Die Bilder sind nicht am Ende heißt ein von Peter Handke 1995 geschriebener Artikel, in dem er über seine wiedergefundene Begeisterung für das Kino schreibt, die hellen Nachmittage, die in der Dunkelheit des Kinosaals verbracht werden. Es ist jenes begeisterte Zuschauen, das ich selber empfand, als ich vor kurzem die Möglichkeit hatte, Handkes letzten Film, Die Abwesenheit, nach Jahren wiederzusehen, einen Film, dessen Bilder so ruhig und märchenhaft sind, dass sie danach verlangen, nacherzählt zu werden.
Obwohl es sich um eine Adaption seines eigenen Romans aus dem Jahr 1987 handelt, ist der Film weit mehr als bloße filmische Übertragung des Geschriebenen. Mit Ausnahme der vier Figuren – des Schriftstellers (Eustaquio Barjau), des Spielers (Bruno Ganz), des Soldaten (Alex Descas) und der Frau (Sophie Semin) – und des Motivs ihrer gemeinsamen Reise ins Unbekannte begleitet von einigen Bildern, die im Buch wiederzufinden sind, erweist sich der Film als vom Roman unabhängiges Kunstwerk. Wer mit Handkes Schreiben vertraut ist, wird vielen Themen und Bildern, die immer wieder in seinem Schreiben auftauchen, im Film begegnen; jenes vierfache Spiel zwischen Sprache, Stille, Weite und Nähe, das seine besondere Art von Poesie prägt, und dass in Die Abwesenheit ein visuelles Pendant findet.
Gleich zu Beginn betrachten wir eine Reihe Bilder, die eine geheimnisvolle, entvölkerte Welt darstellen: eine Landschaft aus Baumwipfeln, in der Ferne der winzige, in den Himmel ragende Pfeil des Eiffelturms; eine schlossartige Treppe, die um eine Ecke verschwindet; eine leere S-Bahn, die durch die Pariser Vororte bei Tageslicht gleitet; eine im Garten stehende Eiche, an deren Stamm ein Holzstuhl lehnt, ihre Blätter ein einziges Flimmern; ein dreibeiniger Hund, der an einer Häuserreihe entlang hinkt; zwei Pferde, die auf einem Hügel grasen, im Hintergrund die schmelzenden Spuren des Winterschnees; ein Bahnhofsvorplatz, auf dem die Überreste eines Sonntagmarkts von Straßenkehrern entfernt wird. Bilder, die ohne erkennbaren Zusammenhang aneinandergereiht sind und die, wie ein Stapel durcheinander gemischter Ansichtskarten, verschiedenen Orte, Landschaften und Jahreszeiten zeigen. Doch im Laufe des Films und dessen Reise entblättert sich diese scheinbare beliebige Aneinanderreihung von Bildern als Bestandteil der Bildsprache, ja, als dessen Grundsatz, jene bildlichen Ablenkungen, die nichts mit der Geschichte zu tun haben, die den Film aber ausatmen lassen.
Auch die vier Figuren werden zunächst scheinbar zusammenhangslos vorgestellt. Der Soldat mit seinen Eltern in einem Café, der Spieler beim Kartenspielen in einer Spielhölle, die junge Frau allein in ihrem Haus an einer Schreibmaschine sitzend, der Schriftsteller in einem Notizbuch griechische Worte schreibend, während seine Frau (Jeanne Moreau) ihm zum Aufbrechen auffordert. Dann begegnen sie sich, wie zufällig, auf einer Pfadkreuzung im Wald, von wo sie gemeinsam aufbrechen, querfeldein, zu einer, so der Schriftsteller, „Pilgerreise in uns selbst“, deren Ziel „die leeren Orte“ sind, die zur „allgemeinen Reinigung“ führen. Was das konkret zu bedeuten hat, ist nicht sofort nachvollziehbar, und soll es auch nicht sein. Vielmehr geht es um das Sich-Fort-Bewegen, das Innehalten, das Lauschen, das In-Sich-Ruhen und das plötzliche Nach-Außen-Kehren der Sprache. Durch ihre monologisierenden Gespräche während des Gehens, entsteht im Zuschauer eine Art des Zuhörens, das direkt in die Umwelt übergeht und dabei das Hören erweitert. Zum Beispiel hören wir, als der Schriftsteller eine Ode an die Stille vorträgt, wie zum ersten Mal, das Rauschen der Bäume im Wind, das Sausen des Autobahnverkehrs, das Zwitschern der Vögel, das Zirpen der Grillen, das Schwirren der Fernzüge. Jene Töne wirken stofflich, wie zum Berühren, sodass man das Gefühl hat, man möchte eine zeitlang in ihnen wohnen. Dass jeder der Sprecher sich in seiner eigenen Sprache ausdrückt (Spanisch, Deutsch, Französisch), erzeugt eine weitere Ebene des Lauschens, und was für ein Wohlgefallen ist es zu hören, wie die einzigartigen Ausdrucksweisen, Rhythmen und Kadenzen jener Sprecher zum Vorschein kommen.
Dieses bedachtsame Hinhören wird aber immer wieder unterbrochen von den sogenannten „Kreaturen des Lärms“, jene „Barbaren“, die die Stille der Natur zerstören. Oft kommt es vor, dass die Reisenden, mitten auf einem beschatteten Waldweg, von Radfahrern, Joggern oder Mountainbikern überfallen werden, die mit ihrer grellen Kleidung in die Augen stechen. Dieses jähe Einbrechen des Lärms verkörpert die heutige Welt, und die Reisenden des Films entwerfen eine Gegenwelt zu den omnipräsenten Gegnern der Stille, der Langsamkeit und des Erforschens. Doch die Gegner gehören auch zu dieser Welt, denn jedes Märchen hat seinen Feind.
Zu dieser Gegenwelt gehört auch der besondere Modus des Sehens. Die Kamera befindet sich oft auf einem Mittelpunkt zwischen Ferne und Nähe. Sie sucht eine Distanz, die es einem ermöglicht, einen Raum für sich herzustellen, in dem man endlich aufhört zu denken und zu interpretieren und nur noch schauen möchte; ein befreiendes Sehen, das in die Welt und in das eigene Leben eingeht: atmende Frühlingslandschaften, in der die Fliederblüten durch die Luft wehen; vorbeihuschende Vogelschatten über einen Strom; die wie ausgestorben wirkenden Grenzbahnhöfe und das Nachmittagslicht auf ihren eingemauerten Fenstern; das Brausen des Windes im Eisenbahngarten, eine steinige Hügellandschaft, durch die plötzlich ein gelber Zug fährt; die schlafenden Antlitze der vier Reisenden bei Nacht; der im Weiher fallende Regen. Zitterende Bilder, die die Welt wieder durchlässig für die Blicke machen. Und danach, der Wunsch, selber seine eigene Gegend zu erforschen, um zu entdecken, was es alles noch zu sehen gibt. Das Sehen ist ein Abenteuer.
Das andere Abenteuerliche ihre Reise hängt an den verschiedenen Schauplätzen, durch die sie sich bewegen. Anhand des Schnitts lassen sich die Orte und Landschaften nicht zusammensetzen. Von einem Vorort gelangen sie im Nu in eine Hügellandschaft. Von da gehen sie an einer stark befahrenen Autobahn entlang, um sich inmitten der Stille eines Waldes zu finden, als ob die Welt sich mit jedem Schritt verwandeln würde.
Ja, die Welt verwandelt sich ständig und das gehört sich so. Nachdem die vier Reisenden im Freien bei einer Scheune übernachten, entpuppt sich das Innere der Scheune am nächsten Morgen als Autobus und nun fahren sie los ins Hochgebirge, mit dem Spieler am Lenkrad, der ab und zu anhält, um Anhalter mitzunehmen. Ein gelassenes Unterwegssein jenseits der aktuellen Zeit, jenseits der Geschichte.
Doch mit dem Verschwinden des Schriftstellers eines Morgens kehrt eine Wendung ein. Die stetige Bewegung vorwärts bricht ab, und nun gehen die drei Übriggebliebenen ihre eigenen Wege, um den Schriftsteller zu suchen. Ihr Gehen verwandelt sich in Streunen, ein fruchtloses Herumirren im Grenzgebiet zwischen Frankreich und Nordspanien. Ihr Suchen scheitert. Inzwischen hat sich die Frau des Schriftstellers, die mit stiller Strenge von Jeanne Moreau gespielt wird, zu den Dreien gesellt, und am Ende sitzen sie gemeinsam am Meer, wo sie ihr Fest der Abwesenheit feiern. Das Weitergehen ist nicht mehr möglich. Über ihnen das erschütternde Gebrüll einer Gruppe Kampfflieger, die ihre Übungsflüge für den nächsten Krieg machen. Es gibt kein Entkommen vor dem Lärm.
Und doch zeigt das letzte Bild, die mit Meereswasser gefüllten Fußabdrücke des abwesenden Schriftstellers im Sand. Es sind vom Wind erzeugte, pfeilartige Zeichen an der Oberfläche, als ob die Luft selber eine neue Richtung vorschlagen möchte. Ja, die Bilder sind nicht am Ende.