Anfang der 60er Jahre machte sich Vittorio De Sica daran, Jean-Paul Sartres Theaterstück Les Séquestrés d’Altona zu verfilmen. Sartre lässt darin den halbverrückten Spross einer reichen Industriellenfamilie aus Altona auf dem Dachboden des herrschaftlichen Familienanwesens die Psyche der janusköpfigen Gesellschaft der Nachkriegszeit aufdecken. Im Film übernimmt diese Rolle Maximilian Schell, den De Sica gekonnt durch das existenzialistische Kammerspiel Sartres peitscht. Diese Szenen in Schells Refugium, die vor allem auf psychologisch tiefe Dialoge setzen, bricht De Sica allerdings immer wieder mit Ausblicken in die „echte Welt“ auf. Das heißt, er begibt sich auf die Straßen Hamburgs, die Reeperbahn, in die monumentalen Werften des Hafens, und stellt so einen sehr viel eindeutigeren Bezug zur Bundesrepublik her, als Sartre – die Bühnenfassung hat eindeutig universelleren Charakter. Neben dieser allegorischen Funktion dienen diese Szenen natürlich auch der Auflockerung des Rhythmus und bieten De Sica Gelegenheit seine souverän-eleganten Kamerafahrten für sich sprechen zu lassen und die räumliche Beengtheit der Kammer zu verlassen.
Im Folgenden widme ich mich nun einer Sequenz zu Beginn des Films, in der De Sica seine inszenatorische Finesse dazu einsetzt, mit Hilfe des besonderen Charakters der Stadt einen Protagonisten einzuführen und die Stimmung für den ganzen restlichen Film festzulegen. Dies tut er zugegebenermaßen nicht auf allzu subtile Weise, aber keineswegs aufdringlich oder brachial. Ich denke, das Besondere an seinem Regiestil ist die Eleganz und Souveränität, mit der er die (zu) eindeutigen Gesten in seiner Bildersprache verschleiert.
Zu Beginn der Sequenz befinden wir uns kurz nach Minute fünf im Film. In der Vorspannsequenz sah man deutsche Soldaten an der verschneiten Ostfront russische Partisanen foltern, in der darauffolgenden Szene erfährt ein alter Mann, gespielt vom amerikanischen Hollywoodveteranen Frederic March, dass er an Kehlkopfkrebs erkrankt ist, und nur mehr sechs Monate zu leben hat. Der Mann scheint sich mit diesem Urteil abzufinden – sechs Monate reichen ihm, sagt er – trotzdem wirkt er bei Verlassen der Praxis wie ein geknickter, sterbender, alter Mann. March wird zunächst als brüchiger Charakter dargestellt, zwar wirkt er gefasst, doch lernt ihn das Publikum in einem Moment der Schwäche kennen.
Frederic March verlässt also die Arztpraxis, marschiert gefasst, wie nach jedem anderen Termin in Richtung seines Wagens. Dort wartet bereits ein Chauffeur, der die Autotüre öffnet und dabei artig die Kappe abnimmt. Der alte Mann strahlt ohne Zweifel Respekt aus, der Umgangston der 60er Jahre war noch weitaus förmlicher als heute; aber dennoch – dieser Mann ist kein Umberto und schon gar kein armer Schlucker. Mit entschlossenem Blick stiert er schließlich aus dem Fenster, während der Wagen sich in Bewegung setzt. Wer ist dieser alte Mann? Wer ist dieser Mann, der einen noblen Wagen samt Chauffeur vorzuweisen hat?
Nächster Schauplatz: der Hamburger Hafen. Mächtige Schiffe zeichnen sich vor dem nebelverhangenen Horizont ab. Es regnet nicht, doch wirkt es unangenehm kalt. Passend zum Wetter kommt der alte Mann mit säuerlichem Blick wieder ins Bild. Nun kaum mehr geknickt, aber noch immer mit seinen Röntgenunterlagen unter dem Arm, steht er wie eine Statue vor dem Hamburger Hafenpanorama – hinter ihm weht gar eine Flagge im Wind. Kurz ist man räumlich desorientiert – der Alte scheint über dem Hafen zu schweben, bis sich herausstellt, dass er an Bord eines kleinen Bootes das Hafenbecken durchquert. Dieses Boot ist keine Fähre, sondern scheinbar nur für den alten Mann allein gedacht; nach einem Luxuswagen nun also ein ebenso exklusives Fortbewegungsmittel zu Wasser. Noch mehr als diese Tatsache, fällt aber De Sicas Inszenierungsweise ins Auge; wie eine griechische Statue wird der Alte an Bord seines Schiffes in majestätischer Pose abfotografiert und verzieht dabei keine Miene, sondern trotzt dem Wetter, als könne es ihm gar nichts anhaben. Der Eindruck verstärkt sich, dass dieser Mann mehr auf dem Kasten hat, als man es beim Verlassen der Arztpraxis womöglich erwartet hätte.
Eine Schleuse tut sich auf, das Boot mit dem alten Mann an Bord begibt sich in das Innere eines größeren Werftgeländes. Dort begegnen ihm mehrere Boote ähnlicher Größe, die als Fähren für Werftarbeiter dienen. Der Alte überblickt das Geschehen und verzieht weiterhin keine Miene, während die Mannschaften an Bord der entgegenkommenden Schoners dem Alten respektvoll zujubeln. Ist das der Triumphzug Cäsars? Doch was ist das für ein eigenartiger Pyrrhussieg, den der alte Mann erfochten hat; sechs Monate verbleiben ihm in diesem Leben noch – was für ein Reich hinterlässt dieser Feldherr? Und welche Schlachten sind noch ausständig, um es zu konsolidieren?
In einer letzten Einstellung im Hafen blickt die Kamera auf ein riesiges, in Bau befindliches Schiff, auf den das kleine Boot zusteuert. Von der Schiffsschraube aufwärts beginnt die Kamera hochzuschwenken, ganz oben über der Werft prangt der Schriftzug „GERLACH“, der schon zuvor auf dem Tor der Schleuse zu lesen war. Gerlach heißt also das Reich, in das der Mann einzieht, dem soviel Respekt entgegengebracht wird. Wer aber ist nun dieser Feldherr, und welche Funktion nimmt er im Reiche Gerlach ein?
Ein Schnitt später und die Kamera hat den Hafen verlassen. Ein Meer von gezogenen Hüten empfängt Frederic March, als er ins Gewusel des Bürogebäudes eintaucht, wo er nun als solitäre Majestät durch die Masse der Untertanen schreitet. In nur wenigen Einstellungen vermag es De Sica, noch deutlicher, als in den Szenen mit den Fährschiffen zuvor, das Charisma dieses Mannes herauszukehren. Selbst als dieser im Paternoster nach oben fährt, folgen ihm die Blicke und die Menschen erweisen ihm ihren Respekt, während er weiter stoisch, maximal mit einem leichten Nicken, deren Gesten erwidert. Aus dem Paternoster schließlich der erste echte POV-Shot in dieser Sequenz: der Mann blickt herab auf die Angestellten und Arbeiter und die abgenommenen Hüte. Das ist Macht.
Schließlich betritt der alte Mann ein großes Büro. Ein Kameraschwenk folgt ihm, während er an einem Besprechungstisch vorbeigeht; im Hintergrund die Kranlandschaft des Hamburger Hafens. Das Büro thront augenscheinlich über dem Hafen. Ein großer Bürotisch kommt ins Blickfeld, zu diesem Zeitpunkt vermuten wir schon, dass der Alte nicht für eine Besprechung hier ist, sondern hinter dem Tisch Platz nehmen wird. Der Tisch ist ein Thron, ein angemessener Platz, nicht bloß für einen Feldherren, sondern für einen Cäsaren erster Güte. Frederic March ist Gerlach.
Der Kameraschwenk stoppt, als der Mann den Tisch erreicht. In einem kurzen Moment der Ambivalenz wirft er seine Krankenunterlagen auf den Tisch und ruft wieder das Phantombild des gebrochenen, alten Mannes vom Anfang zurück ins Gedächtnis. Im nächsten Augenblick sammelt er sich, macht es sich auf seinem Sessel bequem und verstaut die Unterlagen in einer Schublade – aus den Augen, aus dem Sinn.
Nach nunmehr drei Minuten Laufzeit wird der Alte erstmals in dieser Sequenz von einer anderen Figur in eine Konversation verwickelt. Ganz ohne gesprochene Worte hat De Sica bis dahin Frederic March als den Industriellen Gerlach präsentiert. Gerlachs rechte Hand Gelbert betritt nun das Büro, um seinem Chef die neuste Ausgabe des Spiegels vorzulegen; Gerlach ist am Cover – ein echter „Gigant von Deutschland“. Nun sind alle Zweifel beseitigt – dieser Mann hat Macht. Die Analogie von der griechischen Statue, die über dem Hamburger Hafen thront, hat im Nachhinein Berechtigung erfahren.
Doch irgendetwas stimmt nicht. Gerlach scheint über Gelberts Bericht verstört zu sein. Ist das bloß eine Nachwirkung der soeben vernommenen Nachricht über seinen baldigen Tod? Oder ist der Artikel im Spiegel womöglich weniger schmeichelhaft, als es das Titelbild suggeriert?
Gelbert schlägt die Zeitschrift auf und spricht über einen Mann namens „Franz“. Eine Fotografie eines jungen Mannes in deutscher Uniform ist zu sehen – „Franz Gerlach“ die Bildüberschrift, „Heldentod bei Smolensk“ die Bildunterschrift. Dieser Mann war bereits unscharf im russischen Schneegestöber der Vorspannsequenz zu sehen. Abermals schwenkt die Kamera hoch, und über der Fotografie aus der Zeitung wird dieselbe Fotografie eingerahmt am Tisch des alten Gerlachs gezeigt. Der Alte wirkt wieder gefasst und sogar ein leichtes, wenn auch müdes Lächeln zeichnet sich auf seinem Gesicht ab. Ein weiterer Krieger, einer, der den verlustreichen Kampf nicht überstanden hat. Nun wird die wahre Drastik der Situation deutlich. Der Erbe des sterbenden Herrschers weilt selbst nicht mehr unter den Lebenden. Warum wirkt der Alte dann aber so gefasst angesichts seines eigenen Endes? Wie bewahrt er seine innere Ruhe, und was entlockt ihm sogar ein Lächeln in Anbetracht dieser ungünstigen Situation?
Diese und weitere Fragen klärt der weitere Verlauf des Films, in der der Mann am Foto eine gewichtigere Rolle einnimmt, als der sterbende Patriarch. Trotz dieser qualitativen Verschiebung bleiben diese anfänglichen Fragen nach dem Verhältnis zwischen Mann und Firma, Vater und Sohn relevant.
Die Art und Weise, in der De Sica diese gebrochene Figur Stück für Stück zur majestätischen Führungspersönlichkeit aufbaut, beruht auf den eingangs erwähnten Eigenschaft des ihm eigenen Regiestils. Eindeutig, aber nicht aufdringlich, setzt De Sica Symbolik ein, gibt genug Informationen frei um die Ausgangslage zu beschreiben, verkauft sein Publikum aber nicht für dumm, sondern vertraut fast ausschließlich auf visuelle Elemente, um den Charakter und seine Position einzuführen. De Sica mag nicht zu den ganz großen Autorenfilmern gehören, aber ohne Zweifel verfügt er über beträchtliche handwerkliche Qualitäten und einen Sinn für visuelles Erzählen, und über die gleiche Noblesse und Leichtfüßigkeit, die ihn auch als Schauspieler auszeichnen.