De Sica-Retro: Vittorio, Schauspieler

Vittorio De Sica

Wenn eine Retrospektive zu Vittorio De Sica eines zeigt, dann, dass er keinesfalls auf seine neorealistischen Filme zu reduzieren ist – zu vielseitig und unstet ist sein Schaffen. Was ihn wirklich ausmacht, ist schwer zu sagen, außer einem Hang zu eleganter Inszenierung (so wenig das heißen mag) und wiederkehrender Motive, findet sich kaum ein roter Faden in seinem Oeuvre. Hier, am Blog haben wir uns schon ein wenig mit De Sicas Talent in der Auswahl seiner Darsteller beschäftigt, ich will im folgenden Beitrag aber quasi vor die Kamera wechseln und mich mit De Sicas Schauspielkarriere befassen.

Meint man, der Regisseur De Sica sei nur wenig oder ungenügend erforscht, so sieht man sich in einer Auseinandersetzung mit seinem schauspielerischen Lebenswerk mit noch marginaleren Aufzeichnungen und Analysen konfrontiert. Der Schauspieler De Sica, obwohl über rund drei Jahrzehnte einer der prägenden leading men der italienischen Filmindustrie, und bis heute dem (italienischen) Publikum noch gut im Gedächtnis, hat es nie geschafft das Interesse der Akademiker und Kritiker auf sich zu zehen. Verkompliziert wurden meine Recherchen noch durch den Umstand, dass meine Italienischkenntnisse für eine Auseinandersetzung mit einschlägiger Literatur in De Sicas Muttersprache unzureichend sind. Schließt man diese Quellen aus, so sieht die Sache noch prekärer aus.

Vittorio De Sica

De Sicas Schauspielkarriere ist eng mit seinem Lebenslauf verknüpft, ich wage zu behaupten enger als seine Arbeiten als Regisseur. Geboren 1901 in Sora im Latium, auf halbem Weg zwischen Rom und Neapel, komm er aus bescheidenen Verhältnissen. Er selbst bezeichnete sich als aus einer armen Familie stammend und obwohl viele hungrige Mäuler zu versorgen waren, lässt die väterliche Erwerbsbiografie darauf schließen, dass die Familie eher der unteren Mittelschicht zuzurechnen ist. Der Vater Umberto war Bankangestellter und wurde mehrere Male versetzt, was die ursprünglich neapolitanische Familie erst nach Sora gebracht hatte, und später nach Florenz weiterziehen ließ. Die verschiedenen Aspekte der italienischen Kultur mit denen er durch die häufigen Umzüge konfrontiert wurde, verarbeitete er später in seinen Regiearbeiten; selbst sah er sich aber in erster Linie als Neapolitaner.

Durchaus kurios dann seine Jugendjahre. Während er selbst eine sichere Position in einer Bank oder ähnliches anstrebte, also seinem Vater nacheiferte, sah dieser für seinen Sohn eine Zukunft im Showbusiness. Durch Bekannte sicherte Umberto dem jungen Vittorio erste Filmrollen in den Jahren 1917 und 1918, die Vittorio nur annahm um damit seine Schulgebühr bezahlen zu können – fürs Schauspielen begeistern konnte er sich noch immer nicht so recht.

Seine Meinung sollte sich erst in den 20er Jahren enden, als er nach Beendigung seines Militärdiensts in die Theatertruppe von Tatjana Pawlowa eintrat. Zuerst spielte er alte Männer und Clowns, wurde aber bald durch sein gutes Aussehen und sein elegantes Auftreten als Hauptdarsteller in diversen Romantikkomödien eingesetzt. Die gleichen Eigenschaften sollten ihn rund zehn Jahre später zum matinee idol der telefoni bianchi-Ära werden lassen. Nebenher verfeinerte De Sica seine Technik, entledigte sich seines neapolitanischen Dialekts und knüpfte Verbindungen zu den Almirante-Brüdern, zu Mario Mattòli und schließlich auch zu Mario Camerini – unweigerlich führten ihn diese Kreise in die Welt des Films.

Dort machte man sich seine Popularität als Theaterdarsteller zunutze und besetzte ihn zunächst in ähnlichen Rollen. 1932 gelang ihm mit Mario Camerinis Gli uomini, che mascalzoni! der Durchbruch und er wurde vom bekannten Theaterschauspieler zum Filmstar. Über die nächsten sieben Jahre folgten vier weitere Filme unter der Regie Camerinis und an der Seite der Aktrice Assia Norris, die er ebenfalls schon aus seiner Zeit am Theater kannte (durch die Mitarbeit an diesen Filmen lernte er auch Cesare Zavattini kennen, der seine Regiearbeiten entscheidend prägen sollte). Diese Filme waren es vor allem, die De Sicas Ruf als „Italian Chevalier“ bzw. „Italian Cary Grant“ festigten (auch wenn Grant wohl nie Chauffeure und Mechaniker gespielt hätte). Anders als ein Chevalier, konnte er jedoch in Hollywood nie richtig Fuß fassen, und trotz einer Oscar-Nominierung für Charles Vidors Hemingway-Adaption A Farewell to Arms, mag das mit ein Grund sein, weshalb sein schauspielerisches Oeuvre im Diskurs heute weitestgehend ausgeklammert wird.

Neben diesen filmischen Erfolgen spielte De Sica aber auch weiterhin am Theater. Mehrmals betonte er, dass er sich dort viel wohler fühle. Insgesamt schaffte er es in seiner Karriere auf rund 125 Theaterproduktionen und 160 Filmrollen. De Sica war also ein Vielarbeiter, denn nebenher inszenierte er ja auch immer wieder Bühnenstücke und eigene Filme (in sieben seiner Filme besetzte er sich selbst – teils aber nur in winzigen Nebenrollen). Dieses Arbeitspensum hat mehrere Gründe, aber vor allem mit seinem Privatleben zu tun. De Sica war notorischer Spieler (ein Faktum, das in Filmen wie Il generale della Rovere und L’oro di Napoli aufgegriffen wird) und hatte mehrere Familien zu versorgen. Für seine zweite Ehe mit der spanischen Schauspielerin María Mercader (Fun-Fact: Schwester des Trotzki-Attentäters Ramón Mercader), nahm er sogar eigens die französische Staatsbürgerschaft an, da Scheidungen zu dieser Zeit in Italien gesetzlich nicht vorgesehen waren. Darüber hinaus finanzierte er mit seinen Schauspielergagen zum Teil auch seine Regieprojekte (soweit diese nicht ebenfalls als Auftragsarbeiten aus finanzieller Not heraus entstanden).

Vittorio De Sica in Il signor Max

Aber wieder zurück in die 30er Jahre als De Sica als junger Feschak Frauenherzen höher schlagen ließ. Gutes Aussehen allein reichte dafür natürlich nicht, De Sicas Screen Persona war nicht bloß jugendlicher Liebhaber, sondern schelmischer Herzbube, ein ausgefuchster Herzensbrecher, dem man so einige Eskapaden verzieh, solange er sich am Ende nur doch für das richtige Mädchen entschied (wiederum, biographische Gemeinsamkeiten). Mit den Jahren musste sich dieses Scharlatanentum natürlich verändern, dabei kam De Sica sein Genpool zugute, denn als Italiener alterte er in Würde und mit den ersten grauen Haaren erlangte er gleichsam darstellerische Erhabenheit. Wie von Geisterhand verschwand die jugendliche Leichtigkeit und der Mechaniker der unteren Mittelschicht entwickelte sich zum italienischen Baron, zu Carabinieri-Offizier, zum Weltmann. Sein Lächeln ist geblieben, doch sein Rollenfach hat sich je gewandelt.

Diesen Umstand machte sich ein ganz großer des italienischen Kinos zunutze. Roberto Rossellini, selbst etwas in der Kritik und in der Krise besetzte De Sica 1959 als Hauptdarsteller in Il generale della Rovere, einem Film über einen Hochstapler in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs, der von einem gewieften Nazi-Offizier in ein Gefängnis eingeschleust wird, um dort als Partisanengeneral della Rovere an strategische Geheimnisse zu kommen. Rossellini macht sich De Sicas etablierte Screen Persona zunutze, passt seine Rolle an De Sicas Biografie an (Spielsucht, Vorname, Geburtsort – das volle Programm) und lässt schließlich die frivole Leichtigkeit und die schelmische Unschuld im Angesicht von Kriegswirren und Gestapofolter zu grauenvollem Horror umschlagen. Ein unglaublicher Bruch, der einen Schock auslöst, der diesen Film umso mächtiger wirken lässt.

Ein Höhepunkt seiner Karriere, auf den wenig weitere folgen sollten. Frustriert stellte er in einem Interview mit Charles Thomas Samuels gegen Ende seines Lebens fest, dass immerzu seine schlechten Filme mehr Geld verdienten, als jene, die er für gut erachtete. Wegen seiner finanziellen Misere konnte er es sich aber schlicht nicht leisten viele Rollen abzulehnen. Eine Karriere, die ihn unter anderem für Vittorio Cottafavi, Alessandro Blasetti, Augusto Genina, Dino Risi, Luigi Comencini, Mario Monicelli, Antonio Pietrangeli, Alberto Cavalcanti, Roberto Rossellini, Charles Vidor, Max Ophüls, Abel Gance, Anthony Asquith, Joseph Losey und Terence Young vor der Kamera stehen ließ endete schließlich in einem kurzen Cameo-Auftritt als verarmter italienischer Baron in der Warhol-Produktion Blood for Dracula. Ein Filmauftritt, symptomatisch für die Pragmatik in De Sicas Rollenauswahl, außergewöhnlich weil er sich selbst auf Englisch spricht, und vielleicht auch deshalb ganz kurios, absurd, befremdend überspitzt gespielt (an der Seite von Udo Kier fällt das aber kaum auf). 1974 trat Vittorio De Sica von der Bühne des Lebens ab.

 John Darretta über De Sicas Kino: „Life, at times, may be a Neapolitan festival, but it is always at the mercy of the gambler’s companion: Fate.“


Musica italiana: Alessandro Cicogninis Kompositionen für Vittorio de Sica

Wenn ich über Vittorio de Sicas Filme und ihre Besonderheiten nachdenke, ist die Musik sicherlich nicht das erste, was mir einfällt. Vielmehr hat sich die Musik in seinen Filmen der 40er und 50er-Jahre in mein Gedächtnis als sehr klassisch eingeprägt; ich hatte jedoch zugegebenermaßen niemals Zeit und Muße mich näher damit zu beschäftigen. Deshalb habe ich unsere De Sica-Retrospektive genutzt, um mich näher mit diesem Thema zu befassen.

Betrachtet man De Sicas umfangreiches Werk fällt auf, dass er mit zahlreichen Komponisten zusammengearbeitet hat, besonders sticht allerdings der Name Alessandro Cicognini hervor, der sich für die Musik von insgesamt acht Filmen unter der Regie von De Sica verantwortlich zeigt (sieben davon im Zeitraum zwischen 1946 und 1956). Es handelt sich also um eine Zusammenarbeit in eben jener neorealistischen Schaffensphase, die das Bild, das wir heute von De Sica haben, maßgeblich geprägt hat. Eine Unzahl von Texten cinephiler und filmwissenschaftlicher Autoren setzt sich mit dem Thema des Neorealismus auseinander, dabei wird oft sehr wenig auf die Musik dieser Filme eingegangen. Das mag wohl größtenteils daran liegen, dass die Musik (so wie es auch mir ergangen ist) beim ersten Hinhören kaum Besonderheiten aufweist, die sich in Zusammenhang mit der neorealistischen Ausprägung des Films sehen lässt. Cicogninis Kompositionen bilden da keine Ausnahmen; zwar wurde seine Musik von Kritikern meist positiv kommentiert und er wurde 1949 für seine Arbeit an Ladri di Biciclette mit dem Nastro d’Argento ausgezeichnet, doch sind umfangreichere Auseinandersetzungen mit seiner Musik sehr rar.

Dabei lohnt sich eine genauere Betrachtung seiner Kompositionen und deren Einsatz in den Filmen De Sicas; so fallen sein ökonomischer Einsatz von musikalischem Material und viele Feinheiten bei der Orchestrierung auf, die sich teilweise stark von scheinbar ähnlichen Kompositionstechniken aus Hollywood unterscheiden.

Schon bei seiner ersten Zusammenarbeit mit De Sica für den Film Sciuscià (1946) entscheidet sich Cicognini dafür, ein einziges dominantes musikalisches Thema als Grundlage für die gesamte Musik zu komponieren: eine fröhliche Melodie in den Holzbläsern, die Assoziationen zur kindlichen Verspieltheit der Protagonisten Pasquale und Giuseppe weckt. Dieses Thema wird in einer Art kurzen Ouvertüre zu Beginn des Films exponiert und von schweren Akkorden in den Blechbläsern kontrastiert, die später die Machenschaften der kriminellen Gesellschaft, in welche die beiden Jungen hineingezogen werden, symbolisiert. Cicognini gelingt es nicht nur mit dem kurzen Hauptthema die beiden Protagonisten zu charakterisieren, sondern er passt das Thema durch kleine Veränderungen in der Instrumentierung und Tonlage an die verschiedensten Situationen an, die während der Handlung durchlaufen werden. Die Methode, mit der Cicognini arbeitet unterscheidet sich dabei gar nicht von seinen Kollegen, die in den 30er und 40er-Jahren in Amerika die bekannten Melodien der großen Hollywood-Klassiker komponieren, schließlich greift er, ebenso wie z. B. Max Steiner und Erich Korngold, auf Praktiken zurück, die sich in der Oper des frühen 19. Jahrhunderts ausbildeten und von den klassisch ausgebildeten Filmkomponisten in ihr musikalisches Schaffen übernommen wurde. Cicognini bevorzugt es allerdings mit kleinen Ensembles oder Kammerorchestern zu arbeiten (im Gegensatz zu den großen, symphonischen Orchestern, die vielfach in amerikanischen Filmen dieser Zeit zu hören sind). Es gelingt ihm dadurch eine melodiöse Leichtigkeit zu schaffen, die bisweilen an die tänzerischen Momente bei Verdi oder Puccini, sodass die Musik sofort als „italienisch“ erkennbar ist. Ebenso wie De Sicas Themen örtlich und zeitlich fest an das Italien der 40er und 50er Jahre gebunden ist, so zeigt auch Cicogninis Musik eine Welt, in der italienische Opernklassiker sich im Bewusstsein der Gesellschaft mit zeitgenössischen Gassenhauern vermischen.

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Auch in Ladri di Biciclette (1948) und Umberto D. (1952) arbeitet Cicognini mit sehr spärlichem musikalischem Material, um die grundsätzlichen Konflikte der Handlung offenzulegen. Die unerträgliche Stagnation im Hauptthema von Ladri di Biciclette, in dem zunächst nur ein Ton umspielt wird, bevor sich die Melodie sehr langsam nach unten bewegt, steht auch für eben jenen Teufelskreis, in dem sich der Protagonist Antonio Ricci wiederfindet: seines eigenen Fahrrads beraubt, wird er selbst zum (erfolglosen) Fahrraddieb. Neben diesem Hauptthema setzt Cicognini zu mehrt auf imitatorische Mittel und spiegelt in seiner Musik z. B. Regen und Fahrradklingeln wider.

In Umberto D. verfeinert Cicognini seine Arbeit noch weiter und stellt zwei kontrastierende Hauptthemen nebeneinander: ein leichtes, walzerartiges Thema für Umberto und eine zerbrechlich-kindliche Melodie für Maria. Die Musik legt durch den Kontrast der beiden Themen zueinander nicht nur den äußeren Konflikt der Handlung offen, sondern weist auch durch die Wahl der einzelnen Themen auf die inneren Konflikte der Figuren hin. Umberto ist ein Mann, der in der Vergangenheit lebt: trotz seiner Armut würde er es nie wagen, ohne Anzug aus dem Haus zu gehen oder in der Öffentlichkeit von seinen Schulden zu reden. Er ist unfähig sich mit seiner Situation abzufinden und bringt es nicht übers Herz, die nötigen Wege zur Besserung seiner Situation einzuleiten. Das Walzerthema, das Cicognini für ihn komponiert ist eben jene Verweigerung der Erkenntnis, dass sich seine Lebensumstände geändert haben; es wird so zu einem tragikomischen Thema, das oftmals der Situation gar nicht angepasst scheint. Nur in kurzen Momenten der Klarheit rutscht der Walzer in dunkle, impressionistisch haltlose Gefilde ab und öffnet einen Blick auf das Unglück des Umberto D. Maria hingegen hat selbst nie eine andere Welt erlebt, als die, in der sie sich jetzt befindet. Sie ist jung, lebt in ärmlichen Verhältnissen und erwartet ein Kind von einem unbekannten Vater. Die Musik, die sie begleitet kennzeichnet sie jedoch selbst noch als kindlich und zerbrechlich – ist sie bereit, die Verantwortung für ihr eigenes Kind zu übernehmen? Diese Frage lassen De Sica und Cicognini unbeantwortet. Im Kontrast zwischen den in seiner Vergangenheit gefangenen Umberto und der in der Gegenwart gefangenen Maria liegt ein zentraler Konflikt der Handlung, der in der Musik sichtbar wird. Cicognini gelingt es dennoch niemals plakativ zu werden, seine Themen bleiben in Umberto D. stets ambivalent und behalten es sich vor, nicht alle Fragen beantworten zu müssen.

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1953 wagte sich De Sica mit Stazione Termini an einen Film, der im Vergleich zu Umberto D. und Ladri die Biciclette sehr amerikanisiert und kommerzialisiert wirkt. Wieder schrieb Cicognini die Musik. Es handelt sich dabei um einen Umbruch in der Zusammenarbeit der beiden, schließlich ist es der erste nicht-neorealistische Film, an dem sie gemeinsam arbeiten. Gleich zu Beginn fällt die Verwendung eines großen Orchesters auf, das mit reich besetzten Streichern das sequenzierende musikalische Hauptthema vorstellt. Auch wenn dieses Thema dramatisch-effektreich und eingängig ist und im Film immer wieder zur Verwendung kommt, so vermag es nur einen blassen Eindruck der Situation und der Protagonisten zu vermitteln. Das Hauptthema wird von Cicognini nicht mit solcher Konsequenz verwendet, wie er es in den vorangegangenen Filmen getan hat, er reichert die Musik immer wieder mit rein spannungserzeugenden Passagen an, die thematisch nicht zuordenbar sind. Zudem fällt auf, dass die Musik im Film zu mehrt melodramatisch (im eigentlichen Sinne des Wortes) verwendet wird. Dies ist eine Technik, die man im klassischen Hollywood-Kino sehr häufig, in De Sicas neorealistischen Filmen allerdings nur vereinzelt vorfindet. In solch einem Verfahren tritt die Musik stark in den Hintergrund und wird fast vollständig von einer kommentierenden oder kontrastierenden Funktion befreit. Zwar schafft Cicognini spannungsgeladene Momente, doch weiß die Musik weder auf intellektueller noch auf emotionaler Ebene so zu berühren, wie sie es in seinen früheren Arbeiten für De Sica tut.

Dass das Konzept eines kommerziellen Films unter Zusammenarbeit von De Sica und Cicognini (zumindest aus musikalischer Sicht) funktionieren kann, zeigt L’Oro di Napoli (1954). In der Tragikomödie, die aus insgesamt sechs Episoden besteht, greift Cicognini wieder auf eine konsequent thematisch arbeitende Technik zurück. Dabei entwickelt der Komponist für jede der einzelnen Episoden (außer die dritte, welche völlig ohne musikalische Untermalung auskommt) ein einzelnes passendes Thema und zudem ein einheitliches Einleitungsthema für alle Episoden. In der etwa fünf Minuten langen Ouvertüre werden, angeführt vom Einleitungsthema, alle Themen vorgestellt. In den ersten beiden Episoden wird Cicogninis Musik zwar über weite Strecken eingesetzt, doch bleibt die thematische Arbeit zu vage und wenig charakteristisch, um sich wirklich im Gedächtnis des Zuschauers verankern zu können. Erst das Thema des Comte Prosperi (Rolle gespielt von De Sica selbst) vermag mit seiner komischen Oboenmelodie und zeitweise eingesetztes Mickey-Mousing den Film maßgeblich zu bereichern und den Zuschauer zum Schmunzeln zu bringen. In der fünften Episode greift Cicognini auf dramatische Effekte ähnlich der Musik in Stazione Termini zurück, doch durch Simplizität des Themas und dessen konsequenter Verarbeitung erweist sich die Musik als viel wirkungsvoller; der erste Auftritt des Don Nicola, dessen melancholisch-mystische Streicherbegleitung mit der ersten Sekunde einen tiefen Blick in die Seele dieses gebrochenen Mannes erlaubt ohne zu viel zu verraten, gehört – dank der Musik Cicogninis – zu den besten Momenten des ganzen Films.

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Dies ist eben die Qualität von Alessandro Concigninis Musik: sie ist simpel und lässt tief blicken ohne etwas Konkretes zu erzählen. Sie deckt Konflikte auf ohne sie zu simplifizieren. Sie drängt sich nicht in den Vordergrund, aber versucht sich nicht zu verstecken. Sie ist „italienisch“ wie De Sicas Filme. Sie ist ambivalent, lebendig und niemals in sich geschlossen und bleibt so zeitlos. Sie bereichert die Filme De Sicas um einen weiteren Aspekt, den es sich lohnt genauer zu betrachten.

De Sica-Retro: Sequenzanalyse zu I Sequestrati di Altona

I Sequestrati di Altona von Vittorio De Sica

Anfang der 60er Jahre machte sich Vittorio De Sica daran, Jean-Paul Sartres Theaterstück Les Séquestrés d’Altona zu verfilmen. Sartre lässt darin den halbverrückten Spross einer reichen Industriellenfamilie aus Altona auf dem Dachboden des herrschaftlichen Familienanwesens die Psyche der janusköpfigen Gesellschaft der Nachkriegszeit aufdecken. Im Film übernimmt diese Rolle Maximilian Schell, den De Sica gekonnt durch das existenzialistische Kammerspiel Sartres peitscht. Diese Szenen in Schells Refugium, die vor allem auf psychologisch tiefe Dialoge setzen, bricht De Sica allerdings immer wieder mit Ausblicken in die „echte Welt“ auf. Das heißt, er begibt sich auf die Straßen Hamburgs, die Reeperbahn, in die monumentalen Werften des Hafens, und stellt so einen sehr viel eindeutigeren Bezug zur Bundesrepublik her, als Sartre – die Bühnenfassung hat eindeutig universelleren Charakter. Neben dieser allegorischen Funktion dienen diese Szenen natürlich auch der Auflockerung des Rhythmus und bieten De Sica Gelegenheit seine souverän-eleganten Kamerafahrten für sich sprechen zu lassen und die räumliche Beengtheit der Kammer zu verlassen.

Im Folgenden widme ich mich nun einer Sequenz zu Beginn des Films, in der De Sica seine inszenatorische Finesse dazu einsetzt, mit Hilfe des besonderen Charakters der Stadt einen Protagonisten einzuführen und die Stimmung für den ganzen restlichen Film festzulegen. Dies tut er zugegebenermaßen nicht auf allzu subtile Weise, aber keineswegs aufdringlich oder brachial. Ich denke, das Besondere an seinem Regiestil ist die Eleganz und Souveränität, mit der er die (zu) eindeutigen Gesten in seiner Bildersprache verschleiert.

Zu Beginn der Sequenz befinden wir uns kurz nach Minute fünf im Film. In der Vorspannsequenz sah man deutsche Soldaten an der verschneiten Ostfront russische Partisanen foltern, in der darauffolgenden Szene erfährt ein alter Mann, gespielt vom amerikanischen Hollywoodveteranen Frederic March, dass er an Kehlkopfkrebs erkrankt ist, und nur mehr sechs Monate zu leben hat. Der Mann scheint sich mit diesem Urteil abzufinden – sechs Monate reichen ihm, sagt er – trotzdem wirkt er bei Verlassen der Praxis wie ein geknickter, sterbender, alter Mann. March wird zunächst als brüchiger Charakter dargestellt, zwar wirkt er gefasst, doch lernt ihn das Publikum in einem Moment der Schwäche kennen.

I Sequestrati di Altona von Vittorio De SicaI Sequestrati di Altona von Vittorio De SicaI Sequestrati di Altona von Vittorio De Sica

Frederic March verlässt also die Arztpraxis, marschiert gefasst, wie nach jedem anderen Termin in Richtung seines Wagens. Dort wartet bereits ein Chauffeur, der die Autotüre öffnet und dabei artig die Kappe abnimmt. Der alte Mann strahlt ohne Zweifel Respekt aus, der Umgangston der 60er Jahre war noch weitaus förmlicher als heute; aber dennoch – dieser Mann ist kein Umberto und schon gar kein armer Schlucker. Mit entschlossenem Blick stiert er schließlich aus dem Fenster, während der Wagen sich in Bewegung setzt. Wer ist dieser alte Mann? Wer ist dieser Mann, der einen noblen Wagen samt Chauffeur vorzuweisen hat?

I Sequestrati di Altona von Vittorio De Sica I Sequestrati di Altona von Vittorio De SicaNächster Schauplatz: der Hamburger Hafen. Mächtige Schiffe zeichnen sich vor dem nebelverhangenen Horizont ab. Es regnet nicht, doch wirkt es unangenehm kalt. Passend zum Wetter kommt der alte Mann mit säuerlichem Blick wieder ins Bild. Nun kaum mehr geknickt, aber noch immer mit seinen Röntgenunterlagen unter dem Arm, steht er wie eine Statue vor dem Hamburger Hafenpanorama – hinter ihm weht gar eine Flagge im Wind. Kurz ist man räumlich desorientiert – der Alte scheint über dem Hafen zu schweben, bis sich herausstellt, dass er an Bord eines kleinen Bootes das Hafenbecken durchquert. Dieses Boot ist keine Fähre, sondern scheinbar nur für den alten Mann allein gedacht; nach einem Luxuswagen nun also ein ebenso exklusives Fortbewegungsmittel zu Wasser. Noch mehr als diese Tatsache, fällt aber De Sicas Inszenierungsweise ins Auge; wie eine griechische Statue wird der Alte an Bord seines Schiffes in majestätischer Pose abfotografiert und verzieht dabei keine Miene, sondern trotzt dem Wetter, als könne es ihm gar nichts anhaben. Der Eindruck verstärkt sich, dass dieser Mann mehr auf dem Kasten hat, als man es beim Verlassen der Arztpraxis womöglich erwartet hätte.

I Sequestrati di Altona von Vittorio De Sica I Sequestrati di Altona von Vittorio De Sica I Sequestrati di Altona von Vittorio De SicaEine Schleuse tut sich auf, das Boot mit dem alten Mann an Bord begibt sich in das Innere eines größeren Werftgeländes. Dort begegnen ihm mehrere Boote ähnlicher Größe, die als Fähren für Werftarbeiter dienen. Der Alte überblickt das Geschehen und verzieht weiterhin keine Miene, während die Mannschaften an Bord der entgegenkommenden Schoners dem Alten respektvoll zujubeln. Ist das der Triumphzug Cäsars? Doch was ist das für ein eigenartiger Pyrrhussieg, den der alte Mann erfochten hat; sechs Monate verbleiben ihm in diesem Leben noch – was für ein Reich hinterlässt dieser Feldherr? Und welche Schlachten sind noch ausständig, um es zu konsolidieren?

I Sequestrati di Altona von Vittorio De Sica I Sequestrati di Altona von Vittorio De SicaIn einer letzten Einstellung im Hafen blickt die Kamera auf ein riesiges, in Bau befindliches Schiff, auf den das kleine Boot zusteuert. Von der Schiffsschraube aufwärts beginnt die Kamera hochzuschwenken, ganz oben über der Werft prangt der Schriftzug „GERLACH“, der schon zuvor auf dem Tor der Schleuse zu lesen war. Gerlach heißt also das Reich, in das der Mann einzieht, dem soviel Respekt entgegengebracht wird. Wer aber ist nun dieser Feldherr, und welche Funktion nimmt er im Reiche Gerlach ein?

I Sequestrati di Altona von Vittorio De Sica I Sequestrati di Altona von Vittorio De Sica I Sequestrati di Altona von Vittorio De Sica I Sequestrati di Altona von Vittorio De SicaEin Schnitt später und die Kamera hat den Hafen verlassen. Ein Meer von gezogenen Hüten empfängt Frederic March, als er ins Gewusel des Bürogebäudes eintaucht, wo er nun als solitäre Majestät durch die Masse der Untertanen schreitet. In nur wenigen Einstellungen vermag es De Sica, noch deutlicher, als in den Szenen mit den Fährschiffen zuvor, das Charisma dieses Mannes herauszukehren. Selbst als dieser im Paternoster nach oben fährt, folgen ihm die Blicke und die Menschen erweisen ihm ihren Respekt, während er weiter stoisch, maximal mit einem leichten Nicken, deren Gesten erwidert. Aus dem Paternoster schließlich der erste echte POV-Shot in dieser Sequenz: der Mann blickt herab auf die Angestellten und Arbeiter und die abgenommenen Hüte. Das ist Macht.

I Sequestrati di Altona von Vittorio De Sica I Sequestrati di Altona von Vittorio De Sica I Sequestrati di Altona von Vittorio De SicaSchließlich betritt der alte Mann ein großes Büro. Ein Kameraschwenk folgt ihm, während er an einem Besprechungstisch vorbeigeht; im Hintergrund die Kranlandschaft des Hamburger Hafens. Das Büro thront augenscheinlich über dem Hafen. Ein großer Bürotisch kommt ins Blickfeld, zu diesem Zeitpunkt vermuten wir schon, dass der Alte nicht für eine Besprechung hier ist, sondern hinter dem Tisch Platz nehmen wird. Der Tisch ist ein Thron, ein angemessener Platz, nicht bloß für einen Feldherren, sondern für einen Cäsaren erster Güte. Frederic March ist Gerlach.

Der Kameraschwenk stoppt, als der Mann den Tisch erreicht. In einem kurzen Moment der Ambivalenz wirft er seine Krankenunterlagen auf den Tisch und ruft wieder das Phantombild des gebrochenen, alten Mannes vom Anfang zurück ins Gedächtnis. Im nächsten Augenblick sammelt er sich, macht es sich auf seinem Sessel bequem und verstaut die Unterlagen in einer Schublade – aus den Augen, aus dem Sinn.

I Sequestrati di Altona von Vittorio De Sica I Sequestrati di Altona von Vittorio De Sica

Nach nunmehr drei Minuten Laufzeit wird der Alte erstmals in dieser Sequenz von einer anderen Figur in eine Konversation verwickelt. Ganz ohne gesprochene Worte hat De Sica bis dahin Frederic March als den Industriellen Gerlach präsentiert. Gerlachs rechte Hand Gelbert betritt nun das Büro, um seinem Chef die neuste Ausgabe des Spiegels vorzulegen; Gerlach ist am Cover – ein echter „Gigant von Deutschland“. Nun sind alle Zweifel beseitigt – dieser Mann hat Macht. Die Analogie von der griechischen Statue, die über dem Hamburger Hafen thront, hat im Nachhinein Berechtigung erfahren.

Doch irgendetwas stimmt nicht. Gerlach scheint über Gelberts Bericht verstört zu sein. Ist das bloß eine Nachwirkung der soeben vernommenen Nachricht über seinen baldigen Tod? Oder ist der Artikel im Spiegel womöglich weniger schmeichelhaft, als es das Titelbild suggeriert?

I Sequestrati di Altona von Vittorio De Sica I Sequestrati di Altona von Vittorio De Sica I Sequestrati di Altona von Vittorio De SicaGelbert schlägt die Zeitschrift auf und spricht über einen Mann namens „Franz“. Eine Fotografie eines jungen Mannes in deutscher Uniform ist zu sehen – „Franz Gerlach“ die Bildüberschrift, „Heldentod bei Smolensk“ die Bildunterschrift. Dieser Mann war bereits unscharf im russischen Schneegestöber der Vorspannsequenz zu sehen. Abermals schwenkt die Kamera hoch, und über der Fotografie aus der Zeitung wird dieselbe Fotografie eingerahmt am Tisch des alten Gerlachs gezeigt. Der Alte wirkt wieder gefasst und sogar ein leichtes, wenn auch müdes Lächeln zeichnet sich auf seinem Gesicht ab. Ein weiterer Krieger, einer, der den verlustreichen Kampf nicht überstanden hat. Nun wird die wahre Drastik der Situation deutlich. Der Erbe des sterbenden Herrschers weilt selbst nicht mehr unter den Lebenden. Warum wirkt der Alte dann aber so gefasst angesichts seines eigenen Endes? Wie bewahrt er seine innere Ruhe, und was entlockt ihm sogar ein Lächeln in Anbetracht dieser ungünstigen Situation?

Diese und weitere Fragen klärt der weitere Verlauf des Films, in der der Mann am Foto eine gewichtigere Rolle einnimmt, als der sterbende Patriarch. Trotz dieser qualitativen Verschiebung bleiben diese anfänglichen Fragen nach dem Verhältnis zwischen Mann und Firma, Vater und Sohn relevant.

Die Art und Weise, in der De Sica diese gebrochene Figur Stück für Stück zur majestätischen Führungspersönlichkeit aufbaut, beruht auf den eingangs erwähnten Eigenschaft des ihm eigenen Regiestils. Eindeutig, aber nicht aufdringlich, setzt De Sica Symbolik ein, gibt genug Informationen frei um die Ausgangslage zu beschreiben, verkauft sein Publikum aber nicht für dumm, sondern vertraut fast ausschließlich auf visuelle Elemente, um den Charakter und seine Position einzuführen. De Sica mag nicht zu den ganz großen Autorenfilmern gehören, aber ohne Zweifel verfügt er über beträchtliche handwerkliche Qualitäten und einen Sinn für visuelles Erzählen, und über die gleiche Noblesse und Leichtfüßigkeit, die ihn auch als Schauspieler auszeichnen.