Eine Menschenmasse zieht sich zusammen. Aus allen Richtungen eilen Passant*innen herbei, umzingeln dicht gedrängt eine Litfaßsäule mitten auf der Straße. Im Hintergrund ragt das Brandenburger Tor empor, doch dessen Pfeiler wirken unbedeutend hinter der meterhohen Werbefläche, restlos zugekleistert mit den unterschiedlichsten Anzeigen. „Löwen“ steht dort in riesigen Lettern, oder „Püppchen“; vor allem aber zieht die Menschen ein bestimmter Schriftzug an: „100.000 Mark Belohnung!“ Darunter das Konterfei eines Mannes und auf Augenhöhe: „Wo ist Colletti?“ Wo ist Coletti?, der Name ist Programm, egal, ob er mit einem, oder wie hier fälschlicherweise mit zwei „L“ geschrieben wird. Es macht wohl kaum einen Unterschied bei einer Figur wie Jean Coletti, dessen Name ohnehin eine merkwürdige Vermengung aus Italienisch und Französisch ist, der einen englischen Schnurrbart trägt und doch berühmter Detektiv der deutschen Hauptstadt sein soll. So zusammengewürfelt seine Identitätsmerkmale scheinen, so einfach können sie neu arrangiert werden. Mit grenzenloser Ruhe lässt Coletti daher im Studio sein Porträt aufnehmen und die eigenen Körpermaße durch das Bertillon-System festhalten, bevor er die Jagd auf sich selbst eröffnet.
Wenn Jean Coletti der Berliner Bevölkerung auf derselben Anzeige sowohl als „Coletti“ als auch „Colletti“ vorgestellt wird, dann nimmt diese doppelte Namensgebung nur die verschiedenen Täuschungsmanöver und Verkleidungsspiele vorweg, mit denen sich der Detektiv wieder und wieder seiner Festsetzung entziehen wird. Jede Fährte führt in die falsche Richtung, jede Hilfestellung verbirgt einen doppelten Boden. Das gilt bereits für die vermeintlich objektiven Angaben des Steckbriefs, die sich auf subtile Weise gegenseitig unterlaufen. Die anthropometrische Bertillonage, der sich Coletti unterzieht, etablierte sich Ende des 19. Jahrhunderts als systematische Methode zur objektiven Erfassung von Kriminellen. Ihr Namensgeber Alphonse Bertillon entwickelte sie als Hilfsschreiber der Pariser Polizei zur besseren Strukturierung der zunehmend unübersichtlichen Menge an Personendaten. Neben einer akribischen Vermessung des Körpers sind auch zwei streng genormte Fotografien Teil der Prozedur, die berühmten mug shots. Colettis Selbstbild ignoriert jedoch deren formale Vorgaben und orientiert sich stattdessen an den Konventionen des bürgerlichen Porträts. Im Dreiviertelprofil aufgenommen steht es genau zwischen den polizeilichen Frontal- und Profilaufnahmen, ohne die Funktion von der einen oder der anderen Seite zu erfüllen. Kein Wunder also, dass zur Qualitätskontrolle nur die Negativplatte gezeigt wird, ein weiterer Doppelgänger dieses angeblich so eindeutigen Identifikationsmittels der Fotografie.
Bertillons Systematik reagierte nicht zuletzt auf die rasante Bevölkerungsentwicklung der modernen Großstadt. Paris zählte zum Zeitpunkt ihrer Entstehung bereits über zwei Millionen Einwohner*innen – das Berlin von 1913, in dem sich Coletti versteckt, hat sogar schon die Schwelle von vier Millionen Menschen überschritten. Auf diese Statistik verlässt sich Coletti, wenn er wettet, dass niemand in der Lage sein wird, ihn innerhalb von 48 Stunden zu fassen. Die moderne Metropole ist die Grundbedingung der Frage Wo ist Coletti? und die eigentliche Hauptattraktion des Films.
Vom Brandenburger Tor spaltet sich die Suche in zwei Richtungen auf. Der Großteil der Schaulustigen jagt „Coletti“ hinterher, den der Zwischentitel mit Anführungsstrichen als dessen Komplizen Anton in Verkleidung entlarvt. Mit hohem Zylinder fährt er für alle Welt sichtbar auf dem offenen Oberdeck eines Busses an der Menge vorbei. Ein idealer Sitzplatz, exponiert wie auf einer Bühne und zugleich perfekter Aussichtspunkt für die Kamera, um die hinterherrennende Meute in Szene zu setzen. Unterwegs passiert die Verfolgungsjagd die Sehenswürdigkeiten der Stadt, verläuft über die Friedrichstraße und Unter den Linden – durch Straßen, auf denen Automobile noch mit Kutschen und Fahrrädern um die Wette eilen. Eine wilde Verkettung moderner Verkehrsmittel, die ihren Höhepunkt in einem Zeppelinflug über die Stadt findet. Bei kaum einem anderen Fahrzeug verbindet sich mit solcher Leichtigkeit die Attraktion der eigenen Fortbewegung mit dem Schauwert der Ansichten, die es ermöglicht.
Die zweite Spur bleibt dem Filmpublikum vorbehalten. Sie verweilt am Ausgangspunkt der Verfolgung, der Litfaßsäule, wo der echte Coletti unentdeckt in der Menge untergetaucht war. Als Straßenkehrer getarnt, posiert er für die Kamera vor seinem Steckbrief und dem leergefegten Brandenburger Tor. Dieser Coletti bedient sich nicht der Geschwindigkeit der neuen Fortbewegungsmittel, sondern nutzt die jungen Massenmedien zur Mobilisierung. Sie sind das andere Gesicht der Moderne in Wo ist Coletti? So lässt Coletti seine Fotografie nicht nur auf den Werbeflächen der Stadt verteilen, sondern vervielfältigt sie auch durch die Druckerpressen der B.Z. am Mittag, der ersten deutschen Boulevardzeitung seit 1904.
Beide Handlungsstränge treffen nicht zufällig am Ende des Films im Kinosaal wieder zusammen. Coletti hat in einer neuen Verkleidung als elegante Dame im Dunkel des Zuschauer*innenraums ein weiteres Versteck gefunden. Als sich der Vorhang öffnet und den Blick auf die Leinwand freigibt, spielen sich dort dieselben Szenen der Verfolgungsjagd „Colettis“ erneut ab, die wenige Minuten zuvor noch selbst Teil des Films waren. Coletti wird Zuschauer seiner eigenen Verfolgung, als Teil eines Publikums, auf das die Bewegtheit der Aufnahmen nahtlos übergreift. Der Film präsentiert sich hier als Schnittstelle ebenjener beiden Entwicklungen, die er als charakteristisch für das Leben der Moderne ausweist. Einerseits kann er die Beschleunigung durch die neuen Fortbewegungsmittel genauso wie die Kommunikationsmittel der neuen Massenmedien abbilden, andererseits ist er selbst mit ihnen identisch: auf dem Weg zum effektvollsten Massenmedium seiner Zeit und dabei wesentlich Bewegungs-Bild. Wo ist Coletti? führt diese Entwicklungen der Moderne wie schon die Bertillonage auf subversive Weise vor, verkehrt scherzhaft ihren Sinn oder spielt sie lustvoll gegeneinander aus. Ein Jahr später werden dieselben Mittel für die Mobilisierung zum Großen Krieg ein weiteres Mal zusammengebracht.