Don’t you know you’re
Life itself
Like a leaf clings
To the tree
Hippolytos, Sohn des Theseus trifft auf einem erntereifen Weinfeld in Alentejo auf Antiope, Schwägerin seines Vaters und vielleicht seine Mutter. Am Vorabend haben sie einen Film gesehen, Fogo do Vento von Marta Mateus.
ANTIOPE: Es ist ein schöner Tag. Die Weintrauben sind reif, ganz dunkel. Je dunkler der Wein, desto länger der Sommer. Man schmeckt sie förmlich in der Luft. Sieh! Wenn du sie pflückst, werden deine Finger blau. Und du kommst zu mir und erzählst mir von der Schönheit und du träumst von einer besseren Welt. Du weißt ja nichts vom Leben.
HIPPOLYTOS: Wie kannst du das sagen?
ANTIOPE: Wenn ich dir manches sagen würde, würdest du einfach sterben. Du weißt nichts. Der eine sagt dir, woher du kommst und daran glaubst du. Ist das nicht naiv? Du schwärmst von der Schönheit, aber kannst du mir sagen, was sie ist?
HIPPOLYTOS: Sie ist nur ein Wort. Sie drückt letztlich aus, das uns etwas gerecht erscheint. Dass etwas an der richtigen Stelle ist.
ANTIOPE: Du ringst mit den Worten. Was ist schön an diesem Film, den du gesehen hast?
HIPPOLYTOS: Dass er gerecht ist.
ANTIOPE: Das sagst du. Aber sind es nicht die Bilder, die dich überlisten? Ein ästhetischer Manierismus? Weißgraue Federn, vom Wind bewegt, im Feld, mit Blutspritzern auf ihnen. Dicke Quitten im Halbschatten, dazu der Ruf einer Eule und das Rauschen des Windes. Hände, die in die Luft greifen. Silhouetten im Mondlicht, die alte amerikanische Nacht, Königin der Täuschungen des Kinos. Selbst die Sterbenden sind hier schön. Ist das nicht nur ein sich aufdrängendes, ein erfundenes, erzwungenes Gefühl, das das eigentliche Elend überdeckt?
HIPPOLYTOS: Du sprichst wie eine, die nichts fühlen kann. Ich kenne diese Worte, ich kenne diese Gedanken. Sie behaupten, dass manche Dinge nicht schön sein dürfen. Sie lehnen das ab, weil sie es besser zu wissen glauben. Sie glauben, dass wir der Welt mit Nüchternheit begegnen sollen. Nur verwechseln sie Nüchternheit mit Zynismus. Gerechtigkeit bedeutet nicht einfach, das zu sehen, was alle sehen. Gerechtigkeit ist ein Potenzial. Die Schönheit in ihr, ist das, was wir erreichen wollen. Und gibt es diese Bäume etwa nicht? Und dieses Licht? Und diese Gesichter? Gibt es sie etwa nicht? Ist diese Schönheit nicht eine Frage der Zuwendung?
ANTIOPE: Aber niemand spricht so! Niemand spricht so wie diese Arbeiter! Jeder ihrer Sätze ist ein Gedicht, keiner entspringt der Erde.
HIPPOLYTOS: Was anderes sind Gedichte als Sprache der Erde? Du bist es nur nicht gewohnt. Du erwartest weniger vom Kino. Du glaubst nur an das, was du kennst. Du hast dich einlullen lassen von einer Industrie, die an nichts mehr glaubt, die keine Schönheit kennt und keine Gerechtigkeit. Und du hörst nicht zu. Du schaust nicht zu. Du glaubst, dass Sprache nur dafür da ist, dir Informationen zu geben. Aber diese Sprache ist nicht nur schön. Sie ist auch hässlich, sie ist alles zugleich. Sie ist, was gesagt wird und gesagt wurde und was gesagt werden muss. Und du verstehst diese Sprache aus Alentejo nicht. Sie sprechen in einer Sprache, die wir nicht sprechen, wieso also glaubst du, dass du sie erkennst?
ANTIOPE: Ich bin es gewohnt, von Worten umgeben zu sein. Wir sind alle immerzu von Worten umgeben, sie bedeuten überall das gleiche, es ist egal, wie sie gesprochen werden. Ihre Fremdheit ist nur ein Trick, um uns leichter glauben zu lassen, um uns zu verführen. Dieser Film ist nicht für Alentejo gedreht, seine Untertitel sind dafür da, dass ich sie lese.
HIPPOLYTOS: Du bist ganz taub vor lauter Worten und Bildern, bist nicht mehr bereit, wirklich zuzuhören!
ANTIOPE: Immer mehr Schweiß und weniger Spiel! Wenn nur die Trauer sie davon abhalten könnte, Brot in ihre Münder zu stopfen! Wenn sie nur bluteten wie wir! Das sind keine gesprochenen Sätze, das sind Slogans, die man den Menschen in die Münder stopft.
HIPPOLYTOS: Und doch kannst du nicht leugnen, dass sie gesprochen werden. Was sagen dir die Gesichter jener, die sie sprechen? Was erzählen sie dir, wenn sie von ihrem Leben berichten, von den Häusern, in denen sie gelebt haben? Hörst du nicht ihre Aufrichtigkeit? Ich glaube fast, dich stört, dass diese Worte wagen, in den Raum gesprochen zu werden. Sie sind nicht dieses bedeutungsheischende Flüstern, das wir sonst im Kino hören. Sie sind gesprochen in der Erwartung, dass sie größer sind, als was ein einzelner Mensch sagen könnte. Sie nehmen dich ernst als ein Gegenüber, sie glauben daran, dass du sie hörst. Sie richten sich an deine Zuwendung. Und du hörst nur ihre Falschheit, als müsstest du überprüfen, das alles so bleibt wie immer, ohne Ausweg.
ANTIOPE: Aber dieser Stier. Dieser Stier, der umgeht in Europa und der Welt. Du weißt, wer sich im Stier versteckt, du weißt es und du sagst es nicht. Du fürchtest seinen Zorn. Er ist überall, dein Vater, unser Vater. Der Stier ist ja doch eine Metapher. Das wenigsten musst du zugeben. Ich weiß, wie sehr du Metaphern ablehnst. Du hast es selbst gesagt, du hast es sogar geschrieben, ich habe es notiert. Metaphern haben nichts im Kino verloren, hast du geschrieben. Arbeiter, die auf Bäume klettern, sich verstecken vor dem schnaubenden Stier, das ist doch…
HIPPOLYTOS: Es mag sein, dass es eine Metapher ist…aber wo würdest du dich verstecken vor einem wilden Stier?
ANTIOPE: Und das Blut und der Wein? Das ist eine Metapher und dazu noch ein Klischee!
HIPPOLYTOS: Und was ist eine Metapher? Ist sie nicht nur ein Anderswo? Ist sie nicht nur ein Weg, den ein Gedanke zurücklegen kann, um wahr zu werden?
ANTIOPE: Manchmal ist die Wahrheit falsch.
HIPPOLYTOS: Davon weiß ich nichts. Ich sehe nur die Gesichter der Menschen. Sehe ihre Gesten. Höre ihre Rufe im Gelände. Ich sehe sie. Sie suchen etwas, sie verstecken sich vor etwas.
ANTIOPE: Sind das Menschen oder Menschen vor einer Kamera? Ich sehe nur Eindrücke, leere Hüllen für widersprüchliche Ideen. Sie kommen mir nicht vor wie echte Menschen, sie kommen mir vor wie Projektionen.
HIPPOLYTOS: Gäbe es kein Bild von ihnen, wäre da nur mehr vom gleichen Nichts. Es sind keine Menschen. Es sind Körper, deren Gegenwärtigkeit einen Anlass bietet, ein Bild zu machen, zusammen zu sein.
ANTIOPE: Warum ist es nicht wichtig, wer diese Menschen sind?
HIPPOLYTOS: Wer ein Mensch ist, das solltest du wissen, über die man so wenig weiß, hat nichts mit den Informationen zu tun, die man ansammelt. Es zeigt sich in Blicken und Gesten, Worten und einem Lächeln.
ANTIOPE: Ich höre dich. Aber ich zweifle.
HIPPOLYTOS: Hier bist du nicht mehr in der Zeit, die dir sonst entgegen springt aus den Filmen. Die Zeit, die dich so beherrscht. Siehst du nicht, wie die Bilder, der Zeit entkommen? Wie sie nicht hintereinander stehen, sondern nebeneinander, miteinander. Wie immer zugleich das Vergangene, das Gegenwärtige und das Zukünftige zu sehen ist in einem Bild? Siehst du nicht, dass dort etwas entsteht?
ANTIOPE: Nein! Sie schreien sogar, sie befehlen: Beeile dich! Mach schneller! Sie fliehen, sie hasten. Alles ist wie immer. Es ist nur überhöht, es ist zu einfach.
HIPPOLYTOS: Die Zeit gehört nicht uns Menschen, sie gehört der Welt. Sie gehört den Trauben. Wenn die Trauben reif sind, ist es Zeit. Die junge Frau, sie sagt es selbst: Wenn ich tot bin, bin ich nicht mehr. Das sagt sie.
ANTIOPE: Die Welt ist ohne Zeit. Sie ist nur ein Kommen und Gehen. Du siehst es. Es wird dunkel, alle schlafen. Es wird hell, alle erwachen. Du weißt so wenig.
HIPPOLYTOS: Und doch habe ich Ungerechtigkeit gesehen. Wir sind beide gezeichnet von der Gewalt der Welt. Ich werde gegen einen Ölbaum geschleudert werden, zerschmettert von der Kraft der Natur und du wirst im Krieg gegen die Amazonen fallen. Und für was?
ANTIOPE: Für ein Ideal! Hat dieser Film nicht auch Ideale?
HIPPOLYTOS: Doch, das hat er. Aber nicht die Ideale des Krieges, nicht die der Rache, von der meine Geschichte bestimmt wird. O Povo Já Não Tem Medo! Das steht einmal auf einer Zeitung, die Menschen haben keine Angst mehr, das bedeutet es. Sie fürchten nicht mehr den Stier.
ANTIOPE: Und was haben die Revolutionen gebracht? Warum gibt es diese Romantik für diese Revolution in Portugal?
HIPPOLYTOS: Weil ihr Potenzial überlebt. Du kannst es sehen in diesen Menschen. Sie sitzen in den Bäumen und warten. Aber sie warten gemeinsam. Es gibt eine Solidarität.
ANTIOPE: Wo? Sag mir, wo hat sie überlebt? In einer Fiktion, einer Träumerei. Ich stehe hier. Ich gebe zu, die Welt kann schön sein. Die Trauben sind reif…aber das macht noch keinen Sommer.
HIPPOLYTOS: Siehst du nicht den Himmel? Den Himmel, der vergessen wurde vom Kino. Er ist da in den Aufnahmen. Manchmal bedeckt er die halbe Aufnahme.
ANTIOPE: Und ist das nicht nur eine weitere Täuschung? Etwas, das dich ablenkt vom Boden, auf dem du stehst. Wer hat denn schon zum Himmel geschaut und was hat das jemals gebracht? Du kennst das Märchen von diesem Jungen, der immer nur zum Himmel schaute. Er fiel ins Wasser.
HIPPOLYTOS: Der Himmel zeigt uns, wie klein wir wirklich sind. Und was wir gemeinsam haben. Den Himmel haben wir gemeinsam, auch wenn sie ihn besetzen wollen mit Flugkörpern und Satelliten. Auch wenn sie die Wolken beeinflussen wollen, damit sie auch das Wetter beherrschen. Aber wir haben ihn gemeinsam, wir sind unter einem Himmel. Das Himmel gehört uns.
ANTIOPE: Wer sind sie, die ihn besetzen wollen?
HIPPOLYTOS: Sie sind nur eine Metapher für die Maßlosigkeit einer Grausamkeit, für die es keine Bilder gibt. Aber es gibt sie wirklich, du weißt es.
ANTIOPE: Und warum habe ich das Gefühl, dass ich all diese Metaphern und Bilder, all dieses Licht schon kenne? Warum glaube ich, dass ich einen anderen Film sehe, einen von Paulo Rocha oder Margarida Cordeiro, António Reis oder Jean Epstein oder Pedro Costa oder Danièle Huillet, Jean-Marie Straub? Warum sehe ich deren Bilder?
HIPPOLYTOS: Ich weiß nur, dass wir Menschen gern den Stil mit der Persönlichkeit verwechseln. Wir haben vergessen, das die Bilder aus der Welt kommen, nicht aus einer Person. Wir haben vergessen, dass es eine Grammatik braucht, um sprechen zu können.
ANTIOPE: Das haben wir nicht vergessen. Wir haben nur gelernt, dass eine Welt immer erst erschaffen wird in einem Kunstwerk. Sie ist nicht einfach da.
HIPPOLYTOS: Das mag sein. Aber aus was wird sie geschaffen? Was sind ihre Materialien? Was ist das Unterbewusste an ihr? Du hast mir von den Trauben hier erzählt und von den blauwerdenden Fingern. Du schaust in die Sonne und du spürst die Ungerechtigkeit und dann sagst du mir, dass das alles nur erträumt und erlogen ist, du sagst mir, dass du nicht daran glaubst, dass es zu schön ist. Ich sage dir, du irrst. Wenn du leben willst, musst du dich an die wenigen Bäume halten, die es noch gibt.
ANTIOPE: Für mich ist das nur mythologisches Raunen.
HIPPOLYTOS: So wie du und ich. So wie alles, was es wirklich gibt.