Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Einführung zu Déjà s’envole la fleur maigre

Nach gestern widmen wir uns heute ein weiteres Mal der Welt italienischer Arbeitsmigrant:innen und damit nochmal dem unwirtlichen, geschichtsträchtigen und verarmten Gelände der Borinage in Wallonien, zu dem wir ebenfalls gestern einiges in der Einführung von Max Grenz gehört haben: Mitte des 19. Jahrhunderts das Zentrum europäischer Kohlegewinnung, florierende Schwärze, eine unsagbare Monokultur, spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg dann langsam stillgelegt, abgerissen, das Sozialamt wurde wichtiger als die Schächte, die Narben in der Erde sind geblieben, heute auch Weltkulturerbe. Man kann dorthin gehen und die Architektur bewundern, die Architektur dieser Maschine, die der britische Autor und Philosoph John Berger einmal provokant aber sicher nicht ganz unpassend eine weitere industrielle Tötungsmaschinerie des 20. und 19. Jahrhunderts nannte.

Ich verdiene an dem, was ich nicht esse, an den Socken, die ich nicht kaufe, an dem, was ich nicht trinke, an der Gartenarbeit, die ich verrichte, statt zu schlafen;

das sagt einer der Protagonisten zu Beginn von Déjà s’envole la fleur maigre von Paul Meyer aus dem Jahr 1960 und es sagt eigentlich bereits alles über diesen Mann, sein Leben und auch den Film, der es wie kaum ein anderer schafft, dem Elend ein Stück Leben abzuringen, der Sprachlosigkeit ein wenig Poesie, dem Hoffnungslosen das, was Würde verleiht. Es gibt viele Dinge, auf die Sie in diesem Film achten können; ich denke, es ist einer der besten Filme, die es gibt, aber das spielt keine Rolle. Die Qualitäten sind vielleicht nicht ganz leicht zu sehen, sind wir doch an so viele falsche Bilder von Armut und sozialen Brennpunkten gewöhnt. Achten Sie zum Beispiel auf die Hände der Menschen in diesem Film: Wen sie berühren, wie sie berühren, wo sie sich verstecken, wie sie gestikulieren, wie sie aussehen, gezeichnet sind. Was machen die Hände? Fast alle Personen in diesem Film spielen sich selbst, sie sind Laien. Man könnte den Film als neorealistischen Film sehen, aber hinter ihm steht nicht ein erneuertes italienisches Kino, nicht die Energie und die zumindest gefühlt errungenen Freiheit von Vittorio De Sica oder Roberto Rossellini oder Cesare Zavattini, nein, hinter ihm steht nichts. Eine wallonische Wüste des Schweigens, eine Scham über versprochene und dann versandete Perspektiven, heftige Minenunglücke, die von vielen Medien ignoriert werden, eine anhaltende Ungerechtigkeit. Keiner mit Karrierewunsch würde darüber einen Film machen. Paul Meyer hat aber darüber einen Film gemacht, es sollte sein einziger Kinofilm bleiben und das nicht aus freien Stücken. Auch er war ein Wallone, 1920 geboren, 2007 gestorben. Man hat ihn als militanten Kommunisten bezeichnet; eine Zeit lang hat er Kurzfilme fürs flämische Fernsehen gedreht, dann hat sein Produzent das Fernsehen verlassen, um mit dem belgischen Einwanderungsministerium zusammengearbeitet, wo die die Idee für einen Film über Migration entstand – ein beauftragter Kurzfilm, der zeigt, wie gut sich die Kinder eingelebt haben in Belgien, in der Borinage. Dort haben Meyers Großeltern gelebt, vielleicht wurde er auch deshalb für diesen Film ausgewählt. Sonst ergibt das eigentlich keinen Sinn. Jemand hat auf YouTube ein Gespräch mit Meyer veröffentlicht, wenige Jahre vor dessen Tod. Wenn Sie französisch verstehen, schauen sie sich das an. Da spricht jemand, der gelernt hat, besser nichts zu sagen, dann endlich sprechen darf und auf einmal doch alles sagt. Als Meyer Ende der 1950er Jahre in der Borinage ankommt, sind die Zechenschließungen in vollem Gange. Familien geben auf, diese Welt löst sich auf. Menschen kehren zurück nach Sizilien, nach Kalabrien, nach Sardinien, Hauptsache zurück. Andere gehen nach Deutschland zum Beispiel, aber da ist es, wir wissen das, auch nicht besser in der Regel: Arbeitslosigkeit, Alkoholismus, Perspektivlosigkeit. Manche, auch die, die wir im Film kennen lernen, driften schon seit Jahrzehnten durch Europa, auf der Suche nach Arbeit und geraten deshalb an den Rand des Gesetzes. 50.000 Italiener:innen wurden nach dem Krieg nach Belgien geholt, um eine versiegende Industrie nochmal anzukurbeln, Menschenmaterial; es gab ein Abkommen zwischen Belgien und Italien, das den Wirtschaftsaufschwung beider Ländern garantieren sollte. Eine politische Staubwolke, kein Aufschwung, keine Perspektiven. Die Migrant:innen mussten unter katastrophalen Bedingungen ohne Sicherheitsstandards, zumindest keinen sinnvollen, arbeiten. Wir sehen diese Menschen und ihre Familien in diesem Film. Sie sind eigentlich Geister ihrer eigenen Existenzen, Schemen erträumter Leben, die sich alle zerschlagen haben.

Fare qualcosa per denaro, etwas wegen des Geldes machen. Die Festung Europa schon damals ein unwirtlicher Ort für den globalen und europäischen Süden. Meyer weiß nicht so recht. Ein Hohn ist das, darüber einen optimistischen Film drehen zu sollen, aber einen Film drehen, das will er schon. Er sieht, wie die Kinder sich zurechtfinden, wie sie gemobbt werden, wie sie kämpfen und spielen. Er schickt eine sehr vage Synopsis ans Ministerium, sie segnen das ab, er bekommt Geld und entscheidet sich, nicht das zu drehen, was von ihm verlangt wird, sondern das, was er dort sieht. Er macht einen Film über Entfremdung, Fremdheit, Verlorenheit, Einsamkeit. Aber er macht auch einen Film über das Leben, denn wenn man Kinder filmt, ist da immer oder trotzdem Leben. Nach den ersten Testvorführungen sind die Verantwortlichen des Ministeriums wütend. Sie sagen ihm, dass das nicht gehe, werfen ihm Vertragsbruch vor, vor allem (ein rechtlicher Trick) weil er einen Lang- und keinen Kurzfilm wie vereinbart gedreht habe. Ein Sekretär beschwert sich, dass Meyer keine Blumen auf die Fenstersimse der italienischen Familien gestellt hat, um es weniger karg aussehen zu lassen. Das erinnert mich an den Vorwurf, den wir bei der Retrospektive zu Peter Nestler hier wiedergegeben haben, dem vorgehalten wurde, seinen Film Mülheim/Ruhr in schwarz und weiß gedreht zu haben, denn so sehe es doch dort gar nicht aus. Das sagt eigentlich alles. Meyer muss seinen Vorschuss zurückzahlen, der Film kommt für eine lächerliche Woche in ein paar Kinos, verschwindet dann für lange Zeit, auch wenn sich langsam ein Mythos um ihn bildet, weil beispielsweise die Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne immer wieder über ihn gesprochen haben.

Die Borinage bleibt ohnehin ein mythischer Ort, wir haben das gestern schon gehört … schon mit Van Goghs Aufenthalt dort hat das begonnen. Die mythischen Orte der nationalen Kinematografien, das finde ich ein spannendes Thema, das sagt viel aus über eine Kultur … das verwunschene, ländliche Alentejo in Portugal, Paris in Frankreich, die Autobahnzubringer vor Bukarest in Rumänien, die geheimnisvollen Wälder in Tschechien und so weiter. Vor ein paar Jahren wurde Meyers Film dann von der Cinematek in Brüssel digital restauriert. Ein Herzensprojekt des damaligen Leiters, der wie so viele in Belgien, selbst aus einer italienischen Familie stammt und in seinem Text zum Film schrieb, dass er in den Kindergesichtern des Films sich selbst wieder erkannte, sich seiner bewusst wurde. Der Film ist also auch eine Erinnerung für Belgien an die eigene Geschichte. Bis heute leben circa 250.000 Italiener:innen in Belgien, mehr als in den USA und gemessen an der Größe des Landes mehr als irgendwo sonst außer der Schweiz. In Deutschland sind es knapp 650.000. Auch darüber gibt es Filme, die kaum gezeigt werden. Zum Beispiel: Il valore della donna è il suo silenzio von Gertrud Pinkus.

Jetzt kann man ihn sehen diesen Film, Déjà s’envole la fleur maigre, benannt nach einem Gedicht des italienischen Nobelpreisträgers Salvatore Quasimodo, einem Sizilianer und damit einem der wenigen großen Literaten Italiens aus dem Süden. Wir können ihn sehen. Achten sie auf die an Paul Strand oder Walker Evans erinnernde Kameraarbeit von Freddy Rents, auch einem Verhinderten der Filmgeschichte, der danach fast nur noch im Fernsehen arbeiten durfte. Achten Sie darauf, wie er die Barracken filmt, die Geographie dieses Ortes. Achten sie darauf, wie der Film den Morgen zeigt und den Abend, was es bedeutet, wenn es dunkel wird und was es bedeutet, wenn es hell wird. Was es bedeutet, wenn Zeit vergeht, wenn man nicht zuhause ist, kein Zuhause hat.

Ein jeder steht allein auf dem Herzen der Erde
getroffen von einem Sonnenstrahl:
und gleich ist es Abend.

wie Quasimodo in einem Gedicht schreibt. Ich habe selbst italienische Vorfahren und ich kann Ihnen sagen, dass dieses Gefühl der Fremde, dass ich auch in ihnen gesehen habe, nie woanders so gut gefilmt wurde. Wenn man merkt, dass man nicht atmen kann, obwohl man Luft bekommt. Es ist schwer, das zu zeigen, weil wir Menschen tatsächlich leider unter sehr schlimmen Bedingungen leben können, das Unaushaltbare aushalten können. In dieser Stadt, schreibt Quasimodo in einem anderen Gedicht, ist auch die Maschine, die die Menschen zerreibt. Als Kind wurde mir noch Marina von Rocco Granata vorgesungen. Von meiner nonna, die eigentlich meine bisnonna war. Alle haben immer nonna gesagt, weil sie die einzige in der Familie aus Italien war, die noch gelebt hat. Ich kann mich nicht an sie erinnern, kenne sie von Fotos und alten Videos, sie sieht aus wie die Menschen in diesem Film. Die Eltern von Rocco Granata, der wirklich so heißt, sind nach dem Krieg nach Genk ausgewandert, um dort im Kohlebergbau zu arbeiten. Er war später Automechaniker. Marina war vierzig Wochen auf Platz 1 in den deutschen Charts. Später haben seine Produzenten versucht, den Erfolg zu kopieren…Manuela, Irena, Signorina Bella, es hat nicht geholfen. Er lebt bis heute in Antwerpen. Marina kann man im Film kurz hören.

Es gibt ein Buch, das in Deutschland leider wenig Beachtung gefunden hat, anderswo dafür umso mehr: Southern Thought and Other Essays on the Mediterranean von Franco Cassano. Darin öffnet sich der Autor der Idee eines Denkens, einer Weltsicht des Südens, die der des industriellen Nordens entgegensteht. Wir kennen das alle, wenn wir sagen, dass die Italiener:innen zu leben verstehen und so weiter. La dolce vita und solche touristischen Ideen, deren eigentliche Bedeutung längst verschüttet wurde. Das ist aber, wie Sie wissen, nicht die Lebensweise, die sich durchgesetzt hat, auch nicht in Italien und schon gar nicht für Italiener:innen, die migrieren. Darum geht es in diesem Buch und das spürt man auch in diesem Film. Achten Sie auf den Bildhintergrund im Film: Was macht ein Horizont mit uns, was macht es, wenn sich da Halden und Schwärze auftürmen statt das Meer und Wälder? Und denken Sie immer daran, dass diese Menschen das wirklich erlebt haben; das ist so ein Film, in dem die Fiktion dafür da ist, dass es überhaupt möglich ist, etwas zu erzählen; würde man da dokumentarisch rangehen, wäre das ein Fehler, das wäre unmöglich. Die Fiktion in diesem Film, so steht es schon im Vorspann, bringt näher an die Wahrheit, sie ist auch die Zusammenkunft, die Freundschaft von Filmemacher:innen und Darsteller:innen.

Ich denke, dass weder eine soziale Situation noch eine sichtbare Empathie für die Unterdrückten und Ignorierten ausreicht, um Kunst politisch zu machen. Vielmehr müsste man die Symptome mit den Ursachen abgleichen, Räume zur Handlung aufzeigen, eine Analyse betreiben. Das macht dieser Film nur sehr wenig. Man könnte dem Film aufgrund seiner Bilder auch Ästhetizismus vorwerfen, aber das wäre ein komischer Vorwurf, hat er doch alles dort so gefilmt, wie es ist, das heißt keine Sets gebaut, nicht in die vorgefundene Wirklichkeit eingegriffen, um sie (Stichwort: Blumen auf dem Fenstersims) schöner zu machen. Was aber ist dann die politische Kraft dieses Films? Ich versuche es mit Jacques Rancière, der folgendes über Pedro Costa geschrieben hat, einen legitimen Nachfolger Meyers: Das Kino kann nicht mehr Liebesbriefen an die Armen entsprechen oder deren Musik. Es kann nicht mehr die Kunst sein, die den Armen den sinnlichen Reichtum ihrer Welt vermittelt. Das Kino muss sich abspalten, es muss eine Oberfläche sein, auf der die Menschen und deren Erfahrungen in einen neuen Möglichkeitsraum überführt werden, in dem sie, das formuliere ich jetzt etwas um, ihr eigenes Leben in von ihnen dargestellten Figuren wahrnehmen und folglich ein Potenzial für die Änderung der Verhältnisse erkennen können..

Sind die Worte des Protagonisten, die ich am Anfang vorgelesen habe, seine Worte? Hat sie ihm jemand in den Mund geschrieben? Was sind diese Worte? Sie sind das, was die Bilder sind: Eine Übersetzung in die Sprachen, die etwas sichtbar, etwas greifbar machen. Ein bisschen also das, was auch die Bilder van Goghs leisten können, direkter kunsthistorischer Anknüpfungspunkt in dieser Kulturlandschaft. Menschen, die Kartoffeln essen, Arbeiterporträts, die gleichermaßen den Blick auf Arbeit ändern, herausfordern, weil sie den Menschen, der die Arbeit verrichtet anders ansehen. Ein anderes Sehen, eine andere Kunst, das ist politisch für Rancière. Auf dieser Oberfläche muss es Widersprüche geben zwischen Porträt und Gemälde, Chronik und Tragödie, Gegenseitigkeit und Zerrissenheit. Ich denke, die Größe Paul Meyers besteht darin, dass er zugleich ein Kino des Möglichen und Unmöglichen macht, dass das, was sie sehen, das Ende und der Anfang ist.