Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Eine Politik der Lebensführung: Le Pornographe von Bertrand Bonello

Trotz vie­ler Stun­den Arbeit mit Le Por­no­gra­phe (2001) ist die­ser Text ein­fach nicht zu kon­trol­lie­ren. Unkon­trol­lier­bar die Spra­che, die kei­nen Halt fin­det, die Begrif­fe, die zu groß, zu unklar oder ein­fach falsch erschei­nen, die Struk­tur der Argu­men­ta­ti­on und also letzt­end­lich Bonel­los Film, der auf die­sen Sei­ten ein gro­ßes Durch­ein­an­der an unzu­sam­men­hän­gen­den Noti­zen ange­rich­tet hat. Aber ein­fach über etwas ande­res schrei­ben geht nicht. Weil das dring­lich ist, was man meint, für einen Augen­blick klar gese­hen zu haben, man aber par­tout nicht mehr weiß, wie genau es aus­sah. Inso­fern ist Den­ken Erin­ne­rungs­ar­beit und Schrei­ben der Ver­such zu zei­gen, was man da gese­hen hat. Eigent­lich ganz ein­fach, das kann jedes Kind: Zei­ge­fin­ger raus und da! schreien.

Da, fast am Ende von Le Por­no­gra­phe, ich erin­ne­re mich noch gut, als Jac­ques Lau­rent (Jean-Pierre Léaud), der Por­no­graph, zu der Jour­na­lis­tin, die ihn gera­de inter­viewt, sagt: „Sie spre­chen über die Kar­rie­re und ich spre­che über mein Leben. Des­halb sind ihre Fra­gen obs­zön. Des­halb sind sie obs­zön und nicht ich.“ Ich mei­ne, hier ver­sprach­licht sich, was schon von Anfang des Films in der Art und Wei­se sicht­bar ist, wie Bonel­los Kame­ra auf die Welt blickt. Die­ser Text soll­te viel­leicht ein Ver­such sein, das zu zeigen.

Also, ein­mal ganz an den Anfang: Wir sehen kon­zen­trier­te Gesich­ter ver­schie­dens­ten Alters im Dun­kel eines Kino­saals. Die Ton­spur macht uns klar, dass die Quel­le des Wider­scheins, der die­se Gesich­ter erhellt, die Pro­jek­ti­on eines Por­no­films ist. Der Blick wird hier ver­kehrt, von der Lein­wand aus schaut er ins Leben rein. Kurz dar­auf sehen wir das ers­te Mal Jaques, der die lang­sa­me Sanft­heit des Parks, durch den er schlen­dert, in sei­ne eige­nen bedach­ten Bewe­gun­gen auf­ge­nom­men zu haben scheint. Die Kame­ra folgt ihm auf dem Weg zurück zum groß­bür­ger­li­chen Land­haus der Freun­de. Hier lauscht man der Barock­mu­sik und steht sin­nend am Fens­ter oder blät­tert – wie Jaques vor­sich­tig eines der vie­len Bücher auf. Am nächs­ten Tag wird die­ser, durch finan­zi­el­le Schwie­rig­kei­ten gezwun­gen, sei­nen ers­ten Por­no­film seit lan­ger Zeit dre­hen. In einem Haus, das von dem hier kaum zu unter­schei­den ist. Dort lauscht man dem Elec­t­ro-Soul und hat Sex vor der Kamera.

Bertrand Bonello - Le Pornographe

In Le Por­no­gra­phe pro­du­zie­ren die Prot­ago­nis­ten und ihre Lebens­ver­hält­nis­se stän­dig Wider­sprü­che und Kon­tras­te. Jac­ques› bour­geoi­ser Wunsch nach einem eige­nen Land­haus und sein Leben als ehe­mals anti­bür­ger­li­cher Por­no­re­gis­seur ste­hen ein­an­der schein­bar unver­ein­bar gegen­über. Und doch fin­det Bonel­los Blick eine Ebe­ne, die die­sen Wider­sprü­chen vor­gän­gig ist ohne sie zu negie­ren. Le Por­no­gra­phe ist ein Film der – gewis­ser­ma­ßen – ein­fa­chen Bil­der. Aller Lärm von Far­ben und For­men ist aus­ge­sperrt zu Guns­ten einer Klar­heit, wel­che die Prot­ago­nis­ten zum unbe­strit­te­nen Zen­trum der Bil­der wer­den lässt. In die­ser luzi­den Sicht­bar­keit beob­ach­tet der Film, unauf­dring­lich und den­noch größ­te Sor­ge tra­gend, Gesich­ter, Ges­ten und Hal­tun­gen. Die Auf­merk­sam­keit, mit der die Kame­ra den ein­zel­nen Men­schen folgt, ist im Grun­de hoff­nungs­voll. Der Mensch wird ihr zum Gegen­über, als jemand, der in jedem Moment die Mög­lich­keit hat, zu Han­deln und Ent­schei­dun­gen zu tref­fen. Die­se Exis­tenz führt aber am Anfang des 21. Jahr­hun­derts zur Koexis­tenz von wider­sprüch­li­chen Hand­lun­gen, Äuße­run­gen und Ent­schei­dun­gen. Der Film geht die Bewe­gun­gen die­ses zeit­ge­nös­si­schen Lebens mit, ist hin­ein­ge­nom­men in die kom­ple­xen Ver­hält­nis­se, in denen so ein Leben gelebt wird.

In Anbe­tracht der por­no­gra­phi­schen Sze­nen der ers­ten hal­ben Stun­de des Films sorgt die­se Blick­ver­schie­bung für die Auf­he­bung einer voy­eu­ris­ti­schen Außen­per­spek­ti­ve, die eigent­lich immer schon um die mora­li­sche Ver­werf­lich­keit von Por­no­gra­phie weiß, um sich dann doch dar­an zu ergöt­zen. Le Por­no­gra­phe fin­det so zu einer Offen­heit, die zei­gen kann, wie sich die Bezie­hun­gen zwi­schen den Akteu­ren – zwi­schen Regis­seur, Dar­stel­lern, Pro­du­zent und Tech­ni­kern – als kon­kre­te Lebens­ver­hält­nis­se her­stel­len. Die etwa zwan­zig­mi­nü­ti­ge Insze­nie­rung des Por­no­drehs probt und ver­han­delt die­se Ver­hält­nis­se. Selbst den Dar­stel­lern bleibt zunächst die Frei­heit sich tat­säch­lich durch die Sze­na­ri­en zu spie­len. Trotz ihrer höl­zer­nen Inter­ak­tio­nen trennt der Film anfangs nicht durch ein­deu­ti­ge Blick­struk­tu­ren zwi­schen dem Gesche­hen vor der Kame­ra und dem neben der Kame­ra. Jac­ques gibt abseits des Sets beim Rau­chen auf dem Bal­kon des Her­ren­hau­ses die ästhe­ti­sche Losung dazu aus: „Um bis zum Ende erregt zu blei­ben, muss man den bei­den glau­ben, dass sie sich lieben.“

Bertrand Bonello - Le Pornographe

Am Ende schei­tert die­ser Anspruch und doch wird die­ses Schei­tern dabei nicht der Por­no­gra­phie selbst ange­las­tet. Augen­schein­lich klafft zuneh­mend eine Lücke zwi­schen der idea­lis­ti­schen Idee Jac­ques› und der Rea­li­tät die­ses Por­no­drehs. Nach und nach gewinnt das öko­no­mi­sche Kal­kül des Pro­du­zen­ten die Ober­hand dar­über, wie sich die Ver­hält­nis­se her­stel­len. Die Dar­stel­ler wer­den dann doch zu Mario­net­ten des Blicks, es wird nicht mehr ver­han­delt, son­dern befoh­len. Der Pro­du­zent ent­schei­det schließ­lich buch­stäb­lich über Jac­ques› tief gesun­ke­nen Kopf ent­ge­gen aller Regie­vor­ga­ben: Nagel­lack, Musik, lau­te­res Stöh­nen und, jetzt, Moneyshot. Am Ende die­ser lan­gen, letz­ten Sex­sze­ne sitzt Jaques zusam­men­ge­sackt in sei­nem Regie­stuhl, allei­ne und der Blick zu Boden. Es ist der Tief­punkt einer sich stei­gern­den Unfä­hig­keit, eine akti­ve Bezie­hung zum Dreh­ge­sche­hen auf­zu­bau­en und damit ein ech­tes Schei­tern, eben weil Le Por­no­gra­phe die­ses Schei­tern nicht von vor­ne­her­ein als alter­na­tiv­los voraussetzt.

Die­ser fil­mi­sche Blick auf die Welt ist ein Blick, der radi­kal im Leben steht. Er ver­traut nicht dar­auf, dass man die Ver­hält­nis­se nur aus­stel­len muss und die sich dann in ihrer ver­meint­li­chen Wider­sprüch­lich­keit oder Bana­li­tät schon von selbst kri­ti­sie­ren. Es geht dem Film immer dar­um, ob und wie man einen han­deln­den Umgang mit den aktu­el­len Ver­hält­nis­sen fin­den kann. Am Ende steht die Fra­ge, wie man leben kann in die­ser Welt.

Unter die­ser Fra­ge wird jeg­li­che Tren­nung von Arbeit und Leben, bis ins Pri­va­tes­te hin­ein, unmög­lich; wenn wir Jac­ques am Set schei­tern sehen, dann sehen wir zugleich das Schei­tern eines Lebens. Des­halb ist die Jour­na­lis­tin obs­zön: weil es obs­zön ist zu glau­ben, es sich mit objek­ti­vie­ren­der Bericht­erstat­tung in einer Außen­po­si­ti­on gemüt­lich machen zu kön­nen, von der aus sich die Ver­wor­ren­heit eines Lebens mit ein paar ein­fa­chen Fra­gen mühe­los über­bli­cken lie­ße; von der aus man eini­ge Fra­gen zur Kar­rie­re stel­len kön­ne ohne damit zugleich über ein, oder – die Fra­gen­de ein­ge­schlos­sen – eigent­lich zwei Leben zu reden. Jac­ques, und auch Bonel­los Film, weist die­se ein­fa­chen mora­li­sie­ren­den Stand­punk­te sei­ner­seits mora­lisch zurück. Man darf das nicht miss­ver­ste­hen. Es geht dabei kei­nes­wegs dar­um, Kri­tik an einer bestimm­ten Lebens­füh­rung oder bestimm­ten Ver­hält­nis­sen, in denen ein Leben statt­fin­det, aus­zu­schlie­ßen oder gar mit erho­be­nem Zei­ge­fin­ger zu ver­bie­ten. Aber: Kri­tik am Leben muss sich selbst den Wider­sprü­chen des Lebens aus­set­zen, um über­haupt eine Ahnung zu bekom­men, wovon sie spricht. Nur so kann sie zu einem ange­mes­se­nen Maß­stab kom­men. Die­ser Maß­stab ist eben nicht starr und unver­än­der­lich und tritt von außen an die Din­ge der Welt her­an, son­dern ist selbst so beweg­lich wie der Umgang des Men­schen mit der Welt.

Bertrand Bonello - Le Pornographe

So bleibt die Insze­nie­rung, trotz aller Kri­tik an einer beschrän­ken­den, weil öko­no­mi­sier­ten Form von Por­no­gra­phie, immer offen für augen­blick­haf­te Momen­te der Befrei­ung: in der Mit­te des Films sehen wir eine der Dar­stel­le­rin­nen plötz­lich vom gemein­sa­men Essen­s­tisch auf­ste­hen und minu­ten­lang tan­zen in einer neu­en Welt aus Zeit­lu­pe und wun­der­sa­mem Fla­cker­licht, die so gar nicht zur pro­vin­zi­el­len Aus­stat­tung der Crew-Abstei­ge pas­sen mag. In die­sem irre­du­zi­blen Mög­lich­keits­schim­mern scheint momen­tan auf, was das gute Leben sein könn­te: Ein Umgang mit der Welt, der aus der Erkennt­nis der Ver­hält­nis­se han­delnd, statt ein­fach ihnen ent­flie­hend, die­se Ver­hält­nis­se über­steigt, sie außer Kraft setzt und so eine ande­re Welt in Ansicht stellt; oder ein­fach in die sti­cki­ge Stil­le eines frus­trier­ten Por­no­teams plötz­lich etwas Luft zum Atmen gibt.

Bertrand Bonello - Le Pornographe

Es ist der Auf­tritt des Soh­nes Joseph (Jéré­mie Reni­er) nach etwa einer hal­ben Stun­de, der mehr als ein ver­ge­hen­des Schim­mern ver­spricht. Auch von ihm zuerst ein Gang, aber nicht traum­ver­lo­ren durch einen Park wie der Vater, son­dern ener­gisch, immer zu auf die Kame­ra, durch die Stra­ßen der Stadt. Dann ein Stu­den­ten­zim­mer, Alt­bau, zwei Matrat­zen auf dem Boden, zwei Freun­de und Joseph beim Müßig­gang, kurz dar­auf die gemein­schaft­li­che For­mu­lie­rung einer offen­bar poli­ti­schen Flug­schrift. Das könn­te auch ‹68 sein; spä­ter erfah­ren wir, dass Jac­ques zu die­ser Zeit gemein­sam mit Freun­den begann Por­nos zu machen. Die­ser kur­ze Blick auf ‹68 ist der geschicht­li­che Grund, vor dem die Auf­ga­be, ein Leben mit der Welt zu füh­ren, ihre poli­ti­sche Dimen­si­on zurück­er­hält. Die trau­ri­ge Lächer­lich­keit, mit der Jac­ques› Idea­lis­mus am Por­no-Set unter­geht, weist so nicht mehr nur hin­ein ins Pri­va­te, son­dern auch hin­aus auf eine ehe­mals poli­ti­sche Hal­tung, die ihren Zugriff auf die Welt ver­lo­ren. Die Sicht­bar­ma­chung von Sexua­li­tät, die einst gegen eine been­gen­de bür­ger­li­che Moral auf­be­gehr­te, hat ihren revo­lu­tio­nä­ren Impe­tus ver­lo­ren und ist fast völ­lig ein­ge­glie­dert in die Kapi­tal­un­ter­neh­mun­gen des Kör­pers. Nie­mand wird befreit von die­sen Fil­men, nicht die Dar­stel­ler, nicht das Publi­kum, nicht Jac­ques. Man kann nicht ein­fach Por­nos machen wie vor 30 Jah­ren. Es braucht eine neue Bewe­gung, um das gro­ße Pro­jekt der 68er – den Ent­wurf eines poli­ti­schen Lebens, in dem Arbeit und Pri­va­tes, poli­ti­sche Akti­on und All­tag, Den­ken und Han­deln inein­an­der ver­schränkt sind – noch ein­mal ins Blick­feld zu bekom­men. Aber woher die Kraft dafür nehmen?

Bertrand Bonello - Le Pornographe

Jac­ques, in sei­ner gro­ßen Erschöp­fung, fehlt die­se Kraft. Erst Joseph sorgt mit for­schem Gang und for­schen­dem Blick für den drin­gen­den Bewe­gungs­im­puls. Beim ers­ten Tref­fen wech­seln die Bei­den kaum ein Wort. Nach einem kur­zen Moment der Mus­te­rung, einem Inne­hal­ten, einer Hand­rei­chung beginnt die gemein­sa­me Bewe­gung. Mit weni­gen Ein­stel­lun­gen, die auf alle übli­chen Wie­der­se­hens­sen­ti­men­ta­li­tä­ten ver­zich­ten, stellt der Film hier im stil­len Ein­ver­ständ­nis sei­ner Prot­ago­nis­ten die Span­nung eines frei­en Ver­hält­nis­ses her. In jedem Moment ist alles sag­bar; die Gesprä­che wäh­rend ihrer Pas­sa­gen durch die Stadt wan­dern von den Ebe­nen der Arbeit und der Kind­heit in die Höhen der Revo­lu­ti­on und des poli­ti­schen Lebens und stei­gen wie­der hin­ab in die Tie­fen des Selbst­mor­des der Mut­ter. Alles, auch das ver­meint­lich banals­te Gespräch über Namens­ge­bung, wird untrenn­bar Teil der Lebens­land­schaft, die sie durch­schrei­ten. Das grund­le­gen­de Ein­ver­ständ­nis von Vater und Sohn behaup­tet dabei nicht, dass sie sich immer einig sind. Aber es macht einen Dia­log mög­lich, der die Unter­schied­lich­keit ihrer Hal­tun­gen erst deut­lich macht, indem er sie abso­lut ernst nimmt. Am Ende des drit­ten Tref­fens fragt Jac­ques sei­nen Sohn, ob er es lie­ber hät­te, wenn er, Jac­ques, Indus­tri­el­ler wäre. Der Sohn ant­wor­tet nur: Das ist nicht das Pro­blem. Als Jac­ques beginnt von sei­nem Vater zu spre­chen, der Arzt gewe­sen sei, und des­sen Han­deln er als jun­ger Mann abge­lehnt habe, wie­der­holt Joseph: Das ist nicht das Pro­blem. Das ers­te Mal sto­ßen sie hier an eine Gren­ze des Ver­ste­hens, die auf ein radi­kal ver­än­der­tes Ver­hält­nis zu den Vater­fi­gu­ren ver­weist und damit – nimmt man das Paso­li­ni-Zitat: «Geschich­te ist die Pas­si­on der Söh­ne, die ihre Väter ver­ste­hen wol­len» am Ende des Films ernst – auf ein ver­än­der­tes Ver­hält­nis zur Geschich­te. In der Welt von Joseph ver­ein­facht es nichts einen bour­geoi­sen Papa vor sich zu haben, von des­sen Lebens­lü­gen und Wider­sprüch­lich­kei­ten man sich nur abgren­zen müss­te. Die Ein­glie­de­rung, der man sich 1968 so schön und roman­tisch, wie Joseph es ein­mal sagt, ver­sucht hat zu wider­set­zen, ist immer schon gesche­hen; es gibt kei­ne wider­spruchs­freie Gegen­po­si­ti­on. Das poli­ti­sche Leben fin­det sich nicht mehr außer­halb eines bür­ger­li­chen, sys­tem­tra­gen­den und fal­schen Lebens. Es steckt mit­ten­drin, dort muss man suchen.

Die­ser Grund­kon­flikt wird zum Ober­ton des andau­ern­den Dia­logs zwi­schen Vater und Sohn, der nicht endet mit den geteil­ten Wegen und dem gespro­che­nen Wort, son­dern sich in kom­ple­xen Ana­lo­gie- und Kon­trast­ver­hält­nis­sen bis in die kleins­ten Ver­än­de­run­gen bei­der Lebens­füh­rung hin­ein­zieht. Aus­ge­hend von den Tref­fen beginnt eine Suche mit gemein­sa­mem Ursprung und Ziel, die doch in ganz unter­schied­li­che Rich­tun­gen und zu ganz unter­schied­li­chen Ergeb­nis­sen führt.

Jac­ques› Suche wird bestimmt wie­der­ge­weck­ten Erin­ne­rung an eine ver­gan­ge­ne Hal­tung. Ich habe mich für die Revo­lu­ti­on ent­schie­den, sagt er ein­mal, und mit aller hilf­lo­sen Unnach­gie­big­keit des Ver­zwei­fel­ten meint er sie wie­der­ho­len zu kön­nen. Aus der hal­ben Erkennt­nis der Abhän­gig­kei­ten, in die ihn sei­ne bür­ger­li­che Lebens­wei­se samt Freun­den im Land­haus, lang­jäh­ri­ger Lebens­ge­fähr­tin zu Hau­se und unlieb­sa­mer Arbeit geführt hat, ver­sucht er die Kon­trol­le über sein Leben und sei­ne Geschich­te zurück­zu­er­lan­gen. Die Sanft­heit der ers­ten Sze­nen wird nun wie­der­holt von einer Här­te ver­drängt, die sich tra­gi­scher­wei­se oft genug die fal­schen zum Ziel nimmt. Einem sei­ner Mit­ar­bei­ter fährt er unsanft über den Mund, als der ihn bei einem alten Spitz­na­men ruft und einer jun­gen Dar­stel­le­rin, die nicht sei­nen Vor­stel­lun­gen ent­spricht, hält er eine ziem­lich hef­ti­ge Stand­pau­ke. Jac­ques unter­wirft sich nach und nach einer ein­mal begon­ne­nen Auf­lö­sungs­be­we­gung, die ihn immer wei­ter hin­aus­führt aus allen Abhän­gig­kei­ten und doch nir­gend­wo hin, außer in die Woh­nung einer frem­den Frau, der er schlaf­wand­le­risch von der Stra­ße aus gefolgt war, wo er geis­ter­haft die Zeug­nis­se eines ande­ren Lebens begutachtet.

Betrand Bonello - Le Pornographe

Kurz vor Ende des Films, als er sei­ne Freun­din end­gül­tig ver­lässt, betritt Jac­ques noch ein­mal das bür­ger­li­che Tableau um ein paar letz­te Din­ge zu holen. In Fron­tal­in­sze­nie­rung sehen wir: Ein Sofa, einen Stuhl, ein Bild an der Wand und sei­ne Freun­din Jean­ne davor, unbe­weg­lich, wie ein wei­te­res Möbel­stück. Das Leben ist hier buch­stäb­lich zur Ein­rich­tung gewor­den; uner­träg­lich bewe­gungs­los. Und doch: als Jac­ques um sei­nen Man­tel zu holen, an ihrem Rücken vor­über­geht, die Kör­per sich ein­an­der nähern und er ein letz­tes Mal an ihren Haa­ren riecht, gibt es die Ahnung einer tie­fen Inti­mi­tät, wel­che die­ses kal­te Arran­ge­ment plötz­lich belebt. Die fol­gen­de Fra­ge, «Hast du gera­de an mei­nen Haa­ren gero­chen?», mit der sich Jean­ne, den Kör­per dre­hend, an Jac­ques wen­det, bringt sei­ne ent­schie­de­ne Bewe­gung zum Stop­pen. Hier im Grenz­fluss zwi­schen den fes­ten Ver­hält­nis­sen und der Auf­lö­sung aller Ver­hält­nis­se, in den auf­ein­an­der reagie­ren­den Bewe­gun­gen, die den unauf­lös­ba­ren Wider­spruch zwi­schen Lie­be und Gefan­gen­sein sus­pen­die­ren, blitzt noch ein­mal fern die Mög­lich­keit des guten Lebens auf. Doch die Kraft reicht nicht aus, um die­sen flüs­si­gen Zustand zu hal­ten. Und schon rei­ßen sie gemein­sam alle Mög­lich­keit wie­der ein. Jean­nes Fest­stel­lung «Du hast an mei­nen Haa­ren gero­chen.», will alles Lose wie­der fest­zur­ren. Jac­ques, aus der Erstar­rung hoch­ge­schreckt, ver­lässt wie an der Schnur gezo­gen nach rechts das Bild. Bonel­los Kame­ra kann hier nicht mehr folgen.

Ganz zum Schluss des Films ist er allei­ne in sei­nem kah­len Appar­te­ment­zim­mer und legt sich nie­der aufs Bett. Sein Befrei­ungs­ver­such hat der Ohn­macht der Gefan­gen­schaft nichts ent­ge­gen­zu­set­zen, weil es da drau­ßen gar nichts gibt. Außen, da ist nur noch Ver­hält­nis­lo­sig­keit und neue Ohn­macht als frei­er Fall. Sei­ne geschei­ter­te Revo­lu­ti­on aber, und viel­leicht ret­tet ihn das vor dem ange­kün­dig­ten Sprung aus dem Fens­ter, ist durch das Inter­view schon Teil eines tie­fen Refle­xi­ons­pro­zess, der dem Grund sei­nes Lebens so nahe kommt, dass die Hoff­nung für mor­gen „auf mehr phy­si­sche Kraft“, tat­säch­lich die Hoff­nung auf eine neue Mög­lich­keit in sich trägt.

Bertrand Bonello - Le Pornographe

Joseph hat die nöti­ge Kraft und die, das zeigt schon sein Gang, ist durch­aus kör­per­lich. Nach dem ers­ten Tref­fen mit dem Vater, sehen wir ihn bei einer poli­ti­schen Dis­kus­si­on in irgend­ei­nem Raum an irgend­ei­ner Uni­ver­si­tät. Eine Grup­pe jun­ger Leu­te dis­ku­tiert über die Mög­lich­kei­ten des poli­ti­schen Pro­tests. Die Weg­ge­fähr­ten aus der WG sind noch dabei. Die Revo­lu­ti­on, das scheint klar, bleibt Pri­vi­leg und – hier vor allem – Last der Jugend. Man fühlt sich als Opfer einer ver­sieg­ten Bewe­gung, deren Miss­erfolg man aus­ba­den muss; for­dert mit eini­gen dif­fu­sen Wor­ten die Auf­leh­nung, die doch irgend­wie mög­lich sein müs­se; man möch­te, muss etwas tun. Und man war­tet und sitzt und jeder ist für sich in der Unschär­fe des Tele­ob­jek­tivs. Die Kame­ra bleibt hän­gen bei Joseph, der schließ­lich, nach eini­ger Beob­ach­tung, die Situa­ti­on zur ihrer Kon­se­quenz führt. Man müs­se Schwei­gen, das sei der ulti­ma­ti­ve Pro­test. Er blickt scharf in die Kame­ra, es blickt einen die letz­te Ent­schie­den­heit der Jugend an. Doch Schwei­gen ist hier Still­stand, abso­lu­te Bewe­gungs­lo­sig­keit und Total­ver­wei­ge­rung. Josephs Ent­schie­den­heit ist ande­rer Art. Er steht federnd auf, nimmt sei­ne Tasche und ver­lässt den Raum. In kras­sem Bewe­gungs­kon­trast schnei­det Bonel­lo auf einen letz­ten, lang­sa­men Schwenk durch die stum­men Rei­hen, eine ver­wa­ckel­te Hand­ka­me­ra­auf­nah­me des trot­zig eilen­den Joseph. Hier beginnt die Revo­lu­ti­on aus dem Pri­va­ten, die sich schon zuvor ange­kün­digt hat.

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Joseph liebt Moni­ka. Er inter­es­siert sich nicht mehr für Archi­tek­tur, er inter­es­siert sich für Moni­ka, sagt er zu einem sei­ner Mit­be­woh­ner; spä­ter gerät er mit ihm des­halb in einen Ring­kampf. Man wirft ihm den Ver­rat sei­ner poli­ti­schen Zie­le vor. Das Gegen­teil ist der Fall. Der anfangs beschrie­be­ne fil­mi­sche Blick fin­det in der Annä­he­rung von Joseph und Moni­ka zu sei­ner größ­ten Inten­si­tät. Die Bil­der kon­zen­trie­ren sich auf die kleins­ten mimi­schen Regun­gen, man muss kla­rer sehen, um immer wie­der neu zu sehen; ein Ver­hält­nis im ewi­gen Wer­den. In einer durch­ge­hen­den Groß­auf­nah­me zeigt der Film die ers­te Begeg­nung der Bei­den, den Tanz der sich umkrei­sen­den Kör­per. Kein Kuss, kei­ne Berüh­rung, kei­ne nack­te Haut und doch Ero­tik, als die Span­nung einer gro­ßen Möglichkeit.

Bertrand Bonello - Le Pornographe

Die ober­fläch­li­che Keusch­heit die­ser Bezie­hung hat in der Film­kri­tik dazu geführt, Joseph als kon­ser­va­tiv zu bezeich­nen. Gera­de im Kon­trast zum Vater scheint der Film dies nahe­zu­le­gen. Die kon­kret kör­per­li­che Bezie­hung zu sei­nen Dar­stel­le­rin­nen und sei­ne Idea­le von offe­ner Sexua­li­tät und frei­er Lie­be bil­den das ver­meint­li­che Gegen­stück zur pri­va­ten Aus­schließ­lich­keit der jun­gen Ehe. Den­noch wäre das zu kurz gegrif­fen, im Kern geht es in Le Por­no­gra­phe in bei­den Fäl­len viel­leicht sogar um das Glei­che: Wie kann es in die­ser Welt ein frei­es Ver­hält­nis zwi­schen Unter­schie­de­nem geben, das bestän­dig neue Bewe­gung und damit Hand­lungs­mög­lich­keit her­vor­bringt? In die­ser Hin­sicht ist die Kri­tik des Films an der Por­no­gra­phie, eben die Kri­tik an einer dege­ne­rier­ten Form der Por­no­gra­phie; so wie die Kri­tik der 68er an der bür­ger­li­chen Zwei­er­be­zie­hung die Kri­tik an einer dege­ne­rier­ten Form der Zwei­er­be­zie­hung ist, die aller­or­ten Unter­drü­ckung her­vor­bringt. Le Por­no­gra­phe schenkt Joseph und Moni­ka die­ses freie Ver­hält­nis immer wie­der, am ein­drück­lichs­ten bei einem mira­ku­lö­sen Aus­flug aufs Land, der in eine qua­si bibli­sche Lie­bes­sze­ne und die Zeu­gung eines Kin­des führt. Ent­ge­gen aller Ste­reo­ty­pe sehen wir nicht den Rück­zug in eine indi­vi­du­ell-pri­va­tis­ti­sche Heils­vor­stel­lung. Die Ener­gie von Josephs auf­ge­dreh­tem Freu­den­box­tanz über­trägt sich bis in die plötz­lich wun­der­sam stil­len Stra­ßen von Paris.

Bertrand Bonello - Le Pornographe

Sicher gibt es ein star­kes Moment der Uto­pie in die­sen Sze­nen, aber das Revo­lu­tio­nä­re besteht auch nicht dar­in, der Ehe durch den Sprung in die gro­ße Unschuld wie­der zur ewi­gen Gül­tig­keit zu ver­hel­fen. Die Revo­lu­ti­on besteht dar­in, die Vor­stel­lung der Revo­lu­ti­on selbst, abseits von erstarr­ten ideo­lo­gi­schen Ord­nun­gen, wie­der in Bewe­gung zu brin­gen. Die jugend­li­che Kraft braucht es hier – und das meint bei Bonel­lo ganz empha­tisch auch heu­te – nicht mehr, um sich mög­lichst weit abzu­sto­ßen von dem, was war, auf der Suche nach dem ganz Neu­en, das man dort zu fin­den meint. Es braucht sie, um zuzu­ge­hen auf die Welt mit­samt ihren Wider­sprü­chen, um zu sehen was ist und in beweg­li­chem Umgang mit ihnen die aktu­el­len Ver­hält­nis­se ste­tig neu zu über­stei­gen. Die Natur die­ses Sprungs bleibt letzt­lich viel­leicht mys­te­ri­ös, aber man kann ihn sehen und da schrei­en; zeigen.