Trotz vieler Stunden Arbeit mit Le Pornographe (2001) ist dieser Text einfach nicht zu kontrollieren. Unkontrollierbar die Sprache, die keinen Halt findet, die Begriffe, die zu groß, zu unklar oder einfach falsch erscheinen, die Struktur der Argumentation und also letztendlich Bonellos Film, der auf diesen Seiten ein großes Durcheinander an unzusammenhängenden Notizen angerichtet hat. Aber einfach über etwas anderes schreiben geht nicht. Weil das dringlich ist, was man meint, für einen Augenblick klar gesehen zu haben, man aber partout nicht mehr weiß, wie genau es aussah. Insofern ist Denken Erinnerungsarbeit und Schreiben der Versuch zu zeigen, was man da gesehen hat. Eigentlich ganz einfach, das kann jedes Kind: Zeigefinger raus und da! schreien.
Da, fast am Ende von Le Pornographe, ich erinnere mich noch gut, als Jacques Laurent (Jean-Pierre Léaud), der Pornograph, zu der Journalistin, die ihn gerade interviewt, sagt: „Sie sprechen über die Karriere und ich spreche über mein Leben. Deshalb sind ihre Fragen obszön. Deshalb sind sie obszön und nicht ich.“ Ich meine, hier versprachlicht sich, was schon von Anfang des Films in der Art und Weise sichtbar ist, wie Bonellos Kamera auf die Welt blickt. Dieser Text sollte vielleicht ein Versuch sein, das zu zeigen.
Also, einmal ganz an den Anfang: Wir sehen konzentrierte Gesichter verschiedensten Alters im Dunkel eines Kinosaals. Die Tonspur macht uns klar, dass die Quelle des Widerscheins, der diese Gesichter erhellt, die Projektion eines Pornofilms ist. Der Blick wird hier verkehrt, von der Leinwand aus schaut er ins Leben rein. Kurz darauf sehen wir das erste Mal Jaques, der die langsame Sanftheit des Parks, durch den er schlendert, in seine eigenen bedachten Bewegungen aufgenommen zu haben scheint. Die Kamera folgt ihm auf dem Weg zurück zum großbürgerlichen Landhaus der Freunde. Hier lauscht man der Barockmusik und steht sinnend am Fenster oder blättert – wie Jaques vorsichtig eines der vielen Bücher auf. Am nächsten Tag wird dieser, durch finanzielle Schwierigkeiten gezwungen, seinen ersten Pornofilm seit langer Zeit drehen. In einem Haus, das von dem hier kaum zu unterscheiden ist. Dort lauscht man dem Electro-Soul und hat Sex vor der Kamera.
In Le Pornographe produzieren die Protagonisten und ihre Lebensverhältnisse ständig Widersprüche und Kontraste. Jacques‘ bourgeoiser Wunsch nach einem eigenen Landhaus und sein Leben als ehemals antibürgerlicher Pornoregisseur stehen einander scheinbar unvereinbar gegenüber. Und doch findet Bonellos Blick eine Ebene, die diesen Widersprüchen vorgängig ist ohne sie zu negieren. Le Pornographe ist ein Film der – gewissermaßen – einfachen Bilder. Aller Lärm von Farben und Formen ist ausgesperrt zu Gunsten einer Klarheit, welche die Protagonisten zum unbestrittenen Zentrum der Bilder werden lässt. In dieser luziden Sichtbarkeit beobachtet der Film, unaufdringlich und dennoch größte Sorge tragend, Gesichter, Gesten und Haltungen. Die Aufmerksamkeit, mit der die Kamera den einzelnen Menschen folgt, ist im Grunde hoffnungsvoll. Der Mensch wird ihr zum Gegenüber, als jemand, der in jedem Moment die Möglichkeit hat, zu Handeln und Entscheidungen zu treffen. Diese Existenz führt aber am Anfang des 21. Jahrhunderts zur Koexistenz von widersprüchlichen Handlungen, Äußerungen und Entscheidungen. Der Film geht die Bewegungen dieses zeitgenössischen Lebens mit, ist hineingenommen in die komplexen Verhältnisse, in denen so ein Leben gelebt wird.
In Anbetracht der pornographischen Szenen der ersten halben Stunde des Films sorgt diese Blickverschiebung für die Aufhebung einer voyeuristischen Außenperspektive, die eigentlich immer schon um die moralische Verwerflichkeit von Pornographie weiß, um sich dann doch daran zu ergötzen. Le Pornographe findet so zu einer Offenheit, die zeigen kann, wie sich die Beziehungen zwischen den Akteuren – zwischen Regisseur, Darstellern, Produzent und Technikern – als konkrete Lebensverhältnisse herstellen. Die etwa zwanzigminütige Inszenierung des Pornodrehs probt und verhandelt diese Verhältnisse. Selbst den Darstellern bleibt zunächst die Freiheit sich tatsächlich durch die Szenarien zu spielen. Trotz ihrer hölzernen Interaktionen trennt der Film anfangs nicht durch eindeutige Blickstrukturen zwischen dem Geschehen vor der Kamera und dem neben der Kamera. Jacques gibt abseits des Sets beim Rauchen auf dem Balkon des Herrenhauses die ästhetische Losung dazu aus: „Um bis zum Ende erregt zu bleiben, muss man den beiden glauben, dass sie sich lieben.“
Am Ende scheitert dieser Anspruch und doch wird dieses Scheitern dabei nicht der Pornographie selbst angelastet. Augenscheinlich klafft zunehmend eine Lücke zwischen der idealistischen Idee Jacques‘ und der Realität dieses Pornodrehs. Nach und nach gewinnt das ökonomische Kalkül des Produzenten die Oberhand darüber, wie sich die Verhältnisse herstellen. Die Darsteller werden dann doch zu Marionetten des Blicks, es wird nicht mehr verhandelt, sondern befohlen. Der Produzent entscheidet schließlich buchstäblich über Jacques‘ tief gesunkenen Kopf entgegen aller Regievorgaben: Nagellack, Musik, lauteres Stöhnen und, jetzt, Moneyshot. Am Ende dieser langen, letzten Sexszene sitzt Jaques zusammengesackt in seinem Regiestuhl, alleine und der Blick zu Boden. Es ist der Tiefpunkt einer sich steigernden Unfähigkeit, eine aktive Beziehung zum Drehgeschehen aufzubauen und damit ein echtes Scheitern, eben weil Le Pornographe dieses Scheitern nicht von vorneherein als alternativlos voraussetzt.
Dieser filmische Blick auf die Welt ist ein Blick, der radikal im Leben steht. Er vertraut nicht darauf, dass man die Verhältnisse nur ausstellen muss und die sich dann in ihrer vermeintlichen Widersprüchlichkeit oder Banalität schon von selbst kritisieren. Es geht dem Film immer darum, ob und wie man einen handelnden Umgang mit den aktuellen Verhältnissen finden kann. Am Ende steht die Frage, wie man leben kann in dieser Welt.
Unter dieser Frage wird jegliche Trennung von Arbeit und Leben, bis ins Privateste hinein, unmöglich; wenn wir Jacques am Set scheitern sehen, dann sehen wir zugleich das Scheitern eines Lebens. Deshalb ist die Journalistin obszön: weil es obszön ist zu glauben, es sich mit objektivierender Berichterstattung in einer Außenposition gemütlich machen zu können, von der aus sich die Verworrenheit eines Lebens mit ein paar einfachen Fragen mühelos überblicken ließe; von der aus man einige Fragen zur Karriere stellen könne ohne damit zugleich über ein, oder – die Fragende eingeschlossen – eigentlich zwei Leben zu reden. Jacques, und auch Bonellos Film, weist diese einfachen moralisierenden Standpunkte seinerseits moralisch zurück. Man darf das nicht missverstehen. Es geht dabei keineswegs darum, Kritik an einer bestimmten Lebensführung oder bestimmten Verhältnissen, in denen ein Leben stattfindet, auszuschließen oder gar mit erhobenem Zeigefinger zu verbieten. Aber: Kritik am Leben muss sich selbst den Widersprüchen des Lebens aussetzen, um überhaupt eine Ahnung zu bekommen, wovon sie spricht. Nur so kann sie zu einem angemessenen Maßstab kommen. Dieser Maßstab ist eben nicht starr und unveränderlich und tritt von außen an die Dinge der Welt heran, sondern ist selbst so beweglich wie der Umgang des Menschen mit der Welt.
So bleibt die Inszenierung, trotz aller Kritik an einer beschränkenden, weil ökonomisierten Form von Pornographie, immer offen für augenblickhafte Momente der Befreiung: in der Mitte des Films sehen wir eine der Darstellerinnen plötzlich vom gemeinsamen Essenstisch aufstehen und minutenlang tanzen in einer neuen Welt aus Zeitlupe und wundersamem Flackerlicht, die so gar nicht zur provinziellen Ausstattung der Crew-Absteige passen mag. In diesem irreduziblen Möglichkeitsschimmern scheint momentan auf, was das gute Leben sein könnte: Ein Umgang mit der Welt, der aus der Erkenntnis der Verhältnisse handelnd, statt einfach ihnen entfliehend, diese Verhältnisse übersteigt, sie außer Kraft setzt und so eine andere Welt in Ansicht stellt; oder einfach in die stickige Stille eines frustrierten Pornoteams plötzlich etwas Luft zum Atmen gibt.
Es ist der Auftritt des Sohnes Joseph (Jérémie Renier) nach etwa einer halben Stunde, der mehr als ein vergehendes Schimmern verspricht. Auch von ihm zuerst ein Gang, aber nicht traumverloren durch einen Park wie der Vater, sondern energisch, immer zu auf die Kamera, durch die Straßen der Stadt. Dann ein Studentenzimmer, Altbau, zwei Matratzen auf dem Boden, zwei Freunde und Joseph beim Müßiggang, kurz darauf die gemeinschaftliche Formulierung einer offenbar politischen Flugschrift. Das könnte auch `68 sein; später erfahren wir, dass Jacques zu dieser Zeit gemeinsam mit Freunden begann Pornos zu machen. Dieser kurze Blick auf `68 ist der geschichtliche Grund, vor dem die Aufgabe, ein Leben mit der Welt zu führen, ihre politische Dimension zurückerhält. Die traurige Lächerlichkeit, mit der Jacques‘ Idealismus am Porno-Set untergeht, weist so nicht mehr nur hinein ins Private, sondern auch hinaus auf eine ehemals politische Haltung, die ihren Zugriff auf die Welt verloren. Die Sichtbarmachung von Sexualität, die einst gegen eine beengende bürgerliche Moral aufbegehrte, hat ihren revolutionären Impetus verloren und ist fast völlig eingegliedert in die Kapitalunternehmungen des Körpers. Niemand wird befreit von diesen Filmen, nicht die Darsteller, nicht das Publikum, nicht Jacques. Man kann nicht einfach Pornos machen wie vor 30 Jahren. Es braucht eine neue Bewegung, um das große Projekt der 68er – den Entwurf eines politischen Lebens, in dem Arbeit und Privates, politische Aktion und Alltag, Denken und Handeln ineinander verschränkt sind – noch einmal ins Blickfeld zu bekommen. Aber woher die Kraft dafür nehmen?
Jacques, in seiner großen Erschöpfung, fehlt diese Kraft. Erst Joseph sorgt mit forschem Gang und forschendem Blick für den dringenden Bewegungsimpuls. Beim ersten Treffen wechseln die Beiden kaum ein Wort. Nach einem kurzen Moment der Musterung, einem Innehalten, einer Handreichung beginnt die gemeinsame Bewegung. Mit wenigen Einstellungen, die auf alle üblichen Wiedersehenssentimentalitäten verzichten, stellt der Film hier im stillen Einverständnis seiner Protagonisten die Spannung eines freien Verhältnisses her. In jedem Moment ist alles sagbar; die Gespräche während ihrer Passagen durch die Stadt wandern von den Ebenen der Arbeit und der Kindheit in die Höhen der Revolution und des politischen Lebens und steigen wieder hinab in die Tiefen des Selbstmordes der Mutter. Alles, auch das vermeintlich banalste Gespräch über Namensgebung, wird untrennbar Teil der Lebenslandschaft, die sie durchschreiten. Das grundlegende Einverständnis von Vater und Sohn behauptet dabei nicht, dass sie sich immer einig sind. Aber es macht einen Dialog möglich, der die Unterschiedlichkeit ihrer Haltungen erst deutlich macht, indem er sie absolut ernst nimmt. Am Ende des dritten Treffens fragt Jacques seinen Sohn, ob er es lieber hätte, wenn er, Jacques, Industrieller wäre. Der Sohn antwortet nur: Das ist nicht das Problem. Als Jacques beginnt von seinem Vater zu sprechen, der Arzt gewesen sei, und dessen Handeln er als junger Mann abgelehnt habe, wiederholt Joseph: Das ist nicht das Problem. Das erste Mal stoßen sie hier an eine Grenze des Verstehens, die auf ein radikal verändertes Verhältnis zu den Vaterfiguren verweist und damit – nimmt man das Pasolini-Zitat: „Geschichte ist die Passion der Söhne, die ihre Väter verstehen wollen“ am Ende des Films ernst – auf ein verändertes Verhältnis zur Geschichte. In der Welt von Joseph vereinfacht es nichts einen bourgeoisen Papa vor sich zu haben, von dessen Lebenslügen und Widersprüchlichkeiten man sich nur abgrenzen müsste. Die Eingliederung, der man sich 1968 so schön und romantisch, wie Joseph es einmal sagt, versucht hat zu widersetzen, ist immer schon geschehen; es gibt keine widerspruchsfreie Gegenposition. Das politische Leben findet sich nicht mehr außerhalb eines bürgerlichen, systemtragenden und falschen Lebens. Es steckt mittendrin, dort muss man suchen.
Dieser Grundkonflikt wird zum Oberton des andauernden Dialogs zwischen Vater und Sohn, der nicht endet mit den geteilten Wegen und dem gesprochenen Wort, sondern sich in komplexen Analogie- und Kontrastverhältnissen bis in die kleinsten Veränderungen beider Lebensführung hineinzieht. Ausgehend von den Treffen beginnt eine Suche mit gemeinsamem Ursprung und Ziel, die doch in ganz unterschiedliche Richtungen und zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen führt.
Jacques‘ Suche wird bestimmt wiedergeweckten Erinnerung an eine vergangene Haltung. Ich habe mich für die Revolution entschieden, sagt er einmal, und mit aller hilflosen Unnachgiebigkeit des Verzweifelten meint er sie wiederholen zu können. Aus der halben Erkenntnis der Abhängigkeiten, in die ihn seine bürgerliche Lebensweise samt Freunden im Landhaus, langjähriger Lebensgefährtin zu Hause und unliebsamer Arbeit geführt hat, versucht er die Kontrolle über sein Leben und seine Geschichte zurückzuerlangen. Die Sanftheit der ersten Szenen wird nun wiederholt von einer Härte verdrängt, die sich tragischerweise oft genug die falschen zum Ziel nimmt. Einem seiner Mitarbeiter fährt er unsanft über den Mund, als der ihn bei einem alten Spitznamen ruft und einer jungen Darstellerin, die nicht seinen Vorstellungen entspricht, hält er eine ziemlich heftige Standpauke. Jacques unterwirft sich nach und nach einer einmal begonnenen Auflösungsbewegung, die ihn immer weiter hinausführt aus allen Abhängigkeiten und doch nirgendwo hin, außer in die Wohnung einer fremden Frau, der er schlafwandlerisch von der Straße aus gefolgt war, wo er geisterhaft die Zeugnisse eines anderen Lebens begutachtet.
Kurz vor Ende des Films, als er seine Freundin endgültig verlässt, betritt Jacques noch einmal das bürgerliche Tableau um ein paar letzte Dinge zu holen. In Frontalinszenierung sehen wir: Ein Sofa, einen Stuhl, ein Bild an der Wand und seine Freundin Jeanne davor, unbeweglich, wie ein weiteres Möbelstück. Das Leben ist hier buchstäblich zur Einrichtung geworden; unerträglich bewegungslos. Und doch: als Jacques um seinen Mantel zu holen, an ihrem Rücken vorübergeht, die Körper sich einander nähern und er ein letztes Mal an ihren Haaren riecht, gibt es die Ahnung einer tiefen Intimität, welche dieses kalte Arrangement plötzlich belebt. Die folgende Frage, „Hast du gerade an meinen Haaren gerochen?“, mit der sich Jeanne, den Körper drehend, an Jacques wendet, bringt seine entschiedene Bewegung zum Stoppen. Hier im Grenzfluss zwischen den festen Verhältnissen und der Auflösung aller Verhältnisse, in den aufeinander reagierenden Bewegungen, die den unauflösbaren Widerspruch zwischen Liebe und Gefangensein suspendieren, blitzt noch einmal fern die Möglichkeit des guten Lebens auf. Doch die Kraft reicht nicht aus, um diesen flüssigen Zustand zu halten. Und schon reißen sie gemeinsam alle Möglichkeit wieder ein. Jeannes Feststellung „Du hast an meinen Haaren gerochen.“, will alles Lose wieder festzurren. Jacques, aus der Erstarrung hochgeschreckt, verlässt wie an der Schnur gezogen nach rechts das Bild. Bonellos Kamera kann hier nicht mehr folgen.
Ganz zum Schluss des Films ist er alleine in seinem kahlen Appartementzimmer und legt sich nieder aufs Bett. Sein Befreiungsversuch hat der Ohnmacht der Gefangenschaft nichts entgegenzusetzen, weil es da draußen gar nichts gibt. Außen, da ist nur noch Verhältnislosigkeit und neue Ohnmacht als freier Fall. Seine gescheiterte Revolution aber, und vielleicht rettet ihn das vor dem angekündigten Sprung aus dem Fenster, ist durch das Interview schon Teil eines tiefen Reflexionsprozess, der dem Grund seines Lebens so nahe kommt, dass die Hoffnung für morgen „auf mehr physische Kraft“, tatsächlich die Hoffnung auf eine neue Möglichkeit in sich trägt.
Joseph hat die nötige Kraft und die, das zeigt schon sein Gang, ist durchaus körperlich. Nach dem ersten Treffen mit dem Vater, sehen wir ihn bei einer politischen Diskussion in irgendeinem Raum an irgendeiner Universität. Eine Gruppe junger Leute diskutiert über die Möglichkeiten des politischen Protests. Die Weggefährten aus der WG sind noch dabei. Die Revolution, das scheint klar, bleibt Privileg und – hier vor allem – Last der Jugend. Man fühlt sich als Opfer einer versiegten Bewegung, deren Misserfolg man ausbaden muss; fordert mit einigen diffusen Worten die Auflehnung, die doch irgendwie möglich sein müsse; man möchte, muss etwas tun. Und man wartet und sitzt und jeder ist für sich in der Unschärfe des Teleobjektivs. Die Kamera bleibt hängen bei Joseph, der schließlich, nach einiger Beobachtung, die Situation zur ihrer Konsequenz führt. Man müsse Schweigen, das sei der ultimative Protest. Er blickt scharf in die Kamera, es blickt einen die letzte Entschiedenheit der Jugend an. Doch Schweigen ist hier Stillstand, absolute Bewegungslosigkeit und Totalverweigerung. Josephs Entschiedenheit ist anderer Art. Er steht federnd auf, nimmt seine Tasche und verlässt den Raum. In krassem Bewegungskontrast schneidet Bonello auf einen letzten, langsamen Schwenk durch die stummen Reihen, eine verwackelte Handkameraaufnahme des trotzig eilenden Joseph. Hier beginnt die Revolution aus dem Privaten, die sich schon zuvor angekündigt hat.
Joseph liebt Monika. Er interessiert sich nicht mehr für Architektur, er interessiert sich für Monika, sagt er zu einem seiner Mitbewohner; später gerät er mit ihm deshalb in einen Ringkampf. Man wirft ihm den Verrat seiner politischen Ziele vor. Das Gegenteil ist der Fall. Der anfangs beschriebene filmische Blick findet in der Annäherung von Joseph und Monika zu seiner größten Intensität. Die Bilder konzentrieren sich auf die kleinsten mimischen Regungen, man muss klarer sehen, um immer wieder neu zu sehen; ein Verhältnis im ewigen Werden. In einer durchgehenden Großaufnahme zeigt der Film die erste Begegnung der Beiden, den Tanz der sich umkreisenden Körper. Kein Kuss, keine Berührung, keine nackte Haut und doch Erotik, als die Spannung einer großen Möglichkeit.
Die oberflächliche Keuschheit dieser Beziehung hat in der Filmkritik dazu geführt, Joseph als konservativ zu bezeichnen. Gerade im Kontrast zum Vater scheint der Film dies nahezulegen. Die konkret körperliche Beziehung zu seinen Darstellerinnen und seine Ideale von offener Sexualität und freier Liebe bilden das vermeintliche Gegenstück zur privaten Ausschließlichkeit der jungen Ehe. Dennoch wäre das zu kurz gegriffen, im Kern geht es in Le Pornographe in beiden Fällen vielleicht sogar um das Gleiche: Wie kann es in dieser Welt ein freies Verhältnis zwischen Unterschiedenem geben, das beständig neue Bewegung und damit Handlungsmöglichkeit hervorbringt? In dieser Hinsicht ist die Kritik des Films an der Pornographie, eben die Kritik an einer degenerierten Form der Pornographie; so wie die Kritik der 68er an der bürgerlichen Zweierbeziehung die Kritik an einer degenerierten Form der Zweierbeziehung ist, die allerorten Unterdrückung hervorbringt. Le Pornographe schenkt Joseph und Monika dieses freie Verhältnis immer wieder, am eindrücklichsten bei einem mirakulösen Ausflug aufs Land, der in eine quasi biblische Liebesszene und die Zeugung eines Kindes führt. Entgegen aller Stereotype sehen wir nicht den Rückzug in eine individuell-privatistische Heilsvorstellung. Die Energie von Josephs aufgedrehtem Freudenboxtanz überträgt sich bis in die plötzlich wundersam stillen Straßen von Paris.
Sicher gibt es ein starkes Moment der Utopie in diesen Szenen, aber das Revolutionäre besteht auch nicht darin, der Ehe durch den Sprung in die große Unschuld wieder zur ewigen Gültigkeit zu verhelfen. Die Revolution besteht darin, die Vorstellung der Revolution selbst, abseits von erstarrten ideologischen Ordnungen, wieder in Bewegung zu bringen. Die jugendliche Kraft braucht es hier – und das meint bei Bonello ganz emphatisch auch heute – nicht mehr, um sich möglichst weit abzustoßen von dem, was war, auf der Suche nach dem ganz Neuen, das man dort zu finden meint. Es braucht sie, um zuzugehen auf die Welt mitsamt ihren Widersprüchen, um zu sehen was ist und in beweglichem Umgang mit ihnen die aktuellen Verhältnisse stetig neu zu übersteigen. Die Natur dieses Sprungs bleibt letztlich vielleicht mysteriös, aber man kann ihn sehen und da schreien; zeigen.