Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Der langsame Niedergang der Gebrüder Dardenne

Eine große Angst beschlich mich bezüglich des aktuellen Films der Gebrüder Dardenne, Deux jours, une nuit. Eine Angst so groß, dass ich bis Dezember wartete, um den Film, der bereits im Mai in Cannes Premiere feierte, zu sehen. Ich war mir eigentlich gar nicht so sicher woher meine Angst kam, denn die meisten Kritiken fielen doch eher positiv aus und eigentlich hatte ich ein großes Vertrauen in die beiden Filmemacher, die um die Jahrtausendwende mit Rosetta und Le fils mindestens zwei Meilensteine des sozialrealistischen Kinos ablieferten und auch sonst nicht wirklich in der Lage sind, einen schlechten Film zu machen. Gewissermaßen die atheistischen Erben des Kern-Neorealismus mit inspirierenden Fühlern in alles, was man im modernen Kino mit Naturalismus – ob gerechtfertigt oder nicht –verbindet, sind Jean-Pierre und Luc mittlerweile in ihren 60ern angekommen und in der Massenwahrnehmung schon lange vom Arthouse-Establishment verschluckt worden. Dennoch konnte man natürlich schon von Weitem erkennen, dass sich gerade im Bezug zu den radikalen, dokumentarischen Anfängen des Brüderpaars einiges verändert hat. Bereits ihr vorletzter Film Le Gamin au vélo ging einen Weg, der eine leichte, aber dennoch entscheidende Justierung des Kinokurses Dardenne bedeutete.

Zwei Tage eine Nacht

Nicht nur die Zusammenarbeit mit professionellen Darstellern, ja Stars sondern auch die Glattheit der Bilder, die Farben und die deutlich bewussteren Bewegungen der Kamera und der Dramaturgie, drohen die impulsive Energie eines Filmemachens zu verschlucken, das am Rand der Gesellschaft geboren wurde und immer etwas falsch wirkt, wenn es dort nicht bleibt. Deux jours, une nuit setzt diesen fragwürdigen und doch logischen Weg unbeirrt fort. Eigentlich haben die Dardennes nie ein Geheimnis aus ihren Arbeitsmethoden gemacht (siehe dazu ihr herausragendes Buch Au dos de nos images 1991-2005) und die scheinbare Spontanität und Direktheit war immer Ergebnis einer offen kommunizierten Konstruktion und Manipulation (und tausendfachen Proben). Ihr Herz schlug immer für die Fiktion, die Narration. Deux jours, une nuit fügt sich natürlich auch problemlos in das humanistische Gesamtwerk der Belgier ein. Nicht nur begegnen wir mit Fabrizio Rongione einem dieser Dardenne-Gesichter (er spielte den jungen Waffelverkäufer in Rosetta), die eine ganz eigene Kinowahrnehmung ermöglichen sondern auch die Motive und bis zu einem gewissen Grad der Stil fügen sich wundervoll in ein konsequentes Filmemachen im Schatten und Licht des Neorealismus ein. Insbesondere die Erforschung von Raum mit an Rossellini erinnernden Schwenks aus totalen Perspektiven, die den Hintergrund einer industriellen Welt mit Atomkraftwerken und grauen Gebäuden betont und dabei gleichzeitig im Vordergrund den ameisengleichen Kampf für eine Menschlichkeit inmitten des abgestorbenen Überlebenskampfes einfängt samt einer bewusst übertriebenen Liebe zu bunten Farben, die das Grau brechen sollen wie eine Blume in einem Plattenbau und dem ständigen Bauen und Erneuern der Figuren, erfüllt ihren Zweck und reicht über die eng geführte Geschichte hinaus. Der Einsatz von Farbe scheint mir hier deutlich durchdachter als noch in Le Gamin au vélo. Immer wieder wählen die Dardennes (und das ist durchaus eine gelungene Neuerung) Zweier-Einstellungen. Dabei gehen sie meist realistisch vor, aber manchmal positionieren sie die Figuren in fast abstrakter Manier vor Mauern, wie eingemauert. Die Kamera bewegt sich nicht mehr ganz so nah an den Figuren wie in früheren Filmen sondern gibt ihnen etwas mehr Raum. Auch ihr Atmen, ihr Zittern ist reduziert, ein paar Mal steht und schwenkt sie von einem Stativ aus. An sich wäre nichts gegen diese etwas leichter dechiffrierbaren Methoden einzuwenden, jedoch schaffen es die Dardennes nicht annähernd ihre Impulsivität und durchaus durchdringende Körperlichkeit mit den Bildern zu vereinen, denn fast jede Szene, egal wie lange sie steht, wie virtuos sie mit Bewegung operiert, wirkt gestellt. Man scheint nicht mehr den Bewegungen der Figuren zu folgen sondern nun folgen die Figuren der Kamera wie im nächstbesten Industriefilm. Und da liegt bei genauerer Betrachtung ein ganz schön bitterer Hund begraben…

Rosetta Dardenne
Rosetta

Da ist zum Beispiel eines der tragischen, fabeldurchkreuzenden Lieblingsmotive der Dardennes: Der verhinderte Selbstmord. Er steht für eine unlesbare Ausweglosigkeit und unsere Unmöglichkeit wirklich in die Köpfe der Protagonisten zu sehen. In diesem Fall betrifft das die um ihren Job kämpfende Sandra. In einem erstaunlich vereinfachten, fast metaphorischen Plot muss sie mindesten 9 ihrer 16 Mitarbeiter davon überzeugen, dass diese bei einer Abstimmung dafür stimmen, dass sie ihren Job behält, obwohl ihnen dann eine Prämie von 1000 Euro entgeht. Falls sie nicht die Mehrheit der Mitarbeiter bekommt, verliert die von einer Depression geheilte Sandra ihre Arbeit. Die selbst mit dem Leben kämpfenden Arbeiter stehen vor dem unfairen Konflikt zwischen finanzieller Existenz und Nächstenliebe. Wie bereits in Rosetta geht es also um den nackten Überlebenskampf in einer erbarmungslosen ökonomisch-existentiellen Wüste, die durchaus viel mit aktuellen gesellschaftlichen Situationen zu tun hat und dadurch auch von politischer Bedeutung ist. Es ist ein Test für die menschliche Moral und eine dramaturgische Spielwiese, in der die Dardennes es wieder schaffen etwas über Menschlichkeit zu erzählen, indem sie Unmenschlichkeit psychologisch, philosophisch und sinnlich erfahrbar machen. Sandra sagt des Öfteren, dass sie kein Mitleid wolle und dass sie auch keine Stimme aus Mitleid gebrauchen könne. Allerdings wird die subjektive, aufs eigene Überleben ausgerichtete Denkweise nicht durch einen distanzierten, beobachtenden Filter betrachtet wie beispielsweise in Rosetta sondern durch einen auf Identifikation und Wärme ausgerichteten Humanismus-Flash, der einen Niedergang im Kino der Dardennes weiterführt, den ich nicht verstehen kann und will. Die Frage nach Subjektivität und Menschlichkeit war deshalb von solcher Kraft, weil sie scheinbar aus dem Bild und seiner Realität selbst entsprungen ist. Heute entspringt sie aus einer (durchschnittlichen) filmischen Idee. Deshalb folgen die Figuren auch der Kamera und nicht die Kamera den Figuren. Der Film vermag auf keiner Ebene seinem stilistischen Naturalismus gerecht werden. Schlimmer noch verliert sich jedwede Kohärenz in den Wechseln realistischer Szenen mit emotional und ja, nach dem von der Protagonistin verdammten Mitleid haschenden Szenen. Es ist eben fatal, wenn man einer Szene in einem Dardenne-Film anmerkt, dass sie gestellt ist. Im normalen Fall stehe ich dem Kritiker-Argument der Unglaubwürdigkeit äußerst kritisch gegenüber. Es hat sich zu einer Standarderwartung und Floskel des bürgerlichen Kinos entwickelt, dass man Filme auf ihre Glaubwürdigkeit hin untersucht und manchmal werden große Werke, die bewusst auf Künstlichkeit oder Fiktionalität achten, dadurch völlig falsch wahrgenommen. Bei einem Film jedoch der mit einer Handkamera und totalen Schwenks operierend fast jede Begegnung mit einer etwas gestellten Suche samt Komparserie und kurzen Gesprächen einleitet, passt etwas nicht zusammen, wenn ich bemerke wie diese Szene gedreht wurde. Denn wenn ein Weg so penetrant gefilmt wird, dann muss er mir vorkommen wie ein Weg, nicht wie eine Szene. Mir ist durchaus bewusst, dass man Realismus, Naturalismus, Glaubwürdigkeit und Dokumentation nicht einfach so zusammen in einen Topf werfen kann. Es geht mir hier lediglich darum, dass Deux jours, une nuit seinem ganzen Aufwand einer sozialrealistischen Wahrnehmung der Welt nicht annähernd gerecht wird. Es ist ein falscher Film und meine Angst war trotz der positiven Aspekte des Films berechtigt. Der Hauptgrund dafür ist neben den formalen Unstimmigkeiten die unerklärbare Häufigkeit von peinlichen, falschen oder kitschigen Momenten. Mein Eindruck war, dass es den Filmemachern darum ging mit einer unerwarteten Plötzlichkeit den Stress, die Überforderung und die Emotionalität dieser Arbeiterwelt einzufangen. So lassen sie Männer in Tränen ausbrechen, Männer und Frauen wütend ausrasten und die Angst in den roten Augen im Waschsalon greifbar werden. An sich ist nichts gegen dieses Vorgehen einzuwenden, aber ein wenig mehr Verständnis für das Zusammenspiel einer solchen Szene nach der anderen kann man von derart erfahrenen Filmemachern durchaus erwarten. Es gibt keine Banalitäten hier und die sowohl für die Dardennes als auch für den Neorealismus so essentielle tote Zeit wirkt außer in der ersten Einstellung zwanghaft in das Geschehen hineingeschnitten, sie wirkt – und das könnte mit der Entscheidung mit einem Star, Marion Cotillard in der Hauptrolle zu arbeiten, zusammenhängen – wie ein Schauspielmoment. Jetzt lassen wir die Kamera auf dir ruhen, spiele uns was vor. Natürlich ist Cotillard in der Lage diese schwierigen Augenblicke mit einer Körperlichkeit und einem Leben zu füllen, die über die inszenatorischen Albernheiten hinwegtäuschen, aber manchmal ist auch sie verloren im Widerspruch zwischen intellektueller Konstruktion und lebensnaher Direktheit. Eine extreme Metaphorik trifft so auf eine inszenierte Körperlichkeit und die beiden halten nicht zusammen sondern stehen sich im Weg, was zum Teil daran liegen dürfte, dass Deux jours, une nuit unbedingt nachvollziehbar sein möchte und eine beruhigende, ja ideologische Charakterzeichnung bietet, die es so verklärt noch nie gegeben hat bei den Dardennes…denn wo ist meine Verunsicherung in einer Nahaufnahme? Wo ist der Kriegszustand von Figuren im täglichen Überlebenskampf? Wo ist diese Unmöglichkeit zu Verstehen, die mich tagelang wachgehalten hat nach L’enfant? Wo ist das respektvolle Verhältnis zwischen Realität und Bild? Ein weiteres Beispiel für einen solchen falschen Moment findet sich als Sandra im Auto aus einem Traum hochschreckt. Die Körperhaltung und der Schrei von Cotillard, genau wie ihr angestrengtes Lächeln, das über tiefe Grübchen in ihren Wangen aus einer leicht profiligen Naheinstellung vermittelt wird, sind impulsiv und auf Realismus bedacht, jedoch erzählt sie dann tatsächlich von einem Albtraum mit psychologischer Tragweite. Hatte man in früheren Dardenne Filmen das Innenleben der Figuren aus deren körperlichen Oberflächen und den Räumen außenherum schließen müssen, so liefern die Filmemacher in Deux jours, une nuit billige Anhaltspunkte und Interpretationsfelder. Noch schlimmer ist eine Szene, in der Sandra und ihr Mann ein Eis essen und sie plötzlich äußert, dass sie gerne mit dem Vogel dort auf dem Ast tauschen wollen würde. Kurz dachte ich, dass sich der Film an dieser Stelle endgültig in die schreckliche zweite Hälfte von Pascal Ferrans Bird People verwandeln würde.

Der Sohn Dardenne
Le fils

Es ist einfach so, dass man jeder Szene nicht nur anmerkt, dass sie geschrieben wurde sondern sogar anmerkt warum sie geschrieben wurde. In den letzten zehn Minuten des Films verraten die Dardennes sich dann endgültig, indem sie den Humanismus und die fiktionale Hoffnung über ihren vorgetäuschten Realismus werfen wie einen feuchten Putzlappen über eine dreckige Stelle kurz bevor der Liebhaber zu Besuch kommt. Wenn es auch nur ein wenig zur Aufgabe der Filmkunst gehört durch eine subversive, die bequeme Wahrnehmung durchschneidende Haltung auf Missstände (seien sie filmisch, politisch, sozial…) aufmerksam zu machen und an das Menschliche zu erinnern, dann macht Deux jours, une nuit alles falsch, was Le fils richtig macht. Damit führen die Gebrüder Dardenne einen Niedergang fort, der noch nicht ganz abgeschlossen ist, da noch zu viele gute Aspekte in ihrem Film überleben, der aber mehr und mehr beginnt, ein Kino zu regieren, dessen Höhepunkt vor 15 Jahren nun endgültig vorbei ist. Vielleicht wäre es an der Zeit für die Dardennes sich ähnlich wie ihr Kollege Bruno Dumont (mit seinem P’tit Quinquin), der 1999 zusammen mit den Dardennes eine Art naturalistische Revolution ins moderne Kino brachte, neu zu erfinden. Auch Rossellini machte das als er nicht mehr an seine Bilder glaubte. Ein sozialrealistischer Film sollte wie ein letzter Schrei durch die Kinos schrillen, ein Weckruf, ein wütendes Plädoyer, eine nackte Hoffnungslosigkeit so wie Rosetta. Deux jours, une nuit ist nichts davon.