I
Die Bilder sind bereits bekannt. Sie sind wie aus dem Gedächtnis entsprungen. Sobald man sie sieht, fängt man an, sich an ähnliche Bilder, die man bereits gesehen hat, zu erinnern, statt die Bilder, die auf der Leinwand erscheinen, neu zu entdecken.
Berlin 1945 nach der Kapitulation. Eine Trümmerstadt. Zerbröckelte Gebäude, zerstörte Straßen und Wege, steinerne Korridore des Elends: eine leblose Landschaft, die zugleich als neuer Spielplatz für die Kinder dient. (In der rechten Ecke der ersten Einstellung sind drei Jungen zu sehen, die im Schutt hocken und mit Spieleimern hantieren, als ob die ganze Stadt zu einem großen Sandkasten erweitert wurde – der Traum jedes Kindes.) Ein Mann bewegt sich ratlos durch die Einöde. Der finstere, unruhige Blick, die dunklen, zerknitterten Kleider, der Zigarettenstummel im Mund, der verlorene Gang: alles gehört zusammen. Eine unbestimmte Gestalt, die sich im nächsten Augenblick auflösen wird. Er geistert ohne Halt durch die abgründige Gegenwart. Aber dann, so wie es immer passiert (oder so wie es passieren muss), stolpert er in einer Handlung hinein, die auch seine Rettung bedeuten wird.
II
Wohl ist auch bekannt, dass diese Berlin-Bilder aus Wolfgang Staudtes 1946 DEFA-Film, Die Mörder sind unter uns, als die ersten Bilder des (ost)deutschen Nachkriegskinos gelten. Die Stadt in Ruinen ist keine konstruierte Filmkulisse, sondern die wirkliche Stadt, wie sie zur Zeit des Filmdrehs tatsächlich vor der Kamera existierte. Das heißt, bevor solche Trümmerbilder zum Klischee der Filmindustrie wurden, bevor man ein bombardiertes Berlin in Babelsberg oder in Polen wiederherstellen musste, wie Christian Petzold es in seinem Film Phoenix vor einigen Jahren getan hat. Hier verlieren sich die Grenzen zwischen dem Dokumentarischen und Erfundenem; das eine fließt in das andere hinein, genauso wie der Mann in den ersten Bildern des Films von der erdfesten Realität der kriegszerstörten Stadt in eine reine Fiktion wandert. Und wie so viele Geschichten des Kinos (man könnte sogar sagen, wie die erste Geschichte des Kinos) fängt diese mit einer Zugeinfahrt in einem Bahnhof an.
III
So fängt die Lüge an. Aber das ist ja nichts Besonderes. Das Kino lügt. Der Zug gleitet durch die zerbombte Stadt. Mit einem Schwenk der Kamera sieht man, wie der überfüllte Zug im Berlin Stettiner Bahnhof einfährt. Die nächste Einstellung zeigt, wie sich der Bahnsteig mit den jenen füllt, die aus dem Zug aussteigen. Aus dem Strom der Flüchtlinge und lebensmüder Greisinnen, erscheint eine schöne jungen Frau. Sie trägt einen hellen Mantel. Um ihren Kopf hat sie ein graues Tuch gebunden, dunkle Schatten unter den Augen, als ob sie eine schlaflose Nacht (oder einige Jahre) hinter sich hat. Ihr Gang ist unsicher, sowie ihr Blick, der verdutzt herumirrt. Das Innere des Bahnhofs, die Menschen, die verstreut auf dem Boden herumliegen- lungern, – träumen. Kinder und Alte, die Wangen in ihren Händen gestützt; gekünstelte Posen, wie Menschen in einer Religionsszene, die sich nach der endgültigen Erlösung sehnen. Ein Kriegsgefangener (auf dem Rücken seines Mantels sind die Buchstaben PW mit Kreide geschrieben), der mit Krücken durch den Raum hinkt. Danach die Wolken, die unbekümmert über die Trümmer ziehen; die Sonne, die ganz selbstverständlich das traurige Leben beleuchtet. Sogar in den grausamsten Zuständen kann man solche Dinge noch SEHEN.
IV
Doch nach diesem langsamen Auftakt, der einen lang angehaltenen Atem gleicht und diesen Mann und dieser Frau in einer nebeligen Namenlosigkeit eintaucht, beschleunigt sich der Lauf der Ereignisse. Der Plot entwickelt sich unvermeidlich. Die Katastrophe der Geschichte donnert durch das Leben. Machtlos mitgerissen vom Sog der Vergangenheit, werden die Figuren zu von den Innenräumen der Stadt zerdrückten Filmfiguren: die KZ-Überlebende, der Kriegsveteran, der Kriegsverbrecher. Es wird viel über das Leben gesprochen, aber nichts davon gezeigt. Oder doch: für einige Momente sind Aufnahmen von den sogenannten Trümmerfrauen zu sehen, wie sie unter der Sonne schuften.
V
Und dann in einer anderen Szene kann man sehen, wie es schneit. Und obwohl die Schneeflocken deutlich als Federn, als Requisit erkennbar sind, ist ihr Fallen das Wahrste und Schönste, was es in der Welt dieses Films zu sehen gibt. Mehrere Gegenstände, die mit dem Sehen verbunden sind, fallen den Menschen in die Hände: Brillen, Fotoapparate, Lupen. Doch statt sie als solche zu verwenden, um das Sehen zu erweitern, bleiben sie leere Gegenstände, die ahnungslos in der Hand gehalten werden. Der Mann findet eine Kamera in einer Schublade, steckt sie in seine Manteltasche, nimmt sie aber sofort wieder raus, legt sie auf dem Tisch und geht aus dem Bild – als ob die Kamera ihre Bedeutung endgültig verloren hätte.
VI
Am Ende ist dann, wie so oft im Kino, alles anders. Das Paar verliebt sich, ein Mord wird verhindert, der wahre Verbrecher sitzt im Gefängnis. Die Stadt liegt noch in Trümmern, aber auch das wird sich in wenigen Jahren ändern. Was aber bestehen bleibt: der Wind, der durch die glaslosen Fenster weht; die am Himmel vorbeiziehenden Wolken, und die würdevolle Namenlosigkeit der unzähligen Menschen, die unter ihnen fortleben.