, im Büro: Menschen, Wettbewerb, Alltagshärte, funktionelles Sich-Einordnen. Drinnen, im Kaffeehaus vom Sitzplüsch gestützt: Zeitungen, Gespräche über den Tischhorizont hinaus, Beobachtungen des/der Fremden, lustvolle Utopien spinnen.
Für mich ist das Kaffeehaus meine Kathedrale des Denkens. Der einzige Ruheort, den ich akzeptiere, wo ich uneingeschränkt und ohne Ablenkung sein kann. Und obwohl man immer denkt, man sei deswegen so frei und besonders, im Sinne des Kaffeehauses, bin ich damit doch stereotypisch (alt-)wienerisch. Als viele der alten Kaffeehäuser zumachten, oder im Fall vom Hawelka oder dem Kaffee Alt Wien sich bewusst dem Hypertourismus öffneten und so etwas von ihrer Diversität an Gestalten verloren ging, dann musste man halt doch auf die zweite Liga ausweichen. Aufs Korb ein paar Jahre und jetzt nur noch, wenn ich in Wien auf Besuch bin, in den Bräunerhof. Nicht mehr nur am Abend ins Kleine Café, wie früher, sondern untertags. Selbst das Weimar in Währing, das für mich immer wie das Griensteidl, das Landtmann oder das Sacher ein biederes Konditorei-Ambiente (wo es eher um den Kuchen als um den Kaffeegeist geht) hatte, wurde dann zur Option. Ich denke, es ist die sich anbahnende Altersmilde, gefördert durch die historischen Poster der Semmeringbahn, die dort im Salon hängen.
Hier in Lissabon ist meine Denkkathedrale das Café Dias. Im Café Dias gibt es diese Typen noch, dieses Bezirkstheater. Und zwar nicht nur nächtens mit Alkoholturbo befeuert, sondern ganztägig. Das Dias ist wie eine Botschaft, ein soziales Zentrum auf dem Hügel von Santo Amaro, wo man vom Parkplatz aus auf die andere Uferseite des Tejo blicken kann. Dort nach Porto Brandão und Trafaria, wo Kraftwerke und Industrie die Landschaft prägen. Es befindet sich in der Nähe der Rotunde der Capela de Santo Amaro, wo es Hände und Füße aus Wachs gibt. Ein Pilgerort, in dem die Leidenden ihr Heil finden. Ich lindere mein Leid im Dias, in dem ich mich beim Bestellen an der Bar selbst im Spiegel sehe und zugleich andere Gäste beobachten kann. Im Dias ist es ähnlich und doch irgendwie anders als im Wiener Kaffeehaus. Hier kommen beim Aufsperren – wie im Hawelka die Mistkübler damals – die Bauarbeiter um acht Uhr früh auf einen Kaffee oder gleich ein Bier vorbei. Die Literaten treffen sich montagabends, die Jazzer am Donnerstag zum Jam. Und dazwischen alle möglichen aus dem Bezirk: Alte, Familien, tollende Kinder, keifende Zwerghunde und unternehmerische Expats. Pedro, Paulo, Rodrigo und Elsa begrüßen sie gleichermaßen freundlich. Vielleicht ist es doch eher wie in einem britischen Pub – ein Ort für alle: Saúde!